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heutigen Sitzung den Gesetzentwurf, die Entscheidung von Kompetenz« streitiglciten zwischen den Gerichten und den Verwaltungsbehörden be treffend, in einer zwischen den Gesetzgebungsdeputation beider Kammern und der Staatsregierung vereinbarten Fassung und trat sodann ein in die Schlußberathung des königl. Dekrets, eine Mitthcilung über den Bau des neuen HoftheaterS betreffend, auf Grund der mündlichen Berichte der vom Präsidenten ernannten Referenten Or. Stephani, nach welchem die Staatsregierung ersucht werden sollte, das Dekret für jetzt zurückzuziehen und der nächsten Ständeversammlung anderweit zur Erklärung vorzulegen, mit 37 gegen 26 Stimmen, der Antrag des Korreferenten Günther, welcher bei den Vorabstimmnngen folgende Fassung erhalten hatte: Die Kammer wolle über die bedeutenden Ueberschreitungen des für den Theaterbau ursprünglich in Aussicht ge nommenen Aufwands ihr Bedauern ausdrücken, nach Lage der Sache aber die in der ständischen Schrift vom 30. Juni 1876 gestellten An träge durch das königliche Dekret für erledigt erklären, mit 33 gegen 29 Stimmen abgelehnt. Zum Schlüsse wurden noch einige Petitionen erledigt. Leipzig, 10. Juli. Aus Chemnitz wird dem „L. T." geschrieben: Es scheinen in letzter Zeit der Firma Haase L Sohn große Depositen entzogen worden zu sein (noch am letztvergangenen Sonnabend soll ein einziges Hans 80,000 M. zurückgezogen haben), die in der Haupt sache auf Todesfall zurückzuführen sind. Der Schlag kommt völlig unerwartet für die Menge und viele kleine Leute werken ihre Erspar nisse verlieren, denn das insolvente Haus genoß namentlich in diesen Kreisen unbegrenztes Vertrauen. In Mitleidenschaft ist die ganze Stadt und Umgegend gezogen; die Zahl der Depositaire ist riesenhaft — 6200 Posten — (andererseits hören wir von 7000 Conten) und die Aufregung fürchterlich. Betheiligt sind ferner in höherem Maße englische Häuser. Die Passiven sollen zu den Aktiven ---- 6Ve zu 4 Millionen stehen. Chemnitz. Rach einer Mitlheilnng der „Chcm. Ztg." ist am Haase'schen Hause folgender Anschlag angebracht worden:„Oie Domicil- Easse der Firma Haase n. Sohn bleibt geöffnet." Zwickau, 11. Juli. Auch bei dem hiesigen königl. Bezirksgericht fanden in den letzten Tagen Verhandlungen wegen Majestälsbeleidig« ungen statt, die bei Gelegenheit des Attentates auf Se. Moj. den deutschen Kaiser ausgestoßen worden waren. In der Schcffensitznng vom 8. dss. Mts. wurden u»ch vorausgegaugener geheimer Verhand lung drei dergleichen Fälle verhandelt und zwar wurde der Barbier Friedrich Hermann Voigt aus Grüuhain zu 1 Jahr 4 Monaten, der Schuhmacher Friedrich Ernst Träger aus HelmSkorf zu 2 Jahren und der Weber Gotthilf Friedrich Landrock aus Mylau zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängniß verurchcilt. Am 6. d. verunglückte eine Handelsfrau ans Stollberg in der Nähe von Neukirchen dadurch, daß sie von einem Wagen, weil daö vorgespannte Pferd scheu wurde, herabsprang. Sie blieb mit den Kleidern hängen, wurde überfahren und zog sich schwere Verletz ungen zu. In der Wermsdorfer StaatSwaldung hat sich am 5. d. Nach mittags der Förster Ruderisch in Naundorf erhängt. Am Montag mußte ein Postbeamter in Pulönitz, Namens H., welcher vor einiger Zeit von Königsbrück nach dort versetzt wurde, wegen dienstlicher Vergehen plötzlich entlassen werden. Waldcuburiz (Schief.), 6. Juli. In der Nacht zum 4. d. ist