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„Bewahre! Ich meine Waldow." Fräulein Suschen starrte ihren Neffen überrascht an, der sich soeben mit dem kleinen Schooßhunde beschäftigte und so entging Beiden Virginiens tödtliches Erschrecken. Sie öffnete die Lippen zu einem Schrei, aber die Stimme versagte ihr den Dienst. Mit ge schloffenen Augen lehnte sie sich in den Sessel zurück und vermockte uur mühsam und mit dem ganzen Aufgebot ihrer Willenskraft ihre Selbstbeherrschung wieder zu erlangen; ein leichtes nervöses Zittern konnte sie aber nicht ganz überwinden. Ein einziger, schwacher Hoffnungsstrahl hatte die Nacht irr ihrem Herzen erhellt, an ihn hatte sie sich, wie der Ertrinkende an einen Strohhalm, geklammert, wenn Verzweiflung sie erfassen wollte. Es war der Gedanke, daß es nur ein Mißverständniß gewesen sei, welches sie von Waldow getrennt hatte, daß dieses sich bald auf klären und eine erneute Annäherung des Heißgeliebten nicht un möglich sein würde. Dieser Hoffnungsstrahl erlosch; es ward finstere Nacht in ihr. — Spurlos gingen an ihren Ohren die weiteren Mittheilungen Sterneck's über die Flucht eines Bankdirektors, sowie die neuesten Hofnachrichten, vorüber. Erst als sich Fräulein Rodenberg direkt an sie wandte, um ihre Besorgniß wegen ihrer ungewöhnlichen Blässe auszudrücken, lös'te sich des jungen Mädchens Erstarrung. Sterneck betrachtete Virginie, welche ihm fast unbewußt von Tag zu Tag sympathischer ward, mit tiefer Theilnahme. „Sie leben zu sehr zurückgezogen, Fräulein Norden. Daher ist es mir lieb, daß mein heutiger Besuch den Zweck hat, Sie und meine Tante zu bitten, in meiner Begleitung die Kunstausstellung zu besuchen, die wirklich manche Perle enthält, leider aber nur auf kurze Zeit geöffnet ist. Der Anblick dieser herrlichen Kunstmalereien wird zerstreuend und der Genuß der frischen Luft wohlthätig auf Sie einwirken. Wenn die Damen damit einverstanden sind, so nehmen wir den Uniweg durch den Park." Virginie, welche nichts sehnlicher wünschte, als allein zu sein, schützte Kopfschmerzen vor, ward aber sowohl von den Beiden, als auch von dem soeben in das Zimmer tretenden Notar überstimmt. Fräulein Rodenberg schob energisch die geleerte Kaffetasse zurück und erhob sich, um im Nebenzimmer Hüte und Tücher hervorzuholen. Ehe Virginie sich dessen versah, war sie unter der schnellen Beihillfe der alten Danie zum Ausgehen gerüstet und trat mit einem leisen Seufzer den Weg an. Wegen der bereits vorgerückten Stunde war die Ausstellung nur schwach besucht. Virginie überflog mechanisch die Kunstwerke; es schien ihr, als breite sich ein dichter Nebel über Alles aus. Ihre Augen blickten starr in das Leere. Schließlich lehnte sie sich ermüdet an eine Fensterbrüstung, während Sterneck zu seinem Bedauern seine unermüdliche Tante von Bild zu Bild führen mußte und den Führer abzugeben gezwungen war. Ganz in sich versunken, zuckte jetzt plötzlich Virginie vor dem Laut einer, ach, ihr nur zu wohl bekannten Stimme jäh zusammen. Dicht hinter ihr stand Waldow, welcher einem Herrn eine kurze Auskunft gab. Hätte Visginie nur die geringste Ahnung gehabt, Waldow hier zu treffen, so würde sie um keinen Preis diese Räume betreten haben, seit sie aber von seiner bevorstehenden Verlobung gehört, hatte sie die irrige Vorstellung gefaßt, daß er nunmehr ununterbrochen zu den Füßen seiner verführerisch schönen Auserwählten liegen und überhaupt jede freie Stunde im Hellmann'schen