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Nr. 4. Pulsnitzer Wochenblatt. — Dienstag, den 10. Januar 1911. Seite 6. Uhr das Feuer auf das brennende Gebäude beschränken, sodaß d^e anderen Gebäude nicht mehr in Gefahr waren. Die Entstehungsursache konnte noch nicht festgestellt wer den. Das niedergebrannte Gebäude war erst 1896 er richtet worden. Der Schaden kann noch nicht geschätzt werden. Wien, 9. Januar. (Boykott gegen einen Ge meind earzt.) In Rtedau in Ober-Oesterreich veran stalteten die Bauern eine planmäßige Hetze gegen den Gemeindearzt Or. Franz, der pflichtgemäß einen Typhus fall zur Anzeige gebracht hatte, weshalb die geplante militärische Einquartierung unterblieb. Dem Arzte wurde der Kauf von Lebensmitteln verweigert, die Patienten blieben aus, gegen sein Haus wurden Steinwürfe ge richtet. Franz ist infolge der Aufregungen einem Herz- schlag erlegen. Paris, 9. Januar. (Kälte st reik von 11000 Schulkindern.) In Toulon sind die Schüler der höheren Bürgerschule in den Streit getreten, weil in ihren Klassenzimmern keine Offen sind und die Schüler infolgedessen sehr unter der Kälte zu leiden haben. Die sen Schülern haben sich nun auch die Schüler sämtlicher Volksschulen von Toulon aus dem gleichen Grunde an- geschloffen, sodaß von heute ab nicht weniger als 11 000 Schulkinder entschlossen sind, dem Unterricht fern zu bleiben, solange nicht in sämtlichen Klassenzimmern Oefen eingeführt werden. ttus Sem Sericktssaals. 8 Dresden, 9. Januar. (Ein Journalisten- Prozeß.) Ein erbitterter Streit, der schon wiederholt die Dresdner Gerichte beschäftigte, besteht seit Jahren zwischen dem Redakteur bei den „Dresdner Nachrichten", Georg Müller-Heim und dem Vorstand des Dresdner Schriftsteller- und Journalisten-VereinS. Als Redakteur Müller-Heim vor etwa 3 Jahren aus Leipzig nach Dres den übersiedelte und in die Redaktion der „Dresdner Nachrichten" eintrat, stellte er alsbald bei dem Vorstand des Dresdner Schriftsteller- und Journalisten-VereinS den Antrag auf Aufnahme in den genannten Verein. Die Aufnahme erfolgte einstimmig und Redakteur Müller-Heim erhält vom Vereinsvorstand eine diesbezügliche Mitteilung, wurde auch vom Vorsitzenden noch in einem besonderen Schreiben herzlichst beglückwünscht. Groß war aber Müller- Heims Erstaunen, als ihm eines Tages offiziell mitge teilt wurde, daß sich bei Erledigung der Formalitäten gelegentlich seiner Aufnahme ein Irrtum eingeschlichen habe, daß er nicht durchgekommen und seine einstimmige Aufnahme nicht erfolgt sei. Mit diesem seltsamen Spiel war Müller-Heim aber natürlich keinesfalls einverstanden. Er strengte die Feststellungsklage an, erreichte in allen Instanzen ein obsiegendes Urteil und die Gerichte stellten zur größten Genugtuung Müller-HeimS fest, daß seine Aufnahme in den Dresdner Journalisten- und Schrif,- steller-Verein ordnungsgemäß erfolgt sei. Diese Vorgänge hatten später noch zur Folge, daß Müller-Heim gegen ein Mitglied des Vorstandes des genannten Vereins Straf antrag wegen Falscheides stellte. Der Vorsitzende des Dresdner Schriftsteller- und Journalisten-VereinS, der Berichterstatter Guido Mäder, hatte zuvor den Vorsitzen den des Leipziger Pressevereins gebeten, sich über den Redakteur Müller-Heim zu äußern. Der Vorsitzende Alban von Hahn teilte über die Person Müller-HeimS verschie dene Einzelheiten mit und Herr Mäder gab diese Interna in einer VrreinSsttzung zur Kenntnis. Die Behauptungen v. Hahns über Müller-Heim stellten sich als schwere Be leidigungen Müller-HeimS dar. Der Wahrheitsbeweis war nicht zu erbringen und Alban v. Hahn wurde am Sonnabend vom Dresdner Schöffengericht zu 100 M Geldstrafe oder 