die katholische Kirche in Friedland in überaus frecher Weise beraubt worden; die Schlösser sind gewaltsam erbrochen, der Tabernakel demolirt und daraus die Monstranz mit dem Melchisedek unv der großen konsckrirten Hostie, das Ciborinm mit Deckel und weißseilbenem Mäntelchen nebst den darin enthaltenen kousekrirten Hostien gestohlen, der Gotteökasten erbrochen, ein Seiten Altar stark beschädigt und der verzierte Name Jesu zertrümmert. Neber den, bez. die Thätcr hat man bis jetzt noch nichts ermitteln können. Teplitz. Der hiesige Kreiörabbiner Dr. Pick ist am 6. Juli beim Gottesdienste in der Synagoge, während er das Gebel für das Kaiserhaus Vor offener Bundeslade sprach, vom Herzschläge gerührt, sogleich lodt zu Boden gestürzt. Prozeß gegen Hödel. Berlin, 10. Juli. Heute Vormittag kurz vor 10 Uhr trat der Staatsgs- richtshof, bestehend aus den Herren: Vizepräsident deS Kammergerichts v. Mühler als Präsident, aus den Kammergcrichtsräthen v. Seydewitz (Referent), Sello, Rathmann, v. Wulfsen, Gräfe, Schaper, Ernst, Sommer und v. Windtheim zu sammen. Die Anklage vertritt der Ober-Staatsanwalt v. Luck. Nachdem der Gerichtshof Platz genommen, wird der Angeklagte eingefllhrt. Mit frecher Miene blickt er im Saale umher. Zur Linken des Angeklagten hat der Offizial-Ver- thcidiger des Angeklagten, Justizrnth Wilke, Platz genommen. Der Wahlver- theidigcr, Advokat Freytag aus Leipzig, hatte die Vertheidigung abgelehnt. Zunächst wird die Anklageschrift verlesen, welche den Thatbestand weitläufig er zählt, und die wir wegen ihres Umfangs nicht dein Wortlaute nach mittheilen können, welche aber mit den später zu erwähnenden Zeugensaussagen identisch ist. Hierauf erfolgte die Vernehmung des Angeklagten. Präsident: Es ist gegen Sie die Anklage "erhoben, daß Sie versucht haben, am 11. Mai d. I. Se. Majestät den Kaiser vorsätzlich zu tüdten, und daß Sie diesen Entschluß auch durch den Anfang der Ausführung dieser beabsichtigten aber nicht vollendeten That ausgeführt haben. Bekennen Sie sich demgemäß des Hoch verraths schuldig? Angeklagter: Nein. Präsident: Zwei Tage vor dem 11. Mai kauften Sie den Revolver. Zu welchem Zwecke? Angeklagter: Ich wollte mich erschießen. Präsident: Wie kommen Sie zu dem Entschlusse? Angeklagter: Durch die Verhältnisse. Präsident: Sie wollten ja nach Amerika, um Ihr Glück zu versuchen. Angeklagter: Mein Geld, die SOO Mark, war akkurat alle, ich hatte überhaupt keine Subsistenzmittel mehr. Präsident: Das konnten Sie doch an einem abgelegenen Orte thun. Angeklagter: Je nach Belieben, ich hatte gerade Lust, mich Unter den Linden zu erschießen, ich war besinnungslos. Präsident: Die Anklage behauptet, Sie hätten nicht auf sich, sonder» auf Se. Majestät den Kaiser schießen wollen. Angeklagter: Da kann ich nicht dafür, was falsche Zeugen sagen. Präsident: Sie hätten sich aber doch verwunden müssen und werden zu gestehen, daß Sie keine Verletzung hatten. Warum flohen Sie denn? Ange klagter: Ich kann keine Auskunft darüber geben. Präsident: Sie sollen ver schiedene Aeußerungen gemacht haben, die darauf hindeuten, daß Sie den Kaiser zu tödten beabsichtigten. Fünf Tage vor dem Attentate sollen Sie sich bei dem Schlossergesellen Binger erkundigt haben, ob Se. Majestät im offenen oder ver deckten Wagen fahre und welchen Weg er zu nehmen pflege. Angeklagter: Das ist mir nicht so erinnerlich. Präsident: An demselben Tage waren Sie bei dem Photographen Dietrich in der