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Mit einem Wuthschrei schleuderte Drenker den Brief sammt dem Dokument auf die Seite. Er hatte nicht erst nöthig, auch das andere Schriftstück durchzulesen, er konnte dessen Inhalt errathen. „Hätte ich gewußt", sagte er, „daß Lina mit diesem Schuft von Meinhardt noch Verbindungen gehabt, ich hätte Wernheim warnen können, so aber ist für ihn nichts mehr zu retten. Aber auch für mich giebt es keine Rettung mehr", fügte er lispelnd hinzu, „sondern nur noch die Losung: Entweder den Tod oder das Zuchthaus!" „Das Zuchthaus!" murmelte er immer wieder vor sich hin, und wie in der Eingebung eines plötzlichen Entschlusses sprang er auf und sagte: „Nein, ich werde dem Staat die Kosten ersparen, die er sich auferlegen würde, wenn er mich im Zuchthause ernähren müßte!" Und mit einer Kaltblütig keit, als wenn es sich um den Abschluß seiner Bücher han delte, sagte er: „Jetzt werde ich mit dem Leben abschließen, ich habe genug gelebt. Ha, wie sie staunen und die Hände über den Kopf zusammenschlagen werden, wenn sie hören, Drenker hat sich selbst ums Leben gebracht!" Sein Blick fiel auf das Dokument; „doch was thue ich damit?" ich werde dein jungen Brandt sein Eigenthum zurückgeben, da mit der.Thor auch etwas aus dem Leben seiner Eltern weiß, oder sollte ihm Brandt nichts davon geschrieben haben? O doch", sagte er nach einer Weile, nachdem er das Dokument flüchtig durchgelesen hatte. „Recht interessant ist es abge faßt, dieses Schriftstück, wird den Jungen sehr freuen es wieder zu erhalten. Brandt hat es geschrieben, und ich werde es ihm überreichen. Vielleicht habe ich dann auch eine Berechtigung auf einen milden Richterspruch. — Ha, ha! diese Dummköpfe", sagte er höhnisch, vollführen ein Leben in äuloi jubilo und verbringen die letzten Stunden in Sack und Asche, weil sie den ewigen Richter fürchten! Wenn es überhaupt einen Gott giebt, wie kann dieser so viel Unrecht geschehen lassen, um später seine Lust am Strafen zu haben?" Solche und in vielen andern Dingen ähnliche Lebens anschauungen hatte Drenker. Er war ein fast entmenschter Verbrecher, dem der Glaube an Gott und die Religion unbekannte Begriffe waren; und dennoch hatte er sein ganzes Leben hindurch vor andern Leuten die Tugenden der Fröm migkeit zu heucheln gewußt. Er setzte sich nieder und schrieb noch an Walther einige Zeilen, versiegelte und verpackte mit diesen das Dokument und trug es selbst zur Post. Drenker wußte, daß Walther erst am andern Morgen die Sendung erhielt und bis dahin sollte man ihn nicht mehr zu den Lebenden zählen! ihn genirte es wenig, wenn er mit der Uebersendung dieses Schreibens auch einen anderen Unschuldigen tödtlich ver wundete, seine mit einer langen Reihe von Verbrechen be lastete Seele kannte wohl kaum noch den Unterschied zwischen Recht und Unrecht; und als endlich der Abend seinen Schatten auf die Erde senkte, verhüllte er eine verzweifelte, lichtscheue That, die ein Mensch an sich selbst beging, um sich dem irdischen Richter zu entziehen! Die Sonne stand schon hoch am Horizont, als Walther am andern Morgen erwachte. Er hatte an dem vorher gehenden Abend fast bis in die Nacht hinein gearbeitet, um noch die nothwendigsten der ihm obliegenden Pflichten vor seiner Abreise zu erledigen. Es währte nicht lange, so pochte es an der Thür und auf sein „Herein!" trat das Dienstmädchen in das Zimmer, welches ihm den Kaffee servirte und dabei einen sehr umfang reichen Brief auf den Tisch legte, dessen Absender der ge neigte Leser bereits kennt. Nachdem das Mädchen sich entfernt hatte, öffnete Wal ther den Brief, den er gerade für nichts Ungewöhnliches hielt, da ihm häufig von Seiten der Regierung so umfang reiche Dienstschreiben zugesandt wurden. Jedoch wie bitter sollte er enttäuscht sein. Das erste, was ihm in die Hände fiel, war das Dokument seines Vaters, dessen Inhalt seine Augen gierig verschlangen. Er las es nicht nur ein-, sondern zwei- und dreimal durch und mit dieser Durchsicht kehrte bei ihm die schreckliche Erinner ung an den letzten Lebensabend seines Pflegevaters zurück. „Jetzt weiß ich," sagte er leise, „warum er in seiner Sterbestunde mich um Verzeihung gebeten, warum er sein ganzes Leben büßend vertrauerte. Der Arme, er ist nicht so schuldbeladen wie Diejenigen, welche seine Jugend so schnöde mißbrauchten und seine Unerfahrenheit benutzten, um ihn zum Verbrecher an andere werden zu lassen. Die guten Eltern," seufzte Walther, sie mußten sich der Macht des schleichenden Verbrechens beugen und gingen zu Grunde in dem Bewußtsein, daß sie ihr Elend nicht selbst verschuldet hatten. Er bittet mich, daß ich das Dokument nicht zum Zweck der Rache verwenden möchte, weich ich sonst Unschul dige verwunden könne. Sein Wunsch soll erfüllt werden; ich will die Rache dem überlassen, der über uns ist; jedoch verzeihen kann ich nicht, was man meinen Eltern angethan hat, kann nur Gott verzeihen!" „Doch wie ist mir?" fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, „ist in dem Dokument nicht auch von Drenker die Rede? Sollte mein Wirth? — Wer ist eigentlich der Ab sender des Schreibens? —" Walther hatte das Begleitschreiben Drenkers ergriffen und durchlas es. „Die Löhr also ist seine Tochter, hätte ich es geahnt!" sagte er. Jetzt wendete Walther das Blatt um und seine Wangen erbleichten, als er die Worte las: „Ich übersende Ihnen das Dokument, da es für mich werth- los geworden. Das Begleitschreiben Meinhardts, der es mir' zugesandt, liegt dabei; auch das können Sie lesen, wenn es Sie interessirt. Bei der Durchsicht desselben werden Sie leicht den Grund errathen, weshalb ich jetzt, wo Sie das Alles gelesen haben werden, nicht mehr zu den Lebenden zähle. Drenker." Walther war sehr erschrocken, er sprang auf und lief unruhig im Zimmer auf und nieder. Oft blieb er stehen, um an der Thür zu horchen, ob er die Stimme Drenkers nicht vernehmen könne, aber er hörte nichts; er eilte zu seinem Fenster und öffnete dasselbe, um zu sehen, ob er nicht sein Geschäftslokal schon geöffnet habe, aber es war verschlossen. Es war unzweifelhaft, hier war ein Selbst mord geschehen. Eine fieberhafte Unruhe bemächtigte sich seiner und er wollte eben hinauseilen, um das Einschreiten der Behörde zu veranlassen, als er plötzlich inne hielt, um zu überlegen, ob dieser Schritt auch rathsam sei. Er durfte es nicht einmal, denn wenn er der Ueberbringer dieser Nachricht war, so konnte man ihm fragen, wie er zu der Kenntniß des Ereignisses gelangt war, und das mußte ver mieden werden, denn auf keinen Fall wollte er zugeben, daß diese große Schuld, wofür sein Pflegevater 25 Jahre so schwer gebüßt, jetzt noch an die Oeffentlichkeit gezogen wurde. „Es ist genug der Sühne!" sagte Walther, „Gott mag den letzten Richterspruch sprechen!" Aber die qualvolle innere Unruhe wollte nicht von ihm weichen, das entsetzliche Ereigniß folterte ihn unaufhörlich und dennoch war er verurtheilt zu schweigen, um das An denken seines Vaters zu ehren und denselben nicht noch im Grabe beschimpfen zu lassen. „O!" sagte Walther klagend, „warum mußte er auch dieses unheilvolle Dokument hinter-