Hause zubringen müsse. Und nun stand er, den sie von allen Menschen am wenigsten zu begegnen wünschte, unerwartet neben ihr. Sie war überzeugt, daß er sie bereits gesehen haben mußte. Jnr ersten Moment der Ueberraschung wollte sie schnell ihren Platz, und, ohne daß es allzu sehr auffällig würde, das Ausstellungslokal verlassen, doch empörte sich ihr schnell erwachter Stolz dagegen. Webhalb vor ihm fliehen? Sie drückte beschwichtigend die Hand auf das heftig klopfende Herz und ricktete sich stolz empor. Zwar durchlief ein Zittern ihren Körper, als sie fühlte, daß er ihr näher trat, doch auch dies bezwang sie, so daß sie mit völliger Ruhe Waldow's Gruß zu erwidern ver mochte. Voll und grob blickte sie zu dem, wie sie glaubte, in seinem Glück strahlenden Bräutigam empor. Aber wie täuschten sie ihre Augen? Sah dieser Mann mit den bleichen, ernsten Zügen, mit den matt und müde blickenden Augen und der sorgenvollen Stirn wie ein Glücklicher aus? Unverkennbar drückte ihn ein tiefes, schmerzliches Leid; — aber welches? Er ge noß als tüchtiger Künstler überall Auszeichnungen, seine Gesundheit sowohl als seine äußeren Verhältnisse waren vortrefflich und nun hatte auch sein Herz durch den Besiv einer schönen Frau Befriedigung gefunden, — und doch solch' sichtlicher Kummer? Das Alles durchzuckte Virginie blitzartig. Plötzlich aber durch schauerte sie ein berauschender, sinnebethörender Gedanke, der ihre Blässe in flammendes Roth verwandelte. Sollte doch vielleicht ihr thörichtes Herz nicht Unrecht haben mit seinfr leisen Sirenenstimme, daß sie ihm nicht gleichgültig sei und daß ihn uur ein unseliges Mißver- ständniß von ihr fern halte und ihn in Blanka's Arme treibe? Wie ein Schleier legte eS sich über ihre Augen; sie fühlte den Boden unter sich wanken. „Mein Gott, was ist Ihnen, Fräulein Norden?" hört« sie wie im Traum Waldow's Stimme fragen, während seine heißes fieber zuckende Rechte ihre kleine, bebende Hand umschloß. Wie ein electrischer Strahl durchzuckte sie diese Berührung, — für diesen Augenblick existirte nicht Raum, nicht Zeit für sie; iht Gedächtniß war ausgelöscht in dem einzigen, seligen Gedanken: „Seine Augen, der Ton seiner Stimme, sie lügen nicht, — er liebt Dich!" „Waldow!" hauchte sie fast unbewußt und der ganze Jubel ihres zu neuem Leben erwachten Herzens klang aus diesem einen Wort heraus. Der Klang ihrer Stimme lös'te ihre Gemüthsspannung. (Fortsetzung folgt.) Vermischtes. * Berlin. Einer Anklage wegen Amtsvergehens, welche die 2. Strafkammer des Berliner Landgerichts I kürzlich gegen den Post- hülfsboten G. zu verhandeln hatte, lag ein so kleinlicher Thatbestand zu Grunde, daß man sich unwillkürlich fragen mußte, wie es möglich ist, daß ein sonst unbescholtener Mann um einer solchen Bagatelle willen Amt, Ehre und Freiheit aufs Spiel setzt. Der Angeklagte, welcher als Httlfsbote in einer hiesigen Postanstalt beschäftigt war, hatte die Absicht, seiner alten Mutter eine Geldunterstützung zukom men zu lassen, und da ihm schließlich die 20 Pf. zur Frankatur des Briefes fehlten, löste er eine Marke von einem anderen Briefe ab und klebte sie auf seinen Geldbrief auf. Die Manipulation war aber bemerkt worden, und die Strafkammer verurtheilte den Angeklagten zu der gesetzlich niedrigsten Strafe von 3 Monaten Gefängniß. * Als ein Beleg dafür, daß die allseitigen Klagen über die enorme Höhe der Gerichtskosten in dem neuen Verfahren wohl be gründet seien, wird in Berliner