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Beilage zn Nr. 114 des Anzeigers für WH und Umgegend. Sonnabend, den 25. Angust 1880. Der Geliebte -er To-ten. Roman. Frei nach dem Französischen von Julius Detmoll. (Fortsetzung.) Die Beweise gewannen Gestalt, aber es fehlte die Seele. Ge lang es jedoch, des Schuldigen habhaft zu werden, so waren die Jndicien zu belastend, als daß er Ausflüchte fiudeu konnte. Herr Jourdan fuhr in seiner Erzählung fort: — Und wie entdeckte mau den Elenden? Der Znfall führte dazu, dieser Halbgott der Heiden, an den alle Religionen glauben. Je nachdem der Zufall uns begünstigt oder schädigt, klagen wir unsern guten oder bösen Engel an, und nennen ihn in dem einen Falle Vorsehung, in dem andern Verhängniß. General Brea war ermordet worden, und die Mörder hatten ihre Schandthat mit dem Tode gebüßt. Wer Blut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden. Ein Piket des 74. Linienregi ments war dazu auf den Montparnasse-Kirchhof beordert worden, und die Soldaten unterhielten sich dort von der sonderbaren Wunde ihres Feldwebels. Diese Unterhaltung hatte ein Todtengräber gehört und berichtete sie seinem Oberwächter, und dieser ließ die Entdeckung an das Gericht gelangen. Der Schleier war gehoben. Der Unteroffizier Bertrand, der sich damals im Lazareth befand, wurde der Verbrechen angeklagt, die ich so ausführlich wie möglich wiedergegeben habe. Ohne Rückhalt und ohne Cynismus gestand er ein, die ihm zur Last gelegten Verbrechen begangen zu haben. In Folge dieser aufrichtigen Geständnisse rind Enthüllungen wurde er vor ein Kriegsgericht gestellt. Am IO. Juli 1849 fand die Verhandlung unter ungeheurem Andrang sogar von Fremden und . . . Damen statt. Auch ich hatte nicht verfehlt, mich einzufinden. Auf dem Gerichtstisch lagen die Beweisstücke, die Kleider, welche der Angeklagte in dein Augenblick angehabt hatte, als die Höllen maschine ihn traf, und man konnte deutlich die Löcher sehen, welche die Geschosse hineingerisseu hatten. Zwanzig Kugeln hatten den Unglücklichen erreicht und waren ins Fleisch eingedrungen! Endlich erschien der Gerichtshof, und der Angeklagte wurde hereinaeführt. Man hatte einen physisch herabgekommenen, abstoßenden Men schen mit verzerrten Zügen erwartet. Statt dessen trat ein junger Mann mit freundlichen, einnehmenden Zügen in den Saal. Sein Ange verrieth Geist, und die krankhafte Blässe seines Antlitzes ver ursachte ein sympathisches Murmeln in der Versammlung. Er war fünfundzwanzig Jahre alt lind sprach mit der größten Ruhe und Kaltblütigkeit. Auf die gewöhnlichen Fragen erklärte er, aus Voisy im Departement Haute-Marne gebürtig zu sein. Nachdem diese Vorfragen beendet, kreuzte er die Hände über die Knieen und verharrte unbeweglich in dieser Stellung so lange die Verlesung der Anklage dauerte. Aller Augen hingen gespannt an ihm. Anfangs schien ihm diese Aufmerksamkeit unangenehm und störend zu sein. Wie viele andere suchte auch ich auf seinem offenen und freien Gesicht den Eindruck zu lesen, den diese Erinnerung an seine Schandthat auf ihn hervor brachten. Je mehr Herr Jourdan die Fäden dieses großen Dramas, ent faltete, um so unruhiger und beklommener fühlte sich Abbe Morlet. Kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Mit Entsetzen dachte er daran, daß die Pariser Polizei den Schuldigen nicht hatte auffinden können, daß ein Zufall zu seiner ' Entdeckung geführt, und erst nach Verlauf von zwei Jahren! Zwei Jahre! Würde auch er so lange warten müssen? Hatte er seine Kräfte nicht überschätzt, als er sich entschloß, den Schuldigen ausfindig zu machen? . . . All diese verwirrenden Gedanken durchkreuzten sein Hirn und ließen ihn erbeben. Herr Jourdan fuhr fort: Sehr interessant ist die Geschichte seines ersten Attentats. Ich will Dir nachher den stenographischen Bericht zu lesen geben. Der Abend wurde kalt, und der Pfarrer bat, heimzukehren. Er wollte seine Aufregung endigen, sofort den Inhalt der Papiere, die Jourdan ihm zuzustellen hatte, kennen lernen, und doch danach seinen Plan fassen, vielleicht die Sache doch noch den Gerichten über geben. Die Papiere waren Zeitungen vom Jahre 1819. — Hier