10 Tagen Gefängnis verurteilt. Z Berlin, 9. Januar. (Die Moabiter Kra walle vor dem Schwurgericht.) Das zweite Nachspiel der Moabiter Krawall', vom September v. I. nahm heute seinen Anfang vor den Geschworenen des Landgerichts I. Achtzehn Personen, meist jugendlichen Alters, die sich sämtlich seit Monaten in Hast befinden, stehen unter der Anklage des Aufruhrs und des Land- sriedenbruchs Ursprünglich waren es 19 Angeklagte; einer von ihnen hat sich inzwischen im Untersuchungsge fängnis erhängt. Sämtliche Angeklagten werden des Vergehens und Verbrechens gegen die HZ 115 und 125 des Strafgesetzbuches beschuldigt. Vor den Toren und in der Vorhalle des Gerichts sind wiederum zahlreiche Schutzmannsposten aufgestellt um eventl. Ruhestörungen vorzubeugen. Der Andrang zum Zuschauerraum ist ein ganz gewaltiger. Die Dauer des Prozesses ist auf etwa drei Wochen berechnet. Der V-Zug, der um 9 Uhr abends aus Kopenhagen in Ber lin eintrifft, erlitt am 5. Januar einen Unfall, der sehr ernste Folgen hätte haben können. In der kleinen Station hinter Gransee stieß der Zug in einen mit Ochsen beladenen Güter wagen, der auf einem Neben gleise stand. Die Lokomotive des V-ZugeS bohrte sich in den den Wagen ein, sodaß die Och sen teils getötet, teils verletzt wurden. Zum Glück erging es den Insassen des V-ZugeS nicht so schlecht wie diesen armen Tie ren. Es wurden zwar viele Passagiere und Zugbeamte ver wundet, sie erlitten aber sämt lich nur leichte Hautabschürfun- gen und tonnten in einen HtlfS- zug einsteigen. Der Unfall dürfte durch die Nachlässigkeit eines StationS - Beamten verschuldet worden sein. vresdner Produkten - Börse, 9. Januar 1911. Wetter: Bewölkt Stimmung: Behauptet. Um 2 Uhr wurde amtlich notiert: Weizen, weißer, M, brauner, alter, 74—78 Kilo, M, do. neuer, 75-78 Kilo, 193-199 M, do. feuchter, 73—74 Kilo, 187—190 M, russischer rot 214—224 M, do. russ. weiß M, Kansas , Argentinier 218—221 M, Australischer — M, Manitoba 224-232 M. Roggen, sächsischer alte c 70—73 Kilo M,do. neuer70—73 Kilo, 145—151 M., do. feuchter, 68—69 Kilo, 139—142 M., preußischer 153—157 M., russischer 166-164 M. Gerste, sächsische, 170-180 M, schlesische 190-205 Ai, Posener 180-200 M, böhmische 210-230 M, Futtergerste 125-133 M. Hafer, sächsischer 159—164 M, beregnete 139-154 M, schlesischer 160-166 M, russischer loco 161-166, M. Mais Cinquantine 168—175 M, alter M, Rundmais, gelb, 138—141 M, amerikan. Mired-Mais , Laplata, gelb, 138-141 M, do. neu, feucht M. Erbsen, 160—180 M, Wicken, 168—180 M. Buchweizen, inländischer 180—185 M, do. fremder 180—185 M, Gelsaaten, Winterraps, scharf trocken, — —, do. trocken , do. feucht . Leinsaat, feine 360-370 M, mittl. 340-355 M., Laplata 355-360 M. Bombay — M. Rüböl, raffiniertes 63,00 M. Rapskuchen (Dresdner Marken) lange 11,50 M, runde — — M. Leinkuchen (Dresdner Marken) I 19,50 M, U 19,00 M. Mal? 29,00-33,00 M. Weizenmehle (Dresdner Marken): Kaiserauszug 35,00—35,50 M. Grießlerauszug 34,00—34,50 M, Semmelmehl 33,00—3!,50M, Bäckermundmehl 31,50—32,00 M, Grießlermundmehl 23,50 bis 24,00 M, Pohlmehl 17,50-19,00 M. Roggenmehle (Dresdner Marken) Nr. 0 24,00—24,50 M, Nr. 0/1 23,00-23,50 M, Nr. 1 22,00—22,50 M, Nr. 2 19,50—20,50 M, Nr. 3 15,50—16,50 M, Futtermehl 13,40—13,80 M. Weizenkleie (Dresd. Mark.): grobe 9,80- 10,00 feine 9,00—9,40 M. Roggenkleie (Dresdner Marken): 11,00—11,20 M. verNner Sonvsbörss. Die Börse eröffnete in ziemlich fester Haltung, weil erstens die Newyorker Sonnabendbörse in fester Haltung geschloffen und außerdem der Kohlenversand im Rhein land-Westfalen ein recht guter ist. Vorübergehend trat eine Abschwächung ein, weil Geld knapp bleibt und auch die Operation des Generaldirektors Ballin von der Hamburg-Amerika-Linie verstimmte. Der Schluß war aber doch wieder vorwiegend befestigt, besonders wurden einzelne Bank ktien bevorzugt. Prtvatdiskont 3, 5—8»/«. Wettervorhersage der Kgl. S. Landcswctterwartc zu Dresden. -Mittwoch, den 11. Januar 1911. Südwestwind, aufheiternd, kälter, kein erheblicher Niederschlag. Magdeburger Wettervorhersage. Mittwoch, den 11. Januar 1911. Teils heiteres, teils stark nebliges, trockenes Frostwetter. kircdnackricdlen von Licklonborg. In dem mit Gott zurückgelegten Jahre 1910 sind 49 Kinder (1909 : 58) geboren, worunter 24 Knaben und 25 Mädchen, 2 tot geborene, 4 uneheliche und 3 ungetauft verstorben. 42 Kinder (1909 : 56) getauft, 50 - „ ( „ : 35) konfirmiert, worunter 18 Knaben und 32 Mädchen, 23 Paare ( „ : 29) aufgeboten worden. 18 „ ( „ : 20) haben die Ehe geschlossen. 17 „ ( „ : 20) sind getraut worden. 28 Person. ( „ : 39) „ gestorben und 29 „ ( „ : 38) „ begraben worden. 1173 „ ( „ : 1159) haben kommuniziert, darunter 522 männ ¬ liche, 651 weibliche, 19 im Hause. Es sind sonach 1910 im Vergleiche zu dem vorhergehenden Jahre 9 Kinder weniger geboren, 14 15 6 2 3 11 9 14 getauft, „ mehr konfirmiert, Paare weniger aufgeboten worden. „ „ haben die Ehe geschlossen. „ „ sind getraut worden. Person. „ „ gestorben. „ „ „ begraben worden und „ mehr „ zum heiligen Abendmahle gekommen. Und Tessow ließ sich wirklich bereden, ging in« Schlaf« zimmer und legte sich nieder. Er war so müde, daß er fast so fort in festen Schlaf fiel. Reichenbach schüttelte den Kopf. Der Tessow war doch entschieden krank. »Na, warten wir einmal ab, und ist e« nicht ander« — in einer Stunde holen wir doch den Schreier." Leise ging er wieder in« andere Zimmer und sah sich auf dem Schreibtisch nach Zeitungen um. Da fiel sein Blick auf da« Bildchen. Donnerwetter, da« war doch — — Unmöglich! Ihr Bild? Hier bei Trssow? Und doch war sie'«, schön wie rin Engel. Reichenbach pfiff ganz leise durch die Zähne. Deshalb die Aufregung de« Freunde«. Da« erklärte ja di« ganze Situation. Und die Frau? Diese schöne, berauschend schöne Sünderin? — Welcher Leichtsinn von dem Tessow, da« Bild hier liegen zu lassen! Aber freilich, in seinem momentanen Gemütszustand war e« begreiflich. Tut, daß da« kein anderer gesunden hatte l Darau« hätte man ja den), beiden, dem Tessow mit, einen guten Strick drehen können. „Da» Ding wollen wir 'mal fortlegen." Er versuchte, die Lad« aufzuzirhen. Sie war unverschlossen, und er schob da« Bild hinein. Alle Wetter, die Entdeckung hatte ihn ganz heiß gemacht. So ein infamer Schlingel, der Trssow, machte sich an die schönste Frau in der ganzen Stadt, von der e« immer hieß, sie sei schön wie Venu«, aber kalt wie ein Stein. Und wa» sollte er, Reichenbach, nun tun? Sollte er — zu Tessow sagen: „Mein Junge, ich kenne dein Geheimni«! ? — Nein, da« ging nicht. Wenn da wirklich noch rin Geheimnis war, dann war'« besser, er erfuhr e« nicht. Aber was sollte er tun? Und nun lief er auf und ab wie der Freund und grübelt« und dacht«, bi« srine sonst so fröhlichen Augen ganz finster und «rnst wurden. Vor allen Dingen mußt« der Tessow fort! Er mußt« 'unter irgendeinem plausiblen Grunde um sein« Ver setzung «inkommen. Denn hier bleiben durfte er jetzt nicht, da« wäre ehrlo« und schlecht gewesen. Selbst wenn keiner von ihnen beiden mit der Tat schuldig war an dem Tode de« Manne», so waren sie indirekt doch schuldig, dem Gefühl, der Sitte, dem Ehrengesetz nach. Und folglich mußte er fort. Da» war da» rrste, da» war die Hauptsache. Und «r überlegte hin und her, wie er ihm da» bei bringen sollte. Da rührte sich Tessow nebenan. Der Schlaf hatte ihn übermannt nach ter Aufregung. Jetzt schämte er sich dessen und stand rasch auf. Auch ihm wurde klar, daß er hier nicht bleiben konnte, hier, wo er ihr täglich hätte begegnen können. E« würde ihm aller« ding» leid tun, die nette Garnison und seine Freund«, gut« Fr«unde, wir dies«» Hauptmann Rrichrnbach, verlassen zu müs sen. Aber er fühlte e«, hier durfte er nicht bleiben. So kam er einer Frage de« Freundes zuvor und teilte ihm mit, daß er fort wolle von hier. Er habe die Sehnsucht, mehr zu sehen von der Welt. Reichenbach verstand ihn ohne weiteres, drückte ihm wortlos die Hand und ließ ihn dann allein. — Wieder war er allein mit seinen Gedanken l Und wieder drehten sie sich um die eine Frage: „Ist sie schuldig? Ist sie nicht doch schuldig?" Wo war seine Liebe für sie? Einem Grauen war diese Lieb« grwichen, das «r nicht bann«» konnte. So überläßt der Mann, wenn die Leidenschaft flieht, nur zu gern die Frau ihrem Schick al, jene Leidenschaft, di« nichts gemein hat mit echter, wahrer, heiliger Liebel Hätte Tessow sie wirklich geliebt, würde er keinen Augen« blick an ihre Unschuld gezweifelt haben. * * * Alexander von Tessow war um seine Versetzung eingekommen. Sein Wunsch wurde erfüllt. Die Versetzungsorder traf ein und lautete auf eine große Handelsstadt im Norden Deutsch land». E« herrscht« dort in d«n achtziger Jahren de» vorigen Jahrhundert» noch ein sehr patriarchalischer Ton und ein ge wisser Kastengeist, mit dem die alten Patrizierfamilien unter einander zusammenhielten. Der Fremde sand früher de»halb da» Leben dort langweilig. Der Einheimische hingegen liebte die Ruhe, die in den vornehmen Vorstadtvierteln herrschte — trotz großstädtischer Einrichtungen, trotz Pferdebahnen und trotz r«g«n Straßenverkehr» im Innern der Stadt. Aber «in« Zeit gab e», da» war der Freimarkt, da wett« eiferte die Stadt mit jeder anderen an Unruhe und Lustbarkeit«». Da war die Gegend am Markt und Domhof nicht wiederzuer« kennen. Der ganz« Domhof und der Marktplatz stehen voll Buden. Orgeldreher und andere Musiker durchziehen die Stadt. Zirku», Affentheater, Riesenweiber und Zauberkünstler locken da» schau« lustige Publikum. Die Hauptsache aber ist nicht da» Kaufen und Besehen, da» ist vielmehr da» Spazierengehen zwischen zwölf und zwei Uhr nachmittag« in den Budenreihen dr» Domhos«. Da schiebt sich da« Publikum langsam durch die Reihen. Verwundert bl cken die Augen eine« jungen O!fi,i«« in da» bunte Treiben, Erst seit gestern ist er hier und ist ganz er« staunt, sich in solchem Gewirr« zu find«». Ist die« da« ruhig« Leben, von dem ihm allseitig erzählt worden ist? Sind da« die steifen Hanseatinnen, die hier plaudernd, kichernd, errötend an ihm vorbeischlendern? Ein Kamerad, Leutnant Mühldörffer, hat sich seiner be mächtigt und ihn gleich mit hierher geschleppt. Er behauptete: „Kommen Sie nur, da» muß man gesehen haben." Nun lenkte er seine Schritte zur Schmalzkuchenbude. „Und wa« sollen wir da?" fragte Tessow verwundert. „Viktoriakuchen essen!" antwortete der andere lachend. „Wa»? Auf offener Straße?!" Ja, kommen Sie nur! Sie werden schon sehen!" Sie schieben sich langsam weiter. Nun st'ömt ihnen scho» der Dust frischen Schm ckzgebäckS entgegen. Wirklich! Da stehen die Leute vor der Bude auf einem schmalen Holzbreü, und jeder hat sein Trllerchen in der Hand und ißt den dampfend heißen Schmal,kuchen. Ein sehr belustige» Lächeln huscht über T ss"^ Besicht. Sonderbare Litten I Und doch ist e» daß e« noch so etwa» gibt in dem Zeitalter de» Dampfe« und der Eleltrizilät Da sieht er, daß Leutnant Mühldö-ffer grüßend an eine junge Dame herantritt. (Fortsetzung folgt.)