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Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger : 31.05.1914
- Erscheinungsdatum
- 1914-05-31
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1841177954-191405318
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1841177954-19140531
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1841177954-19140531
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Zeitungen
- Bemerkung
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- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-05
- Tag 1914-05-31
-
Monat
1914-05
-
Jahr
1914
- Titel
- Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger : 31.05.1914
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und einstigen Metzgermeifiers natürlich jedes Wort hatte verstehen können. Und bevor Hrant Smith die Tante und Kusin« hatte begrüß«« können, hatte il;n der Onkel schon am Arm gepackt und rief eindringlich: „Du hast Dir wohl schon' drüben in Amerika eine Frau an- geschafft? Junge, das würde ich denn doch für übereilt halten müssen. Darum brauchtest Du doch wirtlich nicht in die Ferne zu schweifen!* „Keine Sorge, Onkel,* lachte der Neffe; „einstweilen bin ich noch unbeweibt. Aber ge statte mir, daß ich diese jung« Dame Dir vor stelle, deren Bekanntschaft ich unterwegs ge macht habe. Fräulein Eva Röder, stellvertre tende Hallshaltslehrerin . . .* „Schon gut, schon gut," schnitt ihm der Ratsherr kurz das Wort ab. „Haushaltsschule gehört zu meinem Ressort. Später, später, Fräulein. Junge, nun gib der Tante einen Kuß und der Lisette. Meinetwegen zwei! So! Und nun die Musik! Mein teurer Neffe Frank Smith aus Colorado, der einen ganzen Gold^- bcrg da entdeckt hat, soll leben. Dreimal soll er leben, dreimal hoch!" Ein großes Jnstru. mental- und Volalkongert folgte, zu dem auch der Führer der Sekundärbahn-Lokomotive in hellster Begeisterung ein Dutzend schriller Pfiffe ertönen ließ. „Und alle Herrschaften sind heute abend ins „Deutsche Haus" zu einem vergnügten Tänzchen cingeladen,* schloß Herr Schmidt. „Sie kön nen auch kommen, Fräulein Röder," schaltete er huldvoll ein, „und jetzt, Junge, fahren wir nach Haus." Und unter erneuten Hochs und Hurras hielt der Neffe aus Colorado seinen Einzug i« Weinhausen. In der Morgenfrühe des nächsten Sonn tags, an welchem die ganze Einwohnerschaft die pfingstlichen Morgenpartien und Frähkou- zerte gründlich ausschlies, saß Frank Smith auf der Höhe, einem bescheidenen Aussichts punkt bei der Stadt, von welcher man alle Fabrikschlote genau überblicken konnte, ebenso aber auch das Villenviertel, den Stolz des Platzes. Der Neffe aus Colorado lächelte still vergnügt vor sich hin. Was war das für ein lustiges Leben in dieser Woche gewesen; drü ben in dem Minenbezirk von Colorado, wo er nun schon eine ganze Anzahl von Jahren verweilt hatte, würde man über die Ausgelas senheit freilich die Nase gerümpft haben, aber das machte nichts, in diesem alten Deutschland ließ sichs schon noch leben. Mochten die Acm- kees noch so sehr die Nase rümpfen, hier war cs gut sein. Bloß wie lange? Und ob man nicht schließlich sich an alles gewöhnte und dann den Wanderstab wieder weiter setzte? Frank Smith seufzte. Welche Heimatsempfin- dungen hatte er eigentlich in seinem Leben ge habt? Wenig und eine echte, rechte Heimat nun schon garnicht. - Der Onkel Hermann, der ihn allen Be- . kannten unter vielsagendem Augenzwinkern als f den „Neffen aus Colorado" mit einer Wichtig keit vorgestellt hatte, als wollte er sagen „Der Kaiser von China", tat ja sein Möglichstes, Frank Smit in Weinhausen zu halten. Er hatte in den Zeitungen gelesen, daß sein Neffe ein« unbezahlbare Goldmine entdeckt habe, und glaubte steif und fest daran, obwohl dieser ver sicherte, es sei viel Uebertreibung dabei. Daser war zu Pfingsten auch der großartige Emp fang gewesen. „Junge, die Lisette ist zum Anbeißen!" So sagte der On el einmal über das andere. Indessen der Herr Neff« „biß nicht an", obwohl das Mädchen allerliebst