Blättern Folgendes berichtet. Ein Maler forderte für eine Ausbesserung 9 M. Der Auftraggeber bietet 6 M. Da der Maler dieses Gebot als unannehmbar zurückweist so kommt es zum Proceß. Die Parteien vergleichen sich aber in der Weise, daß der Kläger seine Forderung um 1 M. 50 Pf. ermäßigt, so daß es sich uni 3 M., resp. 1 M. 50 Pf. handelt. Die Forder ung von 9 M. mußte aber bei Berechnung der Kosten als Object zu Grunde gelegt werden. Die Kostenrechnung beträgt nun in Summa 21 M. 50 Pf. und enthält folgende Ansätze: Schreibegebühr für 3 Ladungen 70 Pf., Zustellung und Postgebühr 2 M. 30 Pf., Schreibe gebühr für 3 Ladungen I M., Zustellung und Postgebühr 2 M. 30 Pf., Pauschquantum für den Vergleich 60 Pf., Schreibegebühr für 2 Abschriften 50 Pf., Porto 20 Pf., Sachverständigen-Gebühr 14 M.! * Seit etwa 20 Jahren war vr. Neuda in Wien der Ver- theidiger in den berühmtesten und schwierigsten Criminal-Processen vor den Schwurgerichten. Er ist ein geistvoller, scharfsichtiger und beredter Mann, der sein Metier von Grund aus versteht. In einem öffentlichen Vortrag neulich hat er über eine Frage gesprochen, die das Publikum schon viel beschäftigt hat. Diese Frage lautete, ob der Vertheidiger seine Pflicht erfülle, wenn er bewußt Schuldige vertrete, vr. Neuda sagte: „Der Schuldlose bedarf ohne Zweifel eines Ver- theidigers, der Schuldige aber noch viel mehr. In jedem Menschen, und sei er auf die tiefste Stufe gesunken, findet sich eine Seite, die menschlich anklingt. Wie hat sich der Vertheidiger bei seiner Ver- theidigung zn verhalten? Gewinnt der Vertheidiger die sichere Ueber- zeugung, daß er für einen Unschuldigen eintritt, dann wird er seine Aufgabe mit unerschütterlicher Energie und feuriger Wärme vertreten können, beschleichen jedoch nach eingegangener Prüfung Zweifel seine Brust, dann kann, dann darf er keine Gewißheit erlangey wollen. Die Illusion (Selbsttäuschung) bleibt in solchen Fällen der alleinige Hort des Vertheidigers. Wer bewußt und mit voller Erkenntniß einen Schuldigen vertreten und gleichwohl dessen Schuldlosigkeit be- theuern wollte, handelt unmoralisch und verderblich. Wer gar mit dem Schuldigen in ein Einverstündniß eingeht, das Geständniß seiner Schuld entgegennimmt und ihn durch eine ihm eingegebene listige Verantwortung der Gerechtigkeit zu entziehen sucht, der macht ge meine Sache mit dem Verbrecher und sinkt selbst zur Canaille herab. „Dies," sagt Dr. Neuda, „fühlt der Angeklagte so instinctiv heraus, daß mir in meiner ganzen Laufbahn kein einziger Fall vorgekommen ist, in dem ein Leugnender nicht gerade mir gegenüber seine Unschuld aufs Höchste betheuert hatte, selbst da, wo ich nachträglich, nach seiner Verurtheilung durch Andeutungen von ilnn an seine Schuld glauben konnte." * Eine schreckliche Schandthat ist in Russisch-Polen, wie die „Gaz. Pol." meldet, vor Kurzem im Dorfe Grudek, Kreis Pultnsk, verübt morden. Der dortige Bauer TrzcinSki gab in seinem Hause einem Bettler aus Barmherzigkeit Nachtquartier. In der Nacht er mordete der Bettler den Bauern, dessen Frau und ihren 7jährigen Sohn. Der Mörder nahm die aus 12 Rubeln bestehende Baarschaft des ermordeten Bauern an sich und wollte die Spuren seines Ver brechens durch Brandstiftung verwischen, was ihm indeß nicht gelang, da das feuchte Stroh nicht brennen wollte. In dem noch nicht ding fest gemachten Mörder vermuthet man einen vor mehreren Wochen aus dem Pnltusker Gefängniß entsprungenen Sträfling.