Kommandantenstraße und sagten, daß er mit Ihren Bildern ein großartiges Geschäft machen könnte, Sie seien noch kein berühmter Man», es werde aber wie ein elektrischer Funke» durch die Welt gehen, Sie seien dann moralisch todt. Angeklagter: Diese Aeußerungen habe ich nicht gethan. Präsident: Am Tage des Attentates waren Sie im Thiergarten und trafen dort den Drehorgelspieler Schütz und dessen Führer Koch, denen sagten Sie, daß Sie auf den Dickkopf lauerten, es werde bald etwas platzen. Angeklagter: Ich bin zu der Zeit nicht im Thiergarter gewesen. Präsident: In einem Briefe vom 21. Mai an ihre Eltern schreiben Sie: „Es thut mir leid, daß ich fehlgeschossen habe, doch Polen ist noch nicht verloren." Unterzeichnet ist der Brief: „Hödel, Atten täter Sr. Majestät des deutschen Kaisers." Angeklagter: Das war ironisch. Präsident: Vom Jahre 1876 ab haben Sie Ihre Beschäftigung als Klempner auf gegeben und sind Abonmmtensammlcr für sozialdemokratische Zeitungen geworden. Weshalb verließen Sie Ihr Handwerk? Angeklagter: Es machte mir kein Ver gnüge». Präsident: Sie haben bei den Christlich-Socialen auch Beitrag gezahlt. Wollten Sie dieser Partei angehörcn? Sie haben in Leipzig doch anderen "Ansichten gehuldigt? Angeklagter: Ich habe gar keinen Ansichten gehuldigt; es war Ge schäft. Präsident: Seit 1877 hielten Sie sich zu den Anarchisten, mit deren Ver treter, einem gewissen Werner, Sie viel verkehrten. Wissen Sie, was die Anar chisten sind und was sic wolle»? Angeklagter: Ich habe gar nicht uöthig, mich hierüber auszulassrn. Ich würde Sie ebensowenig zu meinen Ansichten bekehren, wie Sie mich zu den Ihrige». Präsident: Die Anarchisten wollten die Umwälz ung der Gesellschaft auf gewaltsamen Wege herbeiführen, ist Ihne» das bekannt? Angeklagter: Gewiß. Präsident: Sie haben am 24. Januar und am 17. März Versammlungen abgehalten. Auf der einem ist die orientalische Frage verhandelt, auf der anderen die Pariser Kommune verherrlicht worden. Haben Sie selbst dabei gesprochen? Angeklagter: Ich habe als Vorsitzender kurze Erläuterungen gegeben. Präsident: Am 17. März traten Sie mit mehreren Arbeitern in das Springersche Gastloknl, äußerten sich über die jetzige» Arbeiterverhültnisse und sagten: das bringt mich noch dahin, daß ich selbst zum alten Wilhelm gehe. Angeklagter: Das habe ich nicht gesagt, Präsident: In Trier sagten Sie in einem Lokale: Wir brauchen keinen Kaiser und keine Regierung. Fort mit Allem, wir wollen frei sein! Die Neichen müssen mit uns theilen. Alle müssen gleich mäßig arbeite», ein jeder höchstens zwei Stunde» täglich. Angeklagter: Das ist nicht meine Redeweise. Präsident: Sie werden Ihren eigenen Brief anerkennen, den Sie am 21. Mai an Ihre Eltern schrieben, wo Sie sagen, es fehle ein Tell, es muß tabnla ra«n g-macht werden. Sie lieben die Propaganda durch die That. — Zum Zwecke der Beweisaufnahme wird der Brief verlesen, welchen der Angeklagte im Gefängniß an seine Eltern in Leipzig geschrieben hat und welcher ihm abgenommen wurde. Staatsanwalt: Sie haben bei Ihrer ersten Vernehmung gesagt: Sie Hütten den Ausdruck „Anarchist" scherzweise gebraucht, bei Ihrer letzten Vernehmung, Sie wüßten nicht, was Anarchist bedeute. Wissen Sie es nicht, oder wollen Sie es nicht sagen? Angeklagter (lachend): Ich spreche nicht Ihne» zu Gefallen, sondern wie es mir konvenirt. Nach Beantwortung der Gencralzeugenfragen tritt eine kurze Pause ein. Nach der Pause beginnt die