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folge für immerwährende Zeit verzichtet. Es ist somit der zweite Sohn des Prinzen Leopold, der vierzehnjährige Prinz Ferdinand, vom Fürsten Carl zum Thronfolger ausersehen worden, und diese Successions-Angelegenheit soll, wie versichert wird, schon in der nächsten ordent lichen Session der gesetzgebenden Kammern zur verfass ungsmäßigen Austragung gelangen. Berlin, 21. Mai. Der Liberalismus ist aus dem Präsidium des Reichstags wirklich verdrängt. Zum ersten Präsidenten des Reichstags an Stelle Forckenbecks ist der Kandidat der Konservativen, Herr v. Seydewitz, gewählt worden. Das „Tgbl." schreibt darüber: Der Reichstag vollzog in seiner heutigen Sitzung die Wahl des ersten Präsidenten an Stelle des Herrn v. Forckenbeck und erwählte mit 175 von 204 Stimmen den deutschkonservativen Abgeordneten Landeshauptmann von Seydewitz. Dieses Resultat ist herbeigeführt da durch, daß das Centrum sich heute vor Beginn der Sitzung entschlossen hat, für den Candidaten der Deutschkonser vativen zustimmen, um, wie mitgetheilt wird, „die Schwier igkeit der Situation nicht zu erhöhen." Eine eigenthüm- liche Feinfühlichkeit hat sich dieser Fraction plötzlich be mächtigt, deren ganzes Streben bisher darauf gerichtet war, der Negierung Verlegenheiten zu bereiten. Fürst Bismarck kann sich ob dieser neuen Stütze Glück wünschen. Außerdem wurden 119 weiße Zettel abgegeben. Dieselben rühren von der Fortschrittspartei, den Nationalliberalen und Socialdemocratm her. Ob das Centrum durch sein Verhalten sich die Stelle des zweiten Vicepräsidenten, falls Herr v. Stauffenberg ablebnt, erobert hat, ist mehr als fraglich, ja unwahrscheinlich. Herr Seydewitz, der gestern seine Wahl entschieden abgelehnt, hat sich aus Andringen seiner Parteigenossen in letzter Stunde zur Annahme der Wahl entschloßen. Er that dies mit fol genden Worten: „Meine Herren, Ihre Wahl trifft mich, wie ich ge stehen muß, unerwartet. Ich weiß, welche Schwierigkeiten mir das Amt, das Sie mir anvertrauen wollen, auferlegt, Schwierigkeiten, die um so größer sind, als vor mir aus diesem Platze ein Mann gesessen hat, der durch seine un gewöhnlich hohe Besähigung unsere allgemeine Anerkenn ung verdient und erworben hat. (Bravo!) Meine Herren, ich nehme aber doch die Wahl an, weil ich mich für verpflichtet halte, in diesem AngenbUcke alle meine Kräfte, so schwach sie sein mögen, der Förderung des gemein samen Wohls des Vaterlandes zu widmen. Ich bitte Sie, m. H., daß Sie mich in diesem Streben, in dieser Arbeit auch bei der Geschäftsleitung, die mir zufallen wird, unterstützen, und zwar unterstützen auf allen Seiten. Seien Sie überzeugt m. H., ich werde Unpartei lichkeit und Gerechtigkeit üben nach jeder Seite hin." (Beifall rechts.) Es ist sreilich sehr zu bedauern, daß in diesen be wegten Zeitläuften ein in den heutigen parlamentarischen Versammlungen so durchaus unrrsahrener Mann, wie Herr von Seydewitz seinem eigenen Geständniß nach ist, zum Präsidenten des Reichstages gewählt werden konnte. Die Folgen werden sich schneller zeigen, als uns lieb sein kann. Der neue (erste) Präsident des deutschen Reichstages, Otto Theodor von Seydewitz, ist am 11. September 1818 zu Groß-Badegast geboren und hat die Universität Ber lin nach Absolvirung des Gymnasiums zu Torgau fre- quentirt. Nach Beendigung seiner Studien im Jahre 1840 wurde er Auskultator beim Kammergericht zu Berlin trat beim königl. Land- und Stadtgericht zu Görlitz in den Staatsdienst, arbeitete 1842 bei der Regierung in Merseburg, verwaltete 1844—45 das Landrathamt da selbst, wurde 1858 zum Landrath des Görlitzer Kreises und 1864 zum Landeshauptmann und Landes-Aeltesten der preußischen Oberlausitz gewählt. Seit 1867, wo Herr von Seydewitz in den konstituirenden Reichstag gewählt wurde, gehörte er dem Reichstage in allen Le gislatur-Perioden an. Er vertritt den 10. Wahlkreis und hat sich