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1872 Di>r1>-»ri»tt I. d. DII4N. SlMand-I. Nichtamtlicher Teil so, k. Februar 1912. bisher gezeigt hat, ist dieser Akt der Notwehr unumgänglich. Die allgemeine Steigerung der Lebensmittelpreise wie der Lebensführung, die neuen bayerischen Steuergesetze, die wesentlich höheren Beiträge der Reichsverstcherung, die kommende Be lastung durch das Prioatbcamtenversicherungsgesetz — stellen uns ja an und für sich böse Fragezeichen vor den mageren Reingewinn. Kommt nun noch ein weiterer böser Brocken zu schlucken, so mögen wir doch erst untersuchen, ob er nicht ein »Unrecht mit Widerhaken« enthält. Über diese wie so manche ernste Frage aber läßt der Fasching sein Schellengeläute ertönen, und eine bunte Reihe von allerlei Vorträgen bringt mancherlei Anregungen und Belehrung. Während in den kleinen Städten die Sortimenter sich abmllhen, um werdende Geistesgrößen für Vorträge zu gewinnen und dadurch den Umsatz zu erhöhen, würde hier dem Buchhändler so vieles ohne besondere Mühe erblühen, wenn er nur etwas nachackern würde, wo ein reichbestellles Feld vorhanden ist. Folgende Vorträge wurden hier u. a. an- gezetgt: 14. Januar Otto von Nordenskjöld, »Zwei Jahre im Eise des Südpols«. 18. „ Psarrer Jaiho und I)r. E. Horneffer, »Die religiöse Krise der Gegenwart«. 15. „ Pros. F. W. Förster, »Die pädagogische Behandlung unserer Jugend im Entwicklungsaiter«. 2S. „ Richard Dehmel, »über musikalische und poetische Lyrik«. 28. „ Proiessor vr. Fridtjof Nansen, »Die Entdeckung Amerikas durch dis Norweger und die Sagas von Vinland«. 30. „ Hermann Bahr, »Die Lebensformen (Ästhetik der Großstadt)«. I. Februar Professor vr. Weiner Sombart, »Die Zukunst der Juden«. 4. „ Marccll Salzer, »Lustige Vorträge«. 8. „ Maximilian Harden, »Nach der Wahl«. Da diese Ausstellung nur eine kleine Auswahl des Besten bildet, so läßt sich leicht erkennen, wie reich München an solchen Bildungsmöglichkeiten ist. Und sie werden säst durchgängig sehr viel benutzt, und nicht immer nur deshalb, weil es zum guten Ton gehört, derartige Vorträge besucht zu haben. Man muß nur sehen, wie jung und alt sich hierzu drängt, mit welch lebhaftem Eiser das Thema versolgt wird und mit wie vielem Interesse am Schlüsse darüber diskutiert wird, um zu erkennen, weich heißer Bildungshunger die meisten in die Säle treibt. Wenn ich so meine Beobachtungen machte über das oft rührende Bestreben, soviel als möglich vom Zeitgeist zu erfassen, dann mußte ich mich meist wundern, daß der Verlag solch günstige Gelegenheit, seinem Autor einen weiteren Kreis zu schaffen, so ganz achtlos vorübergehen ließ. Hier, wo so viele durch das gleiche Interesse für den Vor tragenden zusammengefllhrt sind, wo eS also nicht nötig ist, das sonst so schwer zu Schaffende erst hervorzurusen; wo die Stimmung, die doch die stärkste Triebfeder für die meisten Buchankäufe bildet, bereits vorhanden ist, hier hätte der Ver lag den fruchtbarsten Boden für Reklame. Wie selten aber wird die Situation ausgenütztl Ich bin vollständig über zeugt davon, daß eine kleine Broschüre, mit dem Bildnis des Redners geschmückt, die eine kurze Lebensbeschreibung bringt, von jedem gern mitgenommen wird. Wenn dann nach dieser Biographie, die vielleicht, um die allgemeine Sucht nach Kleinem und Kleinlichem zu befriedigen, einige Anekdoten aus dem Leben des Autors enthalten könnte, seine sämtlichen Schriften aus geführt würden, so müßte das vielleicht latente Interesse ge weckt und vertieft werden. Allerdings dürfte diese Zu sammenstellung nicht etwa eine trockene Auszählung seiner Werke, mit den obligaten Besprechungen aus Zeitschriften, bringen; denn dies Publikum ist schon etwas kritisch ver anlagt und weiß, daß jeder Vater sein Kind lobt.