Zeugenvernehmung. Der erste Zeuge ist der Lcibkutscher Hecker, der am 11. Mai auf dem Kutscherbock des kaiserlichen Wagens gewesen; als letzter ungefähr bei der russischen Botschaft angekommen war, fiel ein Schuß, und einen Moment später sah er den Höeel auf dem Bürgersteige stehen mit einer Schußwaffe in der Hand. Er hatte sofort den Eindruck, daß auf den Kaiser geschossen worden, sprang sofort vom Bock, worauf der zweite Schuß fiel, den Hödel ungefähr auf der Mitte der Fahrstraße abgab. Es kam ihm vor, als wolle Hödel sich mit diesem Schüsse freie Bahn schaffen. Letzterer durchkroch dann das Gitter und lief, so schnell er konnte, nach dem Brandenburger Thore zu, wo er dann auf dem Promenadcnwege verhaftet wurde. Zeuge Landwirth Schilling hörte die beiden Schüsse, auch de» dritten, konnte aber nicht mehr sehen, wohin der dritte gerichtet war. Die ersten dagegen waren nach seiner Wahr nehmung auf den Kaiser gerichtet. Zeugin Frau Prediger Meltzer hörte den ersten Schuß fallen und sah, wie der Angeklagte den Revolver in der Hand hielt. Da rauf kam er über den Damm bis in die Mitte und schoß noch ein Mal. Zeugin kann mit Bestimmtheit sagen, daß die Schüsse auf den Kaiser gerichtet waren, nicht auf Hödel selbst. Zeuge Kaufmann Zeidler hat 4 Schüsse gehört, auf wen die ersten beiden gerichtet gewesen, weiß er nicht anzugeben, da er 20 bis 25 Schritte entfernt war. Er lief auf Hödel zu, der rechts aüswich und den vierten Schuß auf den Zeugen abfeucrte, worauf er den Revolver wcgwarf. Zeuge hat denselben ausgenommen, ihn auf der Polizei abgeliefert und hat dort der Ent ladung beigemohnt. Zeuge Fabrikant Dittmann aus Charlottenburg stand mit mehreren Änderen vor dem russischen BotschastShotel und hat gesehen, wie Hödel hinter einer Droschke auf Jemand zu lauern schien, bis er im Moment des Vor- beifahrens des kaiserlichen Wagens hervorsprang und in der Höhe des Kopfes Sr. Majestät einen Schuß abgab. Hödel lief dann über die Straße, gab hinter dem Wagen einen zweiten Schuß ab, der über den Wagen hinwegging und lief dann, unter der Barriere durchkriechend, schräg über die Linde». Zeuge lief ihm nach und gelang es ihm, mit Anderen zusammen den Hödel zu fassen. Zeuge Landwirth Schmeit hat, von seinem Bruder ausmcrksam gemacht, daß der Kaiser vorüberfahrc, gesehen, wie Hödel nach dem Wage» geschossen. Zeugin Frau Hauch sagt aus, sie habe Arni an Arm mit Hödel gestanden, so daß dieser beim Abfeuern des ersten Schusses ihr mit dem Ellenbogen in's Gesicht geschlagen. Das Plaidoyer des Staatsanwalts begann um 2'/» Uhr, war gegen 3 Uhr beendigt, worauf der Verthcidcger das Wort erhielt. Demnächst zog sich der Gerichtshof zurück. Nach einer Pause von einer halben Stunde kehrt der Gerichtshof in den Saal zurück, der Angeklagte wird vorgeführt. Mit verschränkten Armen und frecher Miene hört der ruchlose Bube sein Urtheil an. Der Präsident verkündigt, daß der Gerichtshof den Angeklagten für schuldig des Hochverraths erkannt, den selben zum Tod und Ehrenvcrluste verurtheilt habe; die benutzte Waffe sei einzu- zichcn und die Kosten des Verfahrens dem Angeklagten zur Last zu legen. Die Erwäguv gsgründe weisen darauf hin, wie durch die Aussagen der Zeugen völlig erwiesen sei, daß der Angeklagte de» ersten Schuß auf Se. Majestät den Kaiser gezielt habe. Bezüglich des zweiten Schusses gehen die Aussagen der Zeugen auseinander. Die Absicht des Angeklagten, eine Aufsehen erregende That zu