ist ein Auszug aus dem Protocoll, sagte Jourdan zu ihm. Lies! Der Abbe las folgende Stelle: Präsident: Wo wurde Ihr erstes Attentat begangen? Angeklagter: In Biere, einem Dorf in der Tonrraine. Präsident: Theilen Sie »ns mit, was Sie zu diesem ungeheuer lichen Verbrechen getrieben hat? Angeklagter: Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht erklären. Ich ging mit einein Freunde spazieren. Aus Neugierde betraten wir einen Kirchhof. Neben einem nicht vollständig zugeschütteten Grabe lagen Handwerkszeuge; eine Art Taumel befiel mich; ich kehrte in die Stadt zurück, machte mich von meinem Freunde los und eilte zum Kirchhof zurück, wo ich den Leichnam einer Frau ausgrub und wild auf ihn einschlug. Präsident: Zu welchem Zweck? Angeklagter: Das kann ich nicht erklären. Was empfanden Sie dann? Angeklagter: Eine Art Raserei. In der Nähe befanden sich eine Menge Arbeiter; aber dieser Gedanke hielt mich nicht zurück. Erst als mich Jemand am Gitterthor still halten und mich aufmerk sam betrachten sah, versteckte ich mich auf dem Boden neben dem Leichnam. In dieser Stellung verharrte ich eine halbe Stunde, dann erhob ich mich zitternd, bedeckte den Leichnam mit Erde und entfloh. Präsident: Wo eilten Sie hin? Angeklagter: Ich betrat ein kleines Gehölz, wo ich trotz des Regens mehr als drei Stunden unter den Gesträuchen in vollkom mener Geistes-Erstarrung verborgen blieb, ohne indessen das Bewußt sein Dessen zn verlieren, was um mich vorging. Präsident: Können Sie sich keine Rechenschaft davon geben, was Sie zu dieser Entweihung getrieben hat? Angeklagter: Das scheint mir unmöglich. Präsident: Kein Gefühl, kein Gedanke des Hasses belebte Sie? Angeklagter: Nein, Herr Präsident, ich hatte diese Frau niemals gesehen. — Ist das Alles? sagte Abbe Morlet, indem er das Schriftstück Herrn Jourdan zurückgab. — O nein! Du kennst die Verbrechen . . . willst Du auch über den Leichenschänder Näheres hören? — Ja, gewiß... — Ich habe Dir schon gesagt, daß er ein hübscher, kräftiger Bursche war. Ich füge hinzu, daß er auch ein guter Soldat und ausgezeichneter Kamerad war. Er hatte eine eigenthümliche Manie, und hier findest Dn vollkommene Aufklärung über seinen Geisteszu stand und seine Präcedentie». Dieses Bekenntniß verlas der Arzt, der Bertrand behandelt hatte, beim Verhör. Es rührt vollständig von der eigenen Hand des Schnldigen her. Der Abbe Morlet nahm das zweite Schriftstück, das Herr Jourdan ihm reichte, und auch dieses wollen wir unsern Lesern mit» theilen: — Schon in meinem siebenten oder achtel: Lebensjahre nahm man an mir eine Art Wahnsinn wahr, aber er trieb mich noch nicht zn Excessen. Ich begnügte mich damit, die düstersten Waldftellen auszusuchen und dort bisweilen Tage lang in tiefster, bitterster Trau rigkeit zu verweilen. Erst am 23. oder 24. Februar bemächtigte sich meiner eine Art Raserei, die mich zu den Verbrechen trieb, wegen welcher ich Mich in Gefangenschaft befinde. Das ging fo zu: Auf einem Spaziergange betrat ich in Begleitung eines Freunder einen Kirchhof. Neugierde hatte »ns hingeführt. Am Tage vorher war eine Frau beerdigt morden, aber ihr Grab war noch nicht voll ständig zugeschüttet, da die Todtengräber vom Regen überrascht wor den waren. Ihre Werkzeuge hatten sie zurückgelassen. Bei diesem Anblick stiegen schwarze Gedanken in meiner Seele auf. Ein heftiger Schmerz wühlte in meinem Kopfe, mein Herz schlug heftig. Ich war meiner selbst nicht mehr mächtig. Unter irgend einem Vorwande beschleunigte ich unsere Rückkehr nach der Stadt. Aber kaum hatte ich mich von meinem Freunde losgemocht, so eilte ich nach dem Kirch hof zurück, ergriff eine Schaufel und wühlte das Grab auf. Schon hatte ich den Leichnam herausgeriffen und schlug auf ihn ein, als ein Arbeiter, der in der Nähe sich befand, am Thore erschien. Ich warf mich neben der Todten nieder und blieb einige Augenblicke ruhig. Als ich mich aufrichtete, sah ich Niemand. Der Mann hatte sich entfernt, um die Polizei zu benachrichtigen. Ich stieg eilig aus dem Grabe, bedeckte den Leichnam mit Erde und entsprang über die Kirchhofmauer. Ich bebte am ganzen Körper. Kalter Schweiß bedeckte meine Stirn.