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WEM-GOW Anzeiger Tageblatt für Kohensteln-Ernstthal, Oberlungwitz, Gersdorf, Kermsdors, Bernsdorf, Wüstenbrand, Ursprung, Mittelbach, Kirchberg, Erlbach, Langenberg, Falben, Langenchursdorf, Meinsdorf, Küttengrund re. Der »Kohenjtein-Ernjtthaler' Anzeiger erscheint mit Ausnahme der Sonn- und Festtage täglich abends mit dem Datum des folgenden Tages. Vierteljährlicher Bezugspreis bei freier Lieferung ins Kaus Mk. 1.50, bei Abholung in der Geschäftsstelle Mk. 1.25, durch die Post bezogen (außer Bestellgeld) Mk. 1.50. Einzelne Nummern 10 Pfg. Bestellungen nehmen die Geschäfts- und Ausgabestellen, die Austräger, sowie sämtliche Kaiser!. Postanstalten und die Landbriefträger entgegen. Als Extra- beilage erhalten die Abonnenten jeden Sonntag das »Illustrierte Sonntagsblatt-. — Anzeigengebühr für die «gespaltene Korpuszeile oder deren Raum >2 Psg., für auswärts 15 Psg.; im Reklameteil die Zeile 30 Psg. Sämlliche Anzeigen finden gleichzeitig im »Oberlungwitzer Tageblatt' Ausnahme. 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Schon in der Kommission ist eine Reihe von ihn.n seitens der Vertreter deS Bundesrats als unannehmbar bezeichnet worden. Von anderen Anregungen der Kommission ist be kannt, daß ihnen im Reichsschatzamle durch Aus arbeitung besonderer Ersatzsteuerentwürfe Folge ge geben werden soll. Bevor also das Plenum in die zweite Beratung der Finanzvorlagen eintritt, wird der Eingang dieser Entwürfe abzuwarten und deren erste Beratung vorzunehmen sein. Viel leicht ist, da die zugrunde liegenden Materien in der Finanzkommisston bereits erörtert worden sind, alsdann eine kommissarische Beratung der Ersatz- steuerentwüefe vermeidlich, so daß dann das ge samte Material der Reichsfinanzreform in der zweiten Plenarberatung zusammengpfaßt werden kann. In einigen liberalen Blättern wird darauf hingedrängt, daß die liberalen Fraktionen, die be dauerlicherweise den Entschluß gefaßt hatten, sich von den Verhandlungen der Finanzresorm fernzu halten, seitdem die Konservativen mit dem Zentrum die Führung übernahmen, auch fernerhin an der „konservativ-klerikalen Reform" nicht teilnchmen sollen. Wir würden eine solche Stellungnahme der Linken für falsch halten. Wir hoffen, daß im Plenum von vornherein ein anderer, versöhnlicherer Ton herrschen wird, als er leider in der Kommission geherrscht hat. Go wie der Verlauf der Kommis- sionSberatungen schließlich sich gestaltet hat, werden die Plenarverhandlungen auf keinen Fall sein dürfen. Das würde nicht im Interesse der Libe ralen, nicht in dem deS Parlamentarismus und nicht im Interesse der Nation liegen." Nachdem das Blatt den Liberalen wie den Konservativen zur Versöhnlichkeit geraten hat, fährt es fort: „Der Bundesrat wird bei der Vorlage der neuen als Ersatz dienenden Steuergesetzentwürfe jedenfalls die Gelegenheit bieten, daß die Parteien auf der neuen Grundlage einander nähertreten und Vereinbarungen treffen können. Möchten die rechtsstehenden wie die linksstehenden Gruppen sich wieder zusammenfinden und in gemeinsamer Arbeit, an der ruhig auch das Zentrum teilnehmen kann, das große nationale Reformwerk zu Ende führen." Zum Schluß heißt eS in dem Artikel der „Leipz. Zlg": „Die Aufg abe, eine annehmbare all gemeine Besteuerung des Besitzes zu schaffen, hat demnach die Kommission nicht gelöst. Es wird nun daraus ankommen, daß die neuen Sleuervoc- lagen der verbündeten Regierungen Rat schaffen und die Lösung dieser Aufgabe vorwärtSbringen, und daß das RüchstagSplenum sich dabei zugäng lich zeigt. Die seitens der Regierungen von An fang an vertretene Meinung, daß eine andere all gemeine und zugleich wenig drückende, gerechte Be- sttzsteuer als die Nachlaß- oder Erbanfallsteuer nicht erfunden werden könne, ist durch die ganze Ent wicklung der Finanzresorm bestätigt worden. Es kann ruhig anerkannt werden, daß die Gegner der Erbschaftssteuern mit größtem Eifer bemüht ge wesen sind, Ecsatzsteuern zu suchen; aber bei ruhiger und sachlicher Betrachtung der Dinge werden auch die Gegner der Erbanfallsteuer bekennen müssen, daß schließlich doch nichts anderes übrig bleiben wird, als der Meinung der Regierungen deizutreten und sich mit der Erbanfallsteuer, bei d r ja die meisten Bedenken, die gegen die Nach laßsteuer erhoben worden sind, Wegfällen, zu be freunden. Die Konservativen haben den festen Willen, 100 Millionen Mark neuer Steuern auf den Besitz zu legen, nicht bloß ausgesprochen, sondern auch in ernster und mühevoller Arbeit be tätigt; sie werden sich hoffentlich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß ihr Ziel, die Erbanfallsteuer entbehrlich zu machen, nicht erreicht worden ist und überhaupt schwerlich erreicht werden kann. Der Wille, 100 Millionen vom Besitz aufzubri. gen, ist demnach allseitig vorhanden. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Wir hoffen noch immer, daß es gelingen wird, einen gangbaren Weg zu finden, auf dem das nationale Werk der Neuord nung unserer Reichsfilianzen einem guten Ende zu- geführt werden kann." * * * Die Tage bis zum Beginn dec Plenarverhand lungen des Reichstags will Fürst Bülow zu einem nochmaligen Versuch, eine Einigung über die Finanzreform zu erzielen, benützen. Zunächst werden am kommenden Dienstag die Finanzminister der Einzelstaaten in Berlin zusammentreten, um zu den Beschlüssen der Finanzkommission Stellung zu nehmen. Der Reichskanzler hat auch die Führer der Blockparteien zu erneuten Verhandlungen zu sich eingeladen. Es besteht angeblich die Hoffnung, den gemäßigteren Teil der Konservativen für die Erbanfallsteuer zu gewinnen und damit die Ver abschiedung der Reform durch die Blockparteien zu ermöglichen. Gleich den übrigen Burdcsfürsten soll eS auch der Kaiser für eine Ehrenpflicht hallen, die Erbanfallsteuer durchzusetzen. Fürst Bülow soll dem Kaiser schon in Wiesbaden erklärt haben: „Mein Portefeuille steht Eurer Majestät zu jeder Stunde zur Ve fügung, wenn durch meinen Rück tritt eine Klärung der Lage erzielt werden kann.' Das leitende Organ der konservativen Partei rühmt die Haltung desReichSschatzsekretärS während der Kommisstonsverhandlungen und meint, daß an den Rücktritt deS Herrn Sydow in keinem Falle zu denken sei. Weiter heißt es: Die entschlossene und entschiedene Mitarbeit deS Reichsschatzamts bei der Gestaltung der Kommissionsarbeiten, die bis zum letzten Augenblick in der Finanzkommission zu beobachten gewesen ist, hat für alle objektiv Ur teilenden den klaren Beweis erbracht, daß Schatz sekretär Sydow entschloßen und gewillt ist, die ihm im Februar 1908 durch allerhöchstes Vertrauen übertragene nationale Aufgabe der Ordnung der Reichsfinanzen unter allen Umständen bald zu einem weite Kreise des deutschen Volkes befriedigenden Abschluß zn bringen, ohne Rücksicht auf irgend welche vorübergehende Parteikonstellationen, denen gegenüber er sich immer streng verfassungsrechtlich vollkommen freie Hand gewahrt hat. Der Protestkundgebung der Handelskammern gegen die von der Finanzkommission angenommenen neuen Steuervorschläge des Zentrums und der Konservativen werden weitere Resolutionen folgen. Zu einer Riesenprotestversammlung aller gewerb- lichen Stände wird sich die von dem Zentraloerband des deutschen Banken- und BankierverbandeS für den 12. d. M. geplante Veranstaltung auswachsen. Auf Einladung des Verbandes werden an der Kundgebung Vertreter der verschiedensten Ecwerbs- zweige teilnehmen. Ein solcher Mafsenprotest kann nicht unbeachtet bleiben. Evangelisch-sozialer Kongreß in Heilbronn. Am Mittwoch nachmittag sprach auf dem evangelisch-sozialen Kongreß in Heilbronn Lic. Tchneemelcher-Berlin über die „geistigen Strö mungen in der deutschen Gewerkschaftsbewegung". In der Debatte äußerte sich Staatssekretär a. D. Graf Posadowsky über Sozialpolitik und Sozial- demokratie. Er nahm Bezug auf die angebliche Äußerung eines westfälischen Großindustriellen, daß die christlichen Gewerkschaften noch viel schlimmer seien als die Sozialdemokraten und er klärte, dies sei die Meinung jener Leute, die die Berechtigung einer Arbeiterbewegung überhaupt be- treiten. In der Sozialdemokratie und den mit hr zusammenhängenden Gewerkschaften ist der Kampf gegen die Monarchie ein großer Fehler. Die Praxis beweist, daß am meisten für die Ar biter in von Monarchen beherrschten Ländern ge- chieht. Länder mit anderer Slaatsform verfallen leicht der GJah, daß eine Partei an di« Spitze ' kommt. Auch die kollektivistische Idee deS Sozia lismus ist undurchführbar, denn die Menschen sind keine Engel. Um den Bestrebungen der Sozialde mokratie Abbruch zu tun, müssen wir di« christ liche Gewerkschaftsbewegung mit allen Mitteln unterstützen. Drr Kongreß erreichte am Donnerstag sein Ende. Der Gegenstand der Verhandlungen war daS Thema: „Kirche und Arbeiterstand." DaS Hauptreferai hatte Prof. DrewS, der auSsührte: Gegenüber der Sozialdemokratie darf man sich keinem falschen Optimismus hingeben. ES ist be- achtenswert, daß allein in Berlin im Jahre 1907 insgesamt 7000, im Jahre 1908 10000 Arbeiter aus der Kirche australen. Aber auch zu einem ! übermäßigen Pessimismus ist noch kein Anlaß. Die Kirche hat in den ersten Jahren der sozialde mokratischen Entwickelung nichts getan. Man ließ die Dinge gehen. Die evangelische Kirche ist auS ihrem Schlafe erst durch Adolf Stöcker erweckc worden. Stöcker hat aber zugleich den Gegensatz zwischen Kirche und Sozialdemokratie verschärf!. Ec hat die Aufgabe der Kirche erschwert dadurch, daß er der großen Frage „Christentum und Wirt- schaftsordnung" daS Problem gegenüberstellte „Kirche und Politik". Als Friedrich Naumann für die Arbeiterbewegung eintrat, da hoffte man auf den Anbruch einer besseren Zeit. ES ist notwendig, daß die Kirche sich nicht an eine einzelne Partei verkauft. Die Kirche muß den ihr anhaftenden Klaffencharakter abstreifen. Die Kirche muß für die Arbeiterbevölkerung größere- Verständnis ge winnen. Auch muß die Kirche alle Kräfte ein- setzen, um unter den Arbeitern und den Gebildeten größere Achtung vor dem geistlichen Stande zu er wecken. Denn in dem evangelischen Pfarreistande liegt nicht zuletzt das Schicksal der evangelischen Kirche. In der Diskussion ergriff u. a. Prof. Rade- Marburg das Wort und führte ouS, er liebe seine Kirche und bedauere umsomehr, daß sie auf allen Gebieten so rückständig sei. Mit der Revision des Religionsunterrichtes warte man, bis es nicht mehr wcitergehen könne. DaS sei Heuchelei. Man kü'fe heute ein sehr freigeistiger Theologe, aber man dürfe nicht sozial sein. Nach weiterer Dis kussion wurde eine Resolution angenommen, in der der Wunsch zum Ausdruck kommt, daß die Tätigkeit der evangelisch-sozialrn Vereinigung in Sachsen auch auf andere Länder ausgedehnt werden möge. Zum Oct der nächsten Tagung wurde Chemnitz gewählt. Darauf wurde dec Kongreß unter den üblichen Dankesreden geschloffen. Am Mittwoch abend sand noch eine von dem evangelischen Arbeiterverein veranstaltete Volksver- Der Rattenfänger. Roman von M. Kneschk e-S chönau. 1ö. Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) Dieser Anblick hatte etwas Beängstigendes sür Marie-Agnes. Sie atmete schwer und strich sich daS von der feuchten Last gelöste Gelock aus der Stirn zurück. „Was ist das nur? ' dachte sie be drückt. „Ein unheimliches Angstgefühl preßt mir das Herz zusammen, so, als ob mir hier etwas Schreckliches zustoßen sollte! Sollte das Heimweh sein? ' — Aber nein, ruhig schlug ihr Herz bei dem Gedanken an den fernen Gatten. Sie sah ihn im Geiste in dem großen Wohnzimmer sitzen, die Zeitung vor sich und Tante Molchen emsig um ihn beschäftigt, Butterbrote streichend, Eier abschälend, den selbst bei der Abendmahlzeit für sie unentbehrlichen Kaffee in die großen Taffen mit den geschmacklosen Aufschriften eingießend, nein — diesi« Bild vermochte keine Sehnsuchlsgedanken in ihr zu erwecken. Sie war froh, der spießbürger lichen Enge daheim entrückt zu sein und hätte sich hier bei dem alten, vornehmen Herrn und der lieben Freundin unbeschreiblich wohisühlen können, — ja wenn eben dieses törichte Gefühl im Herzen, die drohende Bergkette, und das Getöse der wilden Ache, das bis hierherauf vernehmbar, nicht ge wesen wäre! „Ach was," sagte sie endlich halblaut vor sich hin und schloß die Balkontür, „ich bin nervös von den Strapazen der Reise! Die Luftveränderung, die fremde Umgebung wirkt auf mein Gemüt ver stimmbar. Morgen lache ich über daS alberne Gefühl!" Rasch entkleidete sie sich und suchte ihr Lager auf, doch der Schlaf floh ihre müden, brennenden Augenlider. Sie hörte die elfte Stunde schlagen, Hella ihr Zimmer betreten und bemerkte deutlich, -daß diese lauschend ein Weilchen an ihrer Tür verharrte. Doch sie stellte sich schlafend, sie trug kein Verlangen nach Unterhaltung mit der lebhaften Freundin. Endlich erbarmte der Schlaf sich ihrer, doch wirre Träume ängstigten sie auch dann noch und mehr als einmal fuhr sie erschreckt empor und lauschte mit wildklopfendem Herzen dem in der Stille der Nacht doppelt unheimlichen Rauschen der Ache. 6. Kapitel. Am anderen Morgen regnete es in Strömen, und fröstelnd fand man sich am Kaffcetische zu sammen. Das Kaminfeuer, welches die fürsorgliche Wirtin hatte anzünden lassen, wurde mit großem Behagen begrüßt, man konnte es brauchen, die Temperatur war bedeutend gesunken und das Thermometer an der Terrafsentür zeigte kaum sechs Grad über Null. Herr von Normann hatte auch eine schlechte Nacht gehabt. Die böse Gicht hatte ihm wieder viele Schmerzen bereitet, und schwer mußte er sich auf den Arm des alten Christian stützen, als er zum Frühstück aus feinem Schlafzimmer herüber gehumpelt kam. Auf dem Gesicht deS Dieners spiegelte sich neben herzlichem Mitleid doch ein Zug leisen Triumphes, denn — hatte er nicht wieder einmal recht gehabt mit seiner Prophezeiung? Während Marie-Agnes und der Baron sich gegenseitig ihr Leid klagten, ließ sich Hella daS Frühstück herrlich schmecken. Sie hatte geschlafen wie ein Murmeltier, hatte Hunger wie ein Wolf u-.d war trotz des grauen Geriesels da draußiN ver gnügt und lebendig wie ein Eichkätzchen. Während des Frühstücks war der Postbote er- schienen und Christian überreichte auf silberner Schale, außer den täglichen Zeitungen für Herrn von Normann, auch einige Briese für Hella und Marie-Agnes. Erstere überflog rasch die wenigen Zeilen des Kartenbricfes, mit denen ihr Gemahl seine glückliche Ankunft und daS. Wohlbefinden seiner Rennpferde anzeigte. „Kurz und bündig wie immer!" rief sie lachend. „Nun, er soll sich über zu lange Episteln meinerseits auch nicht zu beklagen haben. Doch, hilf Himmel, Marie-Agnes! Was hast denn Du da für lange Schreibedriefe! Ich glaube gar, Tante Molchen hat sich dazu ausgeschwungen, ihre Sehnsuchtsgedanken nach Dir in Versen der Nachwelt zu überliefern?' „O nein," erwiderte Marie-AgneS halb lachend, halb ärgerlich. „Verse sind daS nicht, aber Mo ralpredigten ! Was Dich zu dieser Annahme ver anlaßt, sind gewiß die breiten Ränder, rechts und links am Briefbogen, aber das ist nur eine Ange- wohnheit der guten Tante, über deren Bedeutung ich mir früher auch den Kops zerbrochen, bis Götz mich darüber ausklärte. Die Ränder sind nämlich für Nachschriften bestimmt, doch ehe sie soweit kommt, sie auSzusüllen, überfällt sie gewöhnlich der Schreibkrampf und sie muß ost mitten im Satz schließen. Wenn Dich übrigens die Lektüre dieser vermeintlichen Verse interessieren sollte, dann bitte!" Sie schob Hella den Brief hin und vertiefte sich nochmals in das ebenfalls sehr lange Schreiben ihres Gatten. Es waren liebe, treue Wo-le, die er schrieb, aber sie atmeten ordentlich die hausbackene Lange weile deS heimischen GutShaujeS aus. Die Sorge um ihr körperliches Befinden und die dringende Bitte, sich ja alles das anzutua, waS Geld er möglichen kann, waren gewiß rührend, aber die Form, in der beides ausgesprochen, war und blieb nun einmal philisterhaft. Hella hielt sich indessen die Seiten vor Lachen über Tante Malchen vorwurfsvolle Sentenzen. Die gute Dame hatte sich über Marie-Agnes Depesche, die die glückliche Ankunft in München meldete, zuerst zu Tode erschreckt und dann wütend ge ärgert. Sie verbat sich ziemlich energisch dergleichen Allotria. Ein ordentlicher, langer Brief wäre b.ffer am Platze gewesen, als solch Telegramm, bei welchem man ein Unglück vermuten und auS dess.n paar Worten man gar nicht ersehen könnte, wie es ihr ginge und waS sie treibe. „Marie-AgneS, nun setze Dich ober oitisZim« an den Schreibtisch und berichte haarklein, was Du gesehen und gehört, nicht zu vergessen, waS Du in den fünf Tagen gegessen und getrunken hast!" ries Hella beschwörend. „Väterchen, den Bries mußt Du lesen ! Du erlaubst doch, Liebling?" Marie-AgneS, die sich seufzend vom Tisch er- hoben, nickte stumm und verließ mit dem anderen Briese daS Zimmer. Kopfschüttelnd sah ihr Herr von Normann, der sie bei ihrer Lektüre heimlich beobachtet, nach. „Gehe ihr nach, Hella! Sie sah erbarmungS- würdig blaß und traurig aus! Geh, suche sie aus zuheitern." (Fortsetzung folgt.)