^Eine kurze Inhaltsangabe aber, oder noch bester charakteristische Auszüge, aus denen der Autor wieder sich selbst vernehmen läßt, »das reizt und wirkt und läßt ihn nicht erschlaffen«. Ich glaube sicher, daß solch ein Heftchen in praktischem Format, etwa dem Welt-Format VII der »Brücke» (8:11,S), auf die Stühle gelegt, von allen gern mitgenommen wird und mehr wirkt und wirbt als viele Tausende von Zei- tungsprospekten; es schmiedet eben ein heißes Eisen. Die Konzert-Agenturen sind für solch vornehme Propa ganda, wie ich aus Erfahrung weiß, leicht zu gewinnen. Ünd ein strebsamer Sortimenter, der die Verteilung über nimmt, ist hier wie anderswo auch ohne Schwierigkeit zu finden. Der könnte dann auch gleich eine zweite Esse ausstellen, indem er beim Eingang auf einem Tisch leicht übersehbar die verschiedenen Werke des Vortragenden zum Verkauf auslegt. Man wende mir nicht ein, daß die wenigsten Zuhörer, die ja an und für sich schon 2, 3 und 5 ^ für den Eintritt bezahlt haben, noch viel Geld für Bücher ausgeben werden. Das ist ein kurzsichtiger Fehlschluß, denn das Interesse ist geweckt, und gerade jetzt, nach Schluß des Vortrags, am leb haftesten, läßt cs gar manche Broschüre, gar manches Buch noch mitnehmen. Selbst aber wenn das Ergebnis einmal ein geringes wäre, so dürfte der Sortimenter die Gelegen heit, einem im allgemeinen kauflustigen Publikum seine Firma, die selbstverständlich auf einem transportablen Schild am Tische ersichtlich angebracht ist, ins Gedächtnis gerufen zu haben, nicht zu niedrig anschlagcn. Alle angeführten Vorträge hätten zu einer solch individuellen zweifachen Propaganda günstige Gelegenheit geboten, da ihr Verlauf so recht zeigte, welch tiefgehende Anteilnahme das mit Unrecht als verbiert verschriene Münchener Publikum an allen Fragen, die Verstand und Gemüt berühren, nimmt. Die Jatho-Abende, es mußte nämlich, da der erste Vortrag voll ständig überfüllt war, ein zweiter anberaumt werden, zeigten, daß der Deutsche immer noch strebend bemüht ist, Herz und Verstand, die wohl ewig im Widerstreit liegen werden, in Einklang zu bringen. Mit tiefgründender Überzeugung führte Jotho aus, daß auch religiöse Gesetze so wie weltliche keine Ewigkeitswerte besitzen, während Horneffer, der zweite Redner dieses Abends, seinen Vorredner erläuternd und ergänzend, etwa die Persönlichkeits-Religion Goethes klarlegte. — Auch der Dehmel-Abend war ausvei kaust. Seine Rezi tationen hinterließen, da sie mit steigender Begeisterung und von einem klangvollen, dem Inhalt gerecht werdenden, lyrischen Organ glücklich unterstütze, vorgetragen wurden, bei den Zuhörern einen tiefen, anhaltenden Eindruck. Der Autor hat es weit bester verstanden, zu Herzen des Audi toriums zu sprechen, als die Sängerin, die einige Ver tonungen charakteristischer Dehrnelscher Dichtungen vortrug. Aber — Verlag wie Sortiment hatten es auch hier Unter lasten, durch eifrige zähe Verfolgung den halben Sieg zu einem ganzen, wie ihn. die oben erwähnte Propaganda ge bracht hätte, zu gestalten. Wir leiden, vielleicht gerade deswegen, weil wir viel zu viel kleine und kleinliche Arbeit zu leisten haben, daran, daß wir die Macht der kleinen Mittel unterschätzen. Doch jetzt ist Zeit, sich auf solche Nothelser zu besinnen. Denn der Verlag, wenn er auch noch immer mehr hervorbringt, als unbedingt notwendig wäre, wenn er auch immernoch mehr Lücken entdeckt, als wirklich vor handen sind, er ist gottlob ein bißchen schaffensmllde geworden; die Epidemie der Herz und Sinn betörenden Redensarten vom kleinsten Sortiment, das auch Partien vom scheusäligstcn literarischen Wechselbalg absetzen kann, ist verwimmert und hat einer harmlosen Tröpfchen-Infektion Platz gemacht. Und das Sortiment? Es hat den Sturm, den cs an sWeihnachten vom Publikum zu bestehen hatte,