Suche löschen...
Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger : 13.11.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-11-13
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1841177954-191011134
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1841177954-19101113
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1841177954-19101113
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Zeitungen
- Bemerkung
- Fehlende Seiten in der Vorlage.
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-11
- Tag 1910-11-13
-
Monat
1910-11
-
Jahr
1910
- Titel
- Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger : 13.11.1910
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Nummer zu finden. Da» bedeutet dann die Aufforderung an den Dirigenten, eine Zugabe zu gewähren. Seltsamerweise Pflegt der Orche sterleiter diesem Wunsche in den meisten Fäl- len auch wirklich nachzukommen. Daß er eS gern tut, kann ich nicht glauben, denn er mutz doch die Absicht merken, und verstimmt wer den. Oder ist es eine Freude für den Künstler, wenn irgend eine gleichgültige Programmnum mer den lebhaftesten Beifall findet, nur weil sie zufällig die letzte ist, während vorher eine klassische Nummer fast keine Beachtung sand? Wenn ich Dirigent des städtischen Orchesters wäre, würde mein ganzer Programm aus Märchen und Walzern bestehen, natürlich Blech- musik und immer egal forte oder fortissimo! Ich will wetten: nach zehnjähriger Tätigkeit würde mir „von dem dankbaren, kunstsinnigen Publikum Hohen stein-Ernstthals" ein Denkinal gesetzt. — Als Platz hierfür käme vielleicht der in Frage, wo man wahrscheinlich in diesem Zeit raum dem „ersten Musikrezensen ten Sachsens" bereits eins gesetzt haben wird. In Oberlungwitz, dem politischen Wetterwinkel am Lungwitzstrand, wurde kürz lich zur Kirchweih wieder allerlei geboten. Und doch gabs Unzufriedene, die zuviel auf einmal verlangen, aber nicht berücksichtigen, daß keine Eiche an einem Tag erbaut ist und kein Rom aus einen Schlag fällt. Höchstens ein portugiesischer König, der heute noch die Krone auf dem Haupte trägt und sie morgen schon an den Nagel hängen mutz. Nun kann er sie bei E. E. Meyer Nachfolger in Gers dorf verkaufen, und ob ihm der etwas dafür gibt, ist noch fraglich. Vielleicht lätzt sich Ex könig Manuel jetzt in Oberlungwitz engagieren. — „Manes" zahlt ihm jede Gage, die er ver langt, denn so eine Attraktion kriegt er sobald nicht in seinen Salon oder auch im „Lamm" könnte er auftreten und man sitzt dann neben der Bühne auf den Emporen, damit er uns nicht sieht, und wo es so heimlich ist und immer Halbdunkel, und kann so schön vor sich hindämmern und an Vergangenes, Gegenwär tiges oder Zukünftiges denken, und die Haus kapelle spielt so melancholische Weisen dazu. Einen „Verkehrsverein" regte kürz lich ein auswärts Wohnender für unsere Stadt an. Ueber den Zweck eines Verkehrsvereins wird meistens viel unrichtiges gedacht und ge sagt. Allein und nur zur Heranziehung der Fremden ist ein solcher Verein nicht da. Ein Verkehrsverein hat auch noch andere Aufga ben. Aus der Bürgerschaft heraus mutz das kommen, mit ihrer Unterstützung mutz «in sol cher Verein entstehen und ihre Sympathien mutz er haben, sonst wird nichts daraus. Denn die Bürger wissen am besten, wo sie der Schuh drückt und wo manches faul ist im Staate Dänemark, und wo Hand angelegt werden mutz, daß es besser wird. Freilich, mit solchen Lichtefsekten wie die nahe Großstadt können wir nicht aufwarten, wenngleich es Leute gibt, die da meinen, daß auch die Insel an der Lungwitzerstraße ihre Reize hat in der Mor gendämmerung und im fahlen Abenddunkel. Besonders am Abend. Da dämmert es dort sehr häufig und die Dämmerschoppen sind sehr zahlreich. Der Neumarkt hat ja auch eine rei zende Umgebung, wie z. B. das prachtvolle Monumentalgebäude die Rathausfiliale, Ver waltungsgebäude 3: die Sparkasse. Dann ist da die ehemalige Pappelschänke, durch die bei jedem kleineren Regen die Abwässer gleich Bergstürzen rasen, ein Meisterwerk der Früh renaissance. Und wer sich an diesen Denkmä lern der Baukunst noch nicht satt gesehen, der wendet seinen Blick in der Richtung nach dem Neustädter Schützenhaus, nach dem historischen „Schönburger Hos", dessen geniale Architektur und altehrwürdiger Verputz geradezu hinrei ßend wirken. Besonders die Malereien an ver schiedenen Häusern der Neustadt bezw. an den unteren Fassaden derselben, würdig des Pinsels eines Knaus, Achenbach und ähnlicher Herrschaften, geben uns einen Begriff von dem in E r n st t h a l herrschenden Kunstsinn. Die städtischen Kollegien haben beschlossen, 300 M. für Reklamebilder Hohenstein-Ernstthals aus zugeben, um hierdurch Fremde herbeizuziehen. Wenn ein geschickter Photograph die eben er wähnten Monumentalbauten photographisch auf nimmt und zu einem Ganzen vereinigt unter dem Titel „Die Monumentalbauten Hohenstein- Ernstthals", dann wird dieses, mit einem Vorworte eines heimischen Poeten versehen, in die Welt wandern und eine wahre Völker- Wanderung nach hier Hervorrufen. Für die Idee verlange ich übrigens von dem in Aus sicht genommenen neuen Verkehrsverein eine Entschädigung in bar oder Naturalien. — Man darf nur nicht geringschätzig von uns denken. Wir haben es mehr innerlich wie äußerlich, aber wir machen eben nicht soviel „her", weil wir bescheidene Leute sind und nicht wie in Glauchau einen Wasserturm als Bismarcksäule Herrichten. Denn ich habe es immer gesagt: Wenn die Leute nur erst wüßten, wie schön es bei uns ist, dann würden die Kapitalisten nicht nach der Schweiz reisen oder gar nach Heringsdorf oder Lichtenstein, sondern sie wür den zu uns kommen und unser Geschäft würde blühen. Aber so! — — — In der Nacht geht es mitunter sonderbar zu und zuweilen nicht mit rechten Dingen. Aber es muß wohl so sein, denn sonst merkte man nicht den Unterschied. Wir sind ja nun nicht verwöhnt, denn wir erleben alle Tage Ueberraschungen: heute wird ein Kaninchen diebstahl verübt, gestern hat man die Lang ohren schon als Braten gesehen und übermor gen ist Generalversammlung vom Sonnabend abendstammtisch in der Gerichtsschänke. Aber da-, was kürzlich hier bei „schlaftrunkener" Zeit passierte, spottet jeder Beschreibung. Hat ten sich da einige hiesige in Chemnitz lernende Herren zusammengefunden und probierten „Be- dllrfnisanstalt". Eine alte Hundehütte wurde mitgeschleppt und ein nicht sichtbarer Geometer richtete das „Häuschen" nach allen Regeln der Kunst. Die nahende Dämmerung machte die sem profanen Treiben zum Glück ein Ende; denn sonst hätten sich vielleicht noch unabseh bare Zwischenfälle ergeben. Daß mit solchen Streichen diesem „dringen den Bedürfnis" nicht genutzt wird, ist Wohl klar. Als einfaches und in Anbetracht der nahenden Stadtverordnetenwahlen auch ange- brachtes Mittel, das geeignet erscheint, die Auf stellung einer Bedürfnisanstalt zu fördern, empfehle ich, jeden der aufzustellenden Kandidaten zu verpflichten, „die Bedürfnisan stalt" mit auf sein Programm zu nehmen. Vorausgesetzt, daß diese so heiß umstrittene Anstalt doch noch nach E r n st t h a l kommt. Die Insel ist nicht zweckmäßig, sagt der Rat, ergo muß sie auf den Neustädter Schulplatz (denn, wenn sie auf den Neustädter Teichplatz gesetzt würde, so käme später noch ein Antrag für die 2. Anstalt auf der Insel) und wenn Du, Bruder Ernstthal, eine Anstalt be kommst, dann will ich, Bruder Hohenstein, als der Erstgeborene zwei Anstalten. So und nicht anders wirds kommen und wer will es schließlich diesem erstgeborenen, kürzlich erst 400 Jahre altgewesenen Bruder verdenken? Ich nicht! Das nennt man dann Lokalpatrio tismus und freundschaftliches Einvernehmen usw. Der Patriotismus ist die Hauptsache und was folgt, das ist das Allgemeine Ehrenzei chen, das noch lange nicht genügend gewürdigt wird, obwohl es schon ziemlich weit verbreitet ist und schon nicht mehr zu den Raritäten ge hört. Etwas seltener ist schon der „Schwarze Adler", der bis jetzt noch nicht bis hierher ge flogen ist. Aber suum jedem, cuique das Seine, ist sein Wahlspruch und so denke ich auch! Denn was einer verdient hat und wenn es noch so wenig ist, die Stadt darf es ihm nicht vorenthalten, sondern muß der Neustadt ihre Bedürfnisanstalt geben und ihr die Spar- kasse lassen, womit ich verbleibe bis zum nächsten Male E r n st von Hohen-Ober. Wenn die Schwalben heimwärts zieh n. Novellette von A. Hinze. (Nachdruck verboten.) Blasses Himmelsblau — durch die klare Luft zieht ein Sommerfaden. Auf den blan ken Blättern der Pappeln spielt die Septem- bersonne. Ueber das Asterbeet hin gaukeln Falter. Doch spärlich nur tönt Vogelgezwit scher. Zuweilen sinkt ein buntgefärbtes Blatt, daran der Tau Perlen gehängt, zur Erde nie der; in der Ferne brauen Nebel. Des Herbstes Nahen — ganz leise erst ist es zu spüren. Noch liegt satte, leuchtende Herrlichkeit über dem Spätsommerbilde und täuscht hinweg über das, was unabänderlich kommen wird. Was kommen wird . . . Professor Hollgreen erhebt sich unruhig vom Schreibtisch. Im Geiste sieht er die Zeit, wie sie kommen wird, vor sich. Oede — Arbeit — Pflichterfüllung. Mit den Schwalben, die fort gezogen sind, geht nun auch sie — ein junges, unbeschütztes Mädchen — hinaus in die ihr fremde Welt. Das silberhelle Lachen wird nicht mehr diese Räume beleben; die schlanke Gestalt im weißen Kleide wird nicht mehr zwischen den Bäumen des Gartens austauchen. Kein dun kelleuchtendes Augenpaar wird zu ihm auf blicken, sich in das seine senken, wenn er nach des Tages Arbeit Erholung im Zimmer ihrer Mutter sucht. Sie geht von hier — sie geht um seinetwillen, geht, weil er sie hier nicht haben wollte. Wie lange war's denn eigentlich her, daß er solch ein Narr gewesen? War's möglich, erst ein Jahr? Hier in seinem Arbeitszimmer war die Un terredung erfolgt, die er mit der Witwe ge pflogen. Ihr Mann, der Ingenieur Lange, war kürzlich gestorben, ohne etwas zu hinter lassen. So war seine Witwe gezwungen, für ihren und ihrer Tochter Unterhalt zu sorgen. Aus ein Zeitungsinserat des Professors Holl green hin, der eine Dame für sein Hauswesen suchte, hatte Frau Lange ihm ihre Dienste an geboten mit dem Geständnis, daß es in Anbe tracht ihrer bedrängten Lage einer Tat der Nächstenliebe gleich wäre, wenn er einwillige. Die Witwe war ihm sympathisch gewesen; ihre ruhig«, bescheidene Art, ihre milde Stimme würde ihn nicht stören bei der Arbeit, es würde sich mit ihr ganz gut auskommen las sen, sagte ihm seine Menschenkenntnis und dies allein hatte entschieden. „Ich würde Sie sofort engagieren, Frau Lange, wenn Sie von Ihrer Bedingung, Ihre siebzehnjährige Tochter mitbringen zu dürfen, abstehen wollten," hatte er erklärt. Sie war sichtlich erblaßt. „Das kann ich nicht, Herr Professor," hatte sie erwidert. „Ist Ihnen die Bedingung nicht genehm, so muß ich auf die Stelle bei Ihnen verzichten. Ich wiederhole, daß Sie die Anwesenheit meiner Tochter in Ihrem Hause kaum gewahr werden würden." Ungeduldig hatte er die Achseln gezuckt. Dann hatte er ziemlich schroff gemeint: „Ge- statten Sie die Frage, meine Dame, weshalb versucht es denn Ihre Tochter nicht, sich, gleich anderen jungen Mädchen, ihr Brot selbst zu verdienen? Heutzutage ist dies selbst bei Be- güterten fast gang und gebe." „Lisa ist hochgradig bleichsüchtig, Herr Pro fessor; der Arzt sagt, daß sie vorläufig nicht leistungsfähig ist. Daher —" Ohne Empfindlichkeit war die Erklärung gegeben worden. Der Blick der Sprecherin war zum Fenster hinausgeglitten; schier sehnsüchtig sah sie aüf das satte, leuchtende Spätsommer bild draußen. Wie heute spielte die Septem bersonne auf den blanken Blättern der Pap peln, lag der Tau glitzernd aus den weiten Rasenmatten, gaukelten Schmetterlinge durch die wunderbar klare Lust. Hier — in dieser herrlichen Umgebung — könnte das Kind, die Lisa, genesen. Der Professor hatte ihren Gedankengang er raten. Beglückungsideen waren nicht seine Sache. Doch tat' die bedrängte Frau ihm leid. Einem Impulse folgend, erklärte er plötzlich: „Ich engagiere Sie hiermit, Frau Lange. Nur bitte ich, Sorge zu tragen, daß meine Ruhe, seitens Ihrer Tochter, nicht gestört wird." Schon in der nächsten Stunde hatte er seine Einwilligung bereut. Mit einer zornigen Auf wallung gedachte er des Störenfrieds und Eindringlings in sein Witwerheim. Schon der Gedanke, das kränkliche Geschöpf künftig im Hause zu haben, machte ihn nervös. Ein völ liges Ignorieren ließ sich ja doch nicht durch führen, ohne nicht die Gefühle der Mutter zu verletzen. Und Stoff zum Gerede würde die Sache auch geben,, wenn er sich auch erhaben darüber fühlte und es geradezu lächerlich sein würde, zwischen diesem siebzehnjährigen Kinde und ihm, dem 44jährigen, Konsequenzen zu ziehen. Er beschloß, der Witwe zu sagen, er wün sche den Kontrakt zu lösen, sobald sie eine an dere Stelle gefunden habe. Dieser Vorsatz wurde vorläufig noch nicht ausgesührt. Denn Tage, ja eine Woche ver ging, ohne daß der Professor das Streitobjekt, die junge Vaterlose, zu Gesicht bekam, noch etwas von ihr hörte, Frau Lange aber nahm sich des Hauswesens mit Umsicht und großem Geschick an, so daß es beleidigend gewesen wäre, ihr zu bedeuten, sie solle bald wieder gehen. Mit jedem Tage fühlte der Professor sein häusliches Behagen wachsen, er nahm dies trotz seiner angestrengten Tätigkeit wahr, die letztere aber machte, daß er schließlich ver gaß, daß im Hause ein Wesen existierte, das er am liebsten ins Pfefferland gewünscht. Er war daher frappiert gewesen, als sich ihm eines Tages, als er heimkehrte, ein ihm ungewohnter Anblick bot. Es war um die siebente Abendstunde. Glutrot versank die Sonne im Westen und warf ihre letzten Strah len in den Garten. Dort stand unter den Zweigen einer Esche, die der Herbst mit ro ten Korallenbeeren geschmückt, ein junges Mäd chen im schlichten, weißen Kleide. Ein schwar zes Sammetband umschloß die feine Taille. Sie hielt die schlanken, weißen Arme, von welchen die Aermel zurückgefallen, unter dem Haupt verschränkt und blickte traumverloren in den Sonnenglanz. Ein Sonnenstrahl um spielte die anmutige Gestalt, das holde Gesicht, und gab dem ganzen Bilde einen zauberischen Glanz. In der nächsten Minute erklang des Pro fessors Stimme: „Wovor fliehen Sie Fräu lein? Doch nicht vor mir? Wer vermöchte Wohl der Jugend den Genuß der freien Na tur zu mißgönnen? Ich bitte sehr, hier zu verweilen, so ost Sie mögen." Das klang nun freilich anders als die Be dingungen, die Hollgreen der Mutter gemacht und Frau Lange war daher nicht wenig über rascht, als sie bald darauf den Professor und ihre Lisa in lebhaftem Gespräch antraf. „Sie sollen schon Ihre roten Wangen wie der bekommen, mein liebes Fräulein!" scherzte er, indes sein Blick mit unverhehltem Entzük- ken über ihr von leichter Blässe überhauchtes Antlitz glitt, daraus zwei dunkle Augen ihn ernst und unergründlich anblickten. „Hoffent- lich haben wir recht lange einen sonnigen Herbst, damit Sie sich erholen können! Nun, und im Winter . . . Was meinen Sie, liebe Frau Lange, eine Schlittenfahrt bei sonnigem Frostwetter erfrischt Leib und Seele, meine ich' gelt?" Von nun an begann für den Professor ein neues Leben. Er entdeckte plötzlich, daß er für seine Jahre eigentlich viel zu ungesellig gelebt hatte. Er verbrachte jetzt seine Muße stunden in der Gesellschaft der beiden Damen und gratulierte sich insgeheim zu der Aqui- sition, die er hier gemacht l/atte. Sich mit ei ner so gebildeten Dame, toi« Frau Lange war, zu unterhalten, war wirklich angenehm, und wenn Lisa ihm den Grog bereitete, oder mit ihrer weichen Stimme am Piano sang, wünschte er sich nichts besseres. Erreichtes aber genügt bald nicht mehr. Hollgreen mußte dies an sich erfahren. Wenn er Mutter und Toch ter im Schlitten in den verschneiten Wald führte, wenn die Frostluft auf Lisas Wangen Rosen malte und ihm ein entzückendes Leben aus ihren Augen entgegenstrahlte und ihm die wiederkehrende Gesundheit verriet, gestand er sich, daß ein Tag kommen könne, wo kein Kontrakt imstande war, dieses wonnige Leben seinem Dasein zu erhalten, der Tag, wo ein anderer seine Hand nach Lisa Lange aus strecken würde. Warum sollte er nicht dieser sein? Mit der Schwalbe im Frühling war ihm der Gedanke gekommen, und wie ein Blitz die nächtliche Landschaft erhellte, wurde es ihm zum klaren Bewußtsein, daß er das Mädchen liebte — unendlich liebte. Und Lisa? Sie sorgte für ihn wie eine gute Tochter; sie wollte offenbar abtragen, daß er ihr eine Freistatt gewährte. Sie ward niemals rot, wenn er zu ihr sprach, oder wenn bei der Mahlzeit beim Reichen einer Schüssel ihr« Hände sich berührten. Was wußte dieses junge Kind denn auch von Liebe? Er wollte sie lehren, ihn zu lieben! Und die köstlichste Zeit des Jahres, die Zeit, wenn di« Nachtigall singt, wenn die Rosen blühen und die warmen Lüfte das Blut rascher durch die Adern treiben, sollte die Lehrzeit sein. Zum Herbst, wenn Lisa das achtzehnte Le- bensjahr vollendete, wollte er das entscheidende Wort sprechen. Ob es ihm gelungen war, ihr Herz zu ge winnen? Noch bevor er hierüber im Klaren, war etwas geschehen, das ihn zum Handeln zwang. Soeben hatte Frau Lange ihm mitgeteilt, daß Lisa bereits morgen sortgehe. Es habe sich ihr ganz plötzlich eine günstige Stelle bei einer einzelnen Dame geboten. Dieselbe reise jetzt in ihre Heimat, Schlesien, zurück und nehme das Mädchen mit. „So plötzlich kommt das?" hatte er hervor gestoßen und seine Stirne hatte sich entfärbt. „Warum haben Sie nur so hinterrücks gehan delt, Frau Lange, mir nichts davon gesagt, daß Fräulein Lisa beabsichtige . . . Ich hätte doch -" Er stockte. Die Zuhörerin schien nicht min der verlegen wie er selber. „Es war doch etwas Selbstverständliches, daß meine Tochter, sobald sie genesen — und das ist sie, Gottlob! — sich ihren Unterhalt selbst erwirbt," hatte sie sich verteidigt. „Und, wie gesagt, es machte sich ganz plötzlich—" „Ich habe Ihrer Tochter noch etwas zu sagen, verehrte Frau Lange, — wo finde ich sie?" hatte Hollgreen unumwunden erklärt. Die Verlegenheit der Befragten hatte sich gesteigert. Dennoch kam es unverzüglich: „Lisa ist in den Wald gegangen; sie will Abschied nehmen von ihrem Lieblingsplatz, der Freund- schastseiche." Dieses Zwiegespräch war vor einigen Mi nuten gewesen. Jetzt langte der Professor nach seinem Hut. Er rang mit einer heftigen Er regung. Das Wort „Abschied" brannte ihm in der Seele. Ein längstvergessenes Lied klang ihm im Ohre wieder. Eine alte schwermütige Weise und ihr Text: „Wenn die Schwalben heimwärts zieh'n, Wenn die Rosen nicht mehr blüh'n, Wenn der Nachtigall Gesang Mit der Nachtigall verklang; Fragt das Herz in bangem Schmerz: Ob ich dich auch wiederseh'? Scheiden, ach Scheiden, Scheiden tut weh'!" Dort westlich, wo das Abendrot die Wipfel der Bäume in Purpur tauchte, lag der Wald — dort würde er sie finden. Wie manches Mal hatte er sie von dort kommen sehe» mit heißen Wangen und leuch tenden Augen, gerade, als habe der Wald ihr seine Wunder offenbart. Jetzt sollten sie sich ihm offenbaren, des Waldes Wunder, des Le bens lieblichstes . . . Wie eilig er es hatte, sein Glück sich ein zuholen. So eilig, als fürchte er, es könne zwischen heut und morgen ein anderer es ihm vorwegnehmen! Das Abendrot verglomm. Matter wurden die rot-violetten Tinten am Horizont; wie mit zarten Schleiern breitete es sich über die far benprangende Landschaft, denn die Nebel be gannen zu steigen. Das leise Rauschen der Bäume ging durch die Waldeinsamkeit. Am knorrigen Ast mitun ter ein spinnwebseiner Faden; in den Laub kronen ein Raunen wie Elfengeflüster. Ein Tannenzapfen, der mit leisem Aufschlag zur Erde fällt, und im Gestrüpp das Zirpen der Grillen. Abendkühle und Tannennadeldust. Die Poesie des Waldes berauschte heute förmlich den Professor; mit der Ungeduld ei nes liebenden Jünglings eilten seine Gedan ken den Minuten voraus, malte er sich im Geiste die nächste Stunde aus. Ein süßes Feuer durchströmte seine Adern — noch einmal breiteten längstvergessene wonnige Gefühle, brei teten Jugend und Liebe ihre Schwingen über ihn aus. Die Freundschaftseiche war der schönste Baum des Waldes. Der Volksmund erzählte, daß einst unter ihren Zweigen zwei befehdete Fürsten einen Freundschaftsbund geschlossen hatten, weshalb man sie fortan die Freund- schastseiche nannte. Liebesleutchen wählten den Platz gern zum Stelldichein, oder eine schwär merische Seele. Dort, wo ein Tannenrondel den Platz vor Späheraugen schützte, ragte hinter den Tannen die Freundschaftseiche empor. Hollgreens Schritt war langsam gewor den; sein Herz schlug laut, indes sein Fuß leise auftrat, denn zwischen den Bäumen sah er ein weißes Kleid schimmern. Das Schwei gen im Walde unterbrachen plötzlich flüsternde Stimmen. Es war kein Elfengeflüster; je mehr sich der Professor der Eiche näherte, desto deut licher nahm er die Stimmen war. Plötzlich blieb er stehen und sein Gesicht entfärbte sich. „Weißt Du wohl, mein Lieb," sagte eine jugendliche Männerstimme, „daß ich auf Pro fessor Hollgreen eifersüchtig war? Ich fürch tete, er würde meine Rose pflücken wollen." „Wie kannst Du nur so etwas denken, Gert?" klang es unter glücklichem Lachen zurück. „Der Professor ist beinahe so alt, wie mein Papa war; er ist ja sehr gütig, aber lieben könnte
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)