Volltext Seite (XML)
204, 2. September 1907. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 8563 organisiert oder selbst den Einzelverkauf übernimmt, ein Zu stand, dem wir jetzt hier überall in den Brennpunkten be gegnen. Herr Ruat, ein wohlbekannter Buchhändler in Marseille, hielt letzthin in Paris einen Vortrag über den französischen Buchhändler in der Provinz; es dürfte nicht uninteressant sein, die Ansichten dieses zuständigen Fachmannes kennen zu lernen. Es fragt sich zuerst, wieviel Buchhändler es wohl in der Provinz gibt, — da es meines Wissens eine offizielle Statistik hierüber nicht gibt — die Adressenbureaus nennen in ihren Katalogen ca. 4—5000 Firmen —, also eine durchaus nicht unberechtigte Frage. Manche Verleger in Paris, sagt er, sind der Ansicht, daß dort überhaupt nicht mehr Häuser existieren, als sie zu Kunden haben. In den sechs Departe ments, die den Wirkungskreis Herrn Ruats umfassen, zählt er 1400 mehr oder minder bedeutende Bücherhändler, von diesen seien etwa 400 als eigentliche Buchhändler zu be zeichnen, da sie Bücher in Kommission beziehen und somit ihr Interesse bezeugen, auf dem einen oder dem andern Gebiete der Literatur fortlaufend unterrichtet zu sein, um sich dafür zu verwenden. Die Zahl der eigentlichen Buchhändler sei aber infolge verschiedener Gründe im Abnehmen begriffen. Die Konkurrenz der Großbuchhand- lungen habe die Kundschaft der Buchhändler in den kleinen Städten geschwächt. Bei dem System der öffentlichen Liefe rungsvergebung durch die Behörden und der Zuschlagerteilung an den billigsten Lieferanten hätten nur die großen Firmen ihre Angebote einreicheu können, dank dem Extrarabatt von zehn Prozent, den sie von den Verlegern bei der Abnahme einer größern Anzahl von Exemplaren erhalten. Ein solches Haus, das früher einen Jahresumsatz von 50000 Frcs. hatte, verkaufe jetzt für 500 000 Frcs.; es seien dadurch aber 20 bis 50 kleine Buchhändler ruiniert worden, denen man die 450 000 Frcs. abgenommen habe und denen jetzt die Kunden fehlten, die bei ihnen ihren Bedarf sowohl an Papier als auch an Büchern früher gedeckt hätten und ihnen zu leben gestatteten. Für den Verleger sei das eine Geschäftsver schiebung, aber offenbar keine vorteilhafte; denn ein Haus, das einen Umsatz von 500 000 Frcs. erreiche, gewinne durch Extrarabatt 50 000 Frcs., die es dazu anwende, die weniger begünstigten Kollegen zu bekämpfen und deren Ruin es erreiche. Der Absatz der sogenannten Geschenkbücher sei durch den Verkauf dieser Literatur in den Warenhäusern fast ruiniert; viele Buchhändler in den kleinen Städten führten diese Werke garnicht mehr; bei andern, die sie beibehalten hätten, gehe der Verkauf von Jahr zu Jahr zurück Die Geschmacksverrohung des Publikums sei eine Folge der Ver armung des Buchhändlers (?), und dieser sei außerdem noch durch den Zeitungshändler bedroht, der bald den Verkauf der Büchernovitäten im allgemeinen, sowie der Schlager des Tages, der Prämienbücher und alles, was sich sonst leicht verkaufe, monopolisieren und es an die Stelle der schönen, würdigen Bücher von ehemals setzen werde, die den Stolz und den Reichtum des französischen Buchhandels bildeten. Etwas wenigstens könnte der Buchhändler, ungeachtet des Verfalls des Geschmacks, vielleicht noch an den verschie denen Serien-Publikationen verdienen, die infolge des Wett bewerbs unter den Verlegern massenhaft herausgegeben werden — Publikationen zu den verführerischsten Preisen, die aber häufig eine Verschlimmerung in der Geschäftskon kurrenz herbeiführten. Herr Ruat spricht dann von einem Verkaufsring der billigen Revuen und populären Publikatioyen. Große Provinzialblätter hätten ein Konsortium gebildet. Dieses versuche, sich das Monopol für den Verkauf zu sichern, und dränge die Verleger, ihnen zu Bedingungen zu liefern, die ihnen in Marseille gestatteten, zum Verlegerpreise oder gar noch billiger zu liefern. Geschickte Abkommen mit den Eisen bahngesellschaften brächten ihnen außerdem den Vorteil, ihre Sendungen mit den Postzügen zu expedieren, obwohl die Ware durchaus nicht den hierfür verlangten Charakter trage. Das seien Schritte, die darauf hinführten, sich das Monopol für den Verkauf zu sichern. Man dürfe darauf gefaßt sein, daß dieses Konsortium in vielleicht nicht allzulanger Zeit selber Bücher verlegen und sich so aller Zwischenhändler entledigen werde. Die Hindernisse und Schwierigkeiten, mit denen der Buchhändler zu kämpfen habe und die die Sicher heit des Handels gefährdeten, seien aber nicht unüberwindlich, und alle Maßnahmen, die getroffen werden könnten, um einem Übel abzuhelfen, das nicht unheilbar sei, beruhten auf einer freien und klaren Aussprache zwischen den Nächst beteiligten, also den Buchhändlern und den Verlegern. Man könne frei heraus sagen, daß die Sortiments buchhandlungen, die in Frankreich jetzt noch existierten, ihre Existenz der Regelung der Rabattfrage, dem Tarif für den Detailverkauf verdankten; es sei nur dieser Regelung zuzuschreiben, daß es den Verlegern gelungen sei, die Zahl ihrer Abnehmer in der Provinz zu erhalten und zu erhöhen, nachdem sie dadurch deren Interessen gewahrt hätten. Es will Herrn Ruat nicht weniger wichtig erscheinen, daß die Verleger einen Rabattunterschied zwischen den Buch- und den Bücherhändlern anerkennen. Mit einem Worte, es dürfe dem regelrecht feinen Handel ausübenden Sortimenter keine unlauterre Konkurrenz gemacht werden, woher sie auch immer komme; es sei Ehrensache und eignes Interesse der Mehrzahl der Verleger, hierüber zu wachen. Die Regulierung des Engros-Verkaufs müsse ernstlich vorgenommen werden. Die Abschaffung des Extrarabatts bezwecke nach der Ansicht der meisten nur die Beseitigung einer Vergütung, die sich dem Buchhandel als nachteilig er wiesen hätte; sie könne aber ohne den geringsten Schaden weiterbestehen, wenn sie nicht dazu angewandt würde, den Buchhandel selbst zu bekämpfen. Es sei von keiner Wichtig keit, ob ein Großsortiment für 500 000 Frcs. direkt oder für 450 000 Frcs. an den Buchhandel verkaufe, solange es alljährlich dieselbe Ziffer erreiche oder sie erhöhe, es sei für die kleinen Buchhändler aber von größter Wichtigkeit, daß ihnen die 450 000 Frcs., von denen sie, wenn auch be scheiden, doch leben könnten, erhalten blieben. Man könne wohl zu einer Verständigung kommen. Der Buchhandel habe das größte Interesse daran, daß alle seine Mitglieder leben könnten, der Großbuchhändler, der in seinem Kreise den Handel zentralisiere, und der Detaillist, der zusehen müsse, wie ihm in der Stadt, in der er Steuern zahlt, sein Inter essentenkreis von auswärts abgenommen werde, weil er nicht in der Lage sei, ebenso billig einzukaufen. Auf die eine oder andre Weise, sagt Herr Ruat, müsse der kleine Buchhändler, der sich keines Extrarabatts erfreue, gegebenen falls gegen den mehr begünstigten Kollegen geschützt werden, vorausgesetzt, daß er für die Verleger von Nutzen sei und deren Schutz verdiene. Die Angestellten des Buchhandels, deren allgemeine Be fähigung anzuerkennen sei, müßten noch immer mehr dazu erzogen werden, den Ansprüchen eines Berufs gerecht zu werden, der es verlange, die Kundschaft im vornehmsten Sinne zn beraten; sie müßten ebenso erkennen, daß ihr Schicksal mit dem ihres Vorgesetzten aufs engste verbunden sei, und daß der Gehilfe keine Existenzmöglichkeit habe, wenn der Chef selbst nicht mehr bestehen könne. Sie müßten zur Wohlfahrt des Hauses beitragen und sich durch ihre Tätig keit als brauchbare Mitarbeiter erweisen. Ihre Verdienste würden dann auch nach ihren Leistungen belohnt werden. Herr Ruat empfiehlt den Angestellten, die fachtechnische 1116*