der deutsch-konservativen Fraktion ange schloffen. Bern, 18. Mai. Der Bund schreibt: „In einigen auswärtigen Blättern, so letzter Tage wieder in eine Berliner Correspondenz des „Pesther Lloyd", erhält sic das Gerücht, die russische Regierung habe von der Schweiz die Auslieferung eines flüchtigen Ruffen ver langt, Namens Turikoff, der in Genf sein solle, und von dem man behaupte, er sei der Mörder des Genera Mesenzoff. Wir haben nun an competenter Seite über die Sache genaue Erkundigung eingezogen und in Er fahrung gebracht, daß die Auslieferung eines Turiko Seitens der russischen Regierung niemals auch nur m einem Worte angeregt oder gar verlangt worden sei Damit fallen alle weiteren Combinationen, welche di auswärtige Presse an die Sache geknüpft hat, von felb dahin." Bern, 20. Mai. Das Gesammtresultat der Volks- Abstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe ist 191,197 Stimmen für und 177,263 Stimmen gegen. Amsterdam, 17. Mai. Im Hinblick auf den Ban krott der afrikanischen Handelsvereinigung schreibt man der „Weser Ztg.": Die Katastrophe in Rotterdam ha förmlich den Eindruck einer verlorenen großen Schlacht hervorgebracht, und noch im Augenblicke dreht sich das Tagesgespräch um den jähen Zusammensturz der afrika nischen Gesellschaft. Man will sich noch kaum an den Gedanken gewöhnen, daß ein Mann wie Pincoffs, das tonangebende Mitglied des Gemeinderaths, der Vertreter der Stadt in der Ersten Kammer, Jahre lang solche Schwindeleien^verübt hat. Denn die Bilanzen der Ge sellschaft sind seit wenigstens 6 Jahren gefälscht, und man fragt sich, wie es für ihn möglich gewesen, unter den Augen des Aufsichtsraths, der aus anerkannt recht lichen und braven Männern besteht, Jahre lang ein falsches Spiel zu treiben. Die zwei Hauptbuchhalter der Gesellschaft sind gestern verhaftet worden und man wird deshalb nicht lange auf weitere Aufklärung zu warten haben. Daß der Zusammenbruch der Gesellschaft so lange hingehalten werden konnte, hat hauptsächlich darin seinen Grund, daß Pincoffs vermöge feines allge waltigen Einflußes seine nächsten Verwandten an die Spitze verschiedener bedeutender, von ihm ins Leben ge- rusener industrieller oder finanzieller Unternehmungen stellte, über deren Fonds er dann nach Belieben und in ganz unbeschränkter Weise verfügte. Sein Sohn z. B., der ebenfalls verschwunden ist, war Director einer Rotter damer Gasgesellschaft, und da diese vor einiger Zeit ein Anlehen von 600,000 Fl. machte, das Geld aber nicht sofort bedurfte, so floß dasselbe in die Caffe der afrika nischen Gesellschaft, und die Gasgesellschaft bekam als Deckung Actien der Ersteren. Die äußere Veranlassung zum Krach war der Tod des Prinzen Heinrich, der der Gesellschaft eine Summe von 600,000 Fl. geliehen, die sie aber contractmäßig 6 Monate nach dem Ableben des Prinzen an dessen Erben zurückzubezahlen hatte, und die Testamentsvollstrecker sollen es gerade gewesen sein, welche zuerst die Fälschung der Bilanzen entoeckten. Uebrigens müssen verschiedene Leute in Rotterdam schon 5 oder 6 Tage vor dem Ausbruch der Katastrophe um die Sache gewußt haben, aber diese scheinen noch an die Möglich keit eines Arrangements gedacht zu haben. Indessen hat bis jetzt nur eine Firma ihre Zahlungen eingestellt, da gegen haben verschiedene um SurseaNce gebeten. Bis in die Zweite Kammer wälzte der Sturm der allgemeinen Entrüstung seine Wellenschläge, und das Eceigniß wird jedenfalls nicht ohne Einfluß auf das Schicksal des Ca nalgesetzes sein, denn der Abg. van Houten, ein Gegner des Gesetzes, hatte natürlich leichte Mühe, auf das ver kehrte Prinzip hinzuweisen, große Summen auf Unter nehmungen zu verwenden, deren Rentabilität auf un- ichrerer Grundlage beruht. Mit lautloser Stille wenig- tens hörte die Kammer den Abgeordneten an. Ueber )en Aufenthalt der beiden flüchtig gewordenen Directoren verlautet mit Bestimmtheit nur so viel, daß Kerdyk in Antwerpen einen Selbstmordversuch machte, an dem er ini dortigen Spitale lebensgefährlich darniederliegt, Pin coffs dagegen scheint mit seiner Familie in Sicherheit zu sein; er verließ auf seiner eigenen Pacht Rotterdam, rnd im Canal erwartete ihn ein unter spanischer Flagge egelndes Schiff, das ihn wohl schon in Spanien, von vo er nicht ausgeliefert werden kann, ans Land gesetzt haben wird. Paris. In Frankreich sind die Kammern beisammen und werden zunächst über ihre Rückkehr nach Paris be schließen. Das Ministerium zeigt sich einiger, als man erwartet hatte. Seine Lage ist darum aber duraus noch keine gesicherte, selbst dann nicht, wenn es in den Kam mern demnächst das verlangte Vertrauensvotum erhält. Gambettas Ernennung zum Ministerpräsidententritt wieder in den Vordergrund. Die Agitation gegen die Unter richtsgesetzentwürfe ist im steten Wachsen. Petersburg. Fortdauernd lausen noch Berichte ein von verheerenden Bränden, bei denen sowohl der hölzerne Bau ganzer Städte und Stadttheile, große Dürre und heftiger Stnrm auf der einen, als auch Indifferenz, Trunkenheit und Brandstiftung aus der anderen Seite eine Rolle zu spielen scheinen. Ein Telegramm des Gouverneurs von Perm an den Minister des Innern besagt, daß, der Weisung des Ministers gemäß, den Stadtämtern und der Polizei in den Städten, wo keine obligatorischen Verordnungen über Nachtwachen und Schutzmaßregeln gegen Feuer erlassen sind, durch ein Circular vorgeschrieben worden, unverzüglich solche zu veröffentlichen, und daß,.hinsichtlich der Städte, wo diese Verordnungen bereits erlassen sind, die Durchsicht und, wenn nöthig, Ergänzung derselben angeordnet sei. Der Generalgouverneur von Orenburg theilt mit, daß er Ein richtungen hinsichtlich des Feuerlöschwesens getroffen habe, und meldet weiter: „Die Hauptursachcn des Brandes sind die furchtbare Dürre, die fürchterlichen Stürme, wie auch das gegenwärtige Elend der Abgebrannten in kalten Gebäuden und die größte Unvorsichtigkeit." Petersburg, 19. Mai. Nach hier eingegangenen Nachrichten ist in der Stadt Petropawlowsk im Bezirke Akmolliusk (Sibirien) eine Feuersbrunst ausgebrochen. Mehrere Stadtviertel stehen in Flammen. Petersburg, 21. Mai. Das „Journal de St. Petersbourg" dementirt die Behauptung deutscher Blätter, Rußland habe Angesichts des neuen deutschen Zolltarifs mit Repressalien bezüglich der Einfuhr von Schienen, Eisen und Locomotiven gedroht. Diese Frage sei gar nicht erwogen worden. Rußland habe niemals seine Tarife durch Verträge gebunden und es erkenne anderen Staaten dieselbe Freiheit zu. London, 20. Mai. Die „Times" nnldet aus Simla von gestern, die Hauptpunkte des mit Jakub Kahn ab geschlossenen Vertrages seien die Annexion der Pässe und eines für Heistellung einer angemessenen Grenze hinreichenden Gebietes, die Anstellung eines englischen Residenten in Kabul, die Controle der auswärtigen Be ziehungen Afghanistans und die Unabhängigkeit der Afri- distämme, jedoch ohne Präjudiz für die Herrschaft über die Pässe. — Aus Panama wird unterm 7. d. M. gemeldet, der durch das Bombardement von Pisagua entstan ¬ dene Vermögensschadeu werde auf eine Million Soles geschätzt. K airo. Der Vicekönig von Egypten hat jetzt auch von Seiten Deutschlands einen Rüffel erhalten. Der Pro test der deutschen Regierung, welcher am 17. d. MtS. durch den deutschen Generalkonsul dem Khedive formell überreicht wurde, ist gegen die willkürliche Handlungs weise des modernen Pharao gerichtet, welcher durch die Finanzdekrete vom 22. v. M. die Beziehungen der egyp- tischen Regierung zu den Gläubigern veränderte, deren Rechte unter den Schlitz der internationalen Gerichtshöfe gestellt worden sind. Ob sreilich der Protest etwas fruchten wird, ist eine andere Frage! VndächtM Mrkkn. Crinii nal-Novelle von Karl Ghop. (Fortsetzung.) Wir verzweifelten endlich daran, den verschwundenen Inspektor heute noch wiederzusehen und entschlossen uns, obwohl mit Widerstreben, ohne ihn abznfahren. Die gelbe Kutsche war bereits angeschirrt und wir rüsteten uns eben, dieselbe zu besteigen, da erschien der Vermißte, gelassen und still wie immer. „Wo, in des Himmels Namen, sind Sie gewesen, Herr Jnspector?" rief ich ihn an. „Ist das auch Recht, die Reisegefährten im Stiche zu lassen? Wo waren Sie? So reden Sie doch einmal, bester Herr!" Dem Inspektor schien es eine wirkliche Anstrengung zu verursachen, daß er sich höflichkeitshalber aus seinen, gewohnten lieben Schweigen Herausreißen mußte. Man sah ihm förmlich die Mühe an, die ihm die ungewohnte Bewegung der sestgeschlosienen Sprechwerkzeuge verur sachte. „Ich habe die Herren nicht im Stiche gelassen", sagte er kurz abgestoßen. „Habe den Platzmeister aufgesucht und zu Herrn Hage geschickt." „Vortrefflich. Also diese Hulse in der Noth ver danken wir Ihnen? Und dann?" „Und dann? Nichts weiter. Habe ein wenig die Natur bewundert." Der Jnspector ein Landschaftsschwärmer? Und in diesem Momente? Ich mußte unwillkürlich über den Ge danken lächeln und auch über das ernste Gesicht des Polizeimannes schien ein matter Abglanz dieses Lächelns zu laufen. Seine Lippen zuckten fast unbemerkbar und ließen die fest verbissenen weißen Zähne erkennen. „Nun? Wollen Sie nicht mit uns einsteigen, Herr Jnspector?" „Danke. Die Untersuchung ist wohl zu Ende? Wird, fürchte ich, nichts dabei herauskommen. Durchaus dunkel. Nur Nummern der Papiere bekannt machen, Herr Criminalrath. Vielleicht sind sie noch nicht ver kauft." „Soll sofort geschehen. Also haben auch Sie keine Hoffnung, Herr Jnspector?" „Keine." Täuschte ich mich oder hatte während der kurzen verneinenden Antwort des Inspektors wirklich ein sengen der Blick seiner gewöhnlich halbgeschlossenen Augen auf dem Gesichte meines Protocollstthrers sekundenlang ge hastet? Hegte der Jnspector einen Verdacht gegen den Actuar ? Unmöglich. Ich mußte diese Vermuthung sofort wieder verwerfen. Es ist eben eine jener Blasen, wie sie im Hirne eines Untersuchungsrichters wohl bisweilen aufsteigen. Senf hatte bei der Untersuchung einen un verkennbaren, großen Eiser bewiesen. Sein Protokoll hatte mit musterhafter Treue jede irgend erwägcnswerthe Aeußerung der vielen Zeugen wiedergegeben, ja, er hatte selbst hin und wieder irgend eine nicht immer unbedeut ende Frage eingeworfen. Und welche sonstigen Gründe zu einem Verdacht konnte der Jnspector haben? Die Handschrift des Verbrechers war von der feinen so himmelweit verschieden, als feine langen semmelblonden Löckchen von dem dunklen kurzen Haare des angeblichen Protokollführers. Sollte der Inspektor sich von seiner Neigung zum Argwohn so weit haben fortreißen lassen, daß er aus die bloße Horcherei des Actuars sich ein Ge bäude von Trugschlüssen aufgerichtet hätte? Wiederum unmöglich. Dazu war der Jnspector zu klug und zu wenig Phantast. Ich mußte mich wohl in meinen Wahr nehmungen getäuscht haben. „Sie wollen also nicht mit uns fahren?" fuhr ich fort. „Nein, Danke. Habe andere Geschäfte. Will ein mal nach Nehstein hinüber. Adieu meine Herren." Er machte Kehrt und schritt die Stufen zum Gast hofe hinauf. Wir aber hielten uns nicht länger auf, sondern ließen die Pferde rasch ausgreifen, um endlich wieder in die gewohnte Häuslichkeit zurückzukehren. Die vier Wegstunden nach Erlenstein wurden von den munteren, nach dem heimathlichen Stalle sich zurück- fehnenden Braunen rasch zurückgelegt. Führte doch der Weg aus dem Gebirge meist thalab und dann durch das Paradies der Oekonomen und Pferde, die Hölle der Romantiker, durch die fruchtbare, glatte Ebene dahin. Unsere eigene Stimmung war nicht die beste. Den Staatsanwalt drückte das Bewußtsein des verfehlten Streiches offenbar (so sehr wie nuch) selbst. Kurz, wir Beide saßen, jeder in seine Wagenecke zurückgelehnt, finster und wortkarg da, und ließen diesmal die schönsten Punkte der Landschaft unbeachtet an uns vorüberziehery