war. Denn dem harten Eisenkopf aus Colorado kam es nicht so auf das Allerliebste an, als vielmehr auf eine gute Kameradschaft. Er war einmal gegen Mittag in der Haushaltsschule gewesen, in der Fräulein Eva Röder lehrte. Da wurde« einzelne Portionen derben, kräftigen Mittagsessens zu niedrigen Preisen abgege en, und er hatte gesehen, wie eine Frau mit ihrem Mann sich dort die fertigen Speisen geholt und sie sich bei einem Neu.au, auf dem der Mann ar. eitet«, während die Frau in einer Fabrik beschäftigt Ivar, hingesetzt hatten, um gemeinsam die Mahlzeit zu verzehren. Ob das die Kusine Lisette einmal tun würde? Um Gotteswillen, sie war ein« Houoratiorenwchter! Fräulein Eva Röder l^atte vielleicht eher solche Grundsätze für eine treue Kameradschaft, denn sie hatte von früh bis spät zu um und kam wenig ins Freie. Wenn er einmal eine Frau nahm, so hatten er und sie es auch nicht nötig, aus einem Topf, von einem Teller zu essen, aber der Gedanke, daß so etwas über haupt möglich sei, bereitete Frank Smith rechte Freude. Sein Blick flog ins Land hinaus. Da drüben lag ein Fleck Baugrund, der für einen mäßigen Preis noch zu haben war. Da ließ sich ein Fabrikanwesen errichten, und an Mitteln für einen besonnenen An'ang fehlte es nicht. „Guten Morgen, Herr Schmidt," rief ihn da eine heitere Stimme an, und Fräulein Röder, weiß und rot im fröhlichen Antlitz, so lieblich und lockend wie ein Sonntag in der Pfingstzeit, lachte ihn an. Die Helle Freude lachte aus seinem Gesicht, als er sie begrüßte, und aus ihren Mienen leuchtete der Helle Widerschein, als er ihr aus der Aussichts>ank Platz machte. „Man muß sich einmal tüchtig auslaufen, sonst werde ich stocksteif vom Stehen am Kochherd," scherzte sie, und er bestätigte ihre Worte, indem er versetzte: „Sie sind zu fleißig." — Schlicht sagte sie: „Dafür werde ich bezahlt!" Richtig das wurde sie. Ihm war es bei seiner Minentätig'eit im nordamerikanischen Staate Colorado ja auch nicht anders gegan gen, aber das war ihm nichts Besonderes er- 'chicnen. Arer wenn dies liebe, lustige Mäd chen nun einmal ohne Bezahlung, aus rechter, : treuer Zuneigung sich mühte, das mutzte köst- - lich sein. i Und er sprach etwas davon; er wußte gar nicht, wie es ihm über die Lippen gekommen war. Doch das war der Fall gewesen, es war noch so wie dereinst, wem das Herz voll ist, dem gelst d«r Mund über! Da . ei hatte er die Hand seiner Nachbarin gefaßt. Di« war nicht zart und weich wie die der Kusine Lisette, sondern kräftig und fest, sie verstand zu fassen und zu halten. Die Röie aus dem blühenden, jungen Ge sicht war noch tiefer geworden, aber di« klaren Augen schauten ttM offen ins Gesicht. „Fräu lein Eva," sagte er, „ich habe nicht die Ta schen voll Geld, wie die Leute hier denken; a er wenn ich für eine Frau, die ich lieb >;a e, arbeiten muß, so tue ich das gern, und ich mein«, mit der Zeit werden wir etwas erreichen. Viel Herzlichkeit habe ich in meinem Leber, mcht gehabt, jetzt möchte ich bei Ihne« sie 'indem Da, schlagen Sie ein!" „Wenn ich nur zu Ihne« passe!" Die Worte waren schelmisch, aber der Klang, in dem sie gesprochen wurden, war innig. Und der junge Mann versetzte: „Das sage« Sie? Wenn ich nur zu Ihnen passe, ich, der ich so lange kein Fleckchen deutscher Erde betreten, so lange kein deuisches Pfingsten geschaut habe." „Wenn Sie nur das goldene deutsche Herz heim-ringen zu den deutschen Eichen," ga^ sie zurück. Und sein Kuß überzeugte sie, daß er das getan. Seit der Mittagsstunde dieses Pingst-Sonn- tages, i« der Frank Schmidt, wie er sich nun wieder nannte, dein Oheim und seiner Fa milie die Brau: vorstellte, war der Ruhm „des Nef en aus Colorado" in Weinhausen vorbei. Se r von oben herab sagte Vas Haupl des Hauses Schmidt: „In dem Menschen habe ich mich getäufchl." Dies herbe Urteil beeinflutzte aber die froh« Laune der Brautleute in keiner Weis«; wenn sie auch mit der Hochzeit noch etwas warten mußten, so war es doch nicht zu lange. Und zur nächsten Pfingstfeier gab es wieder Musik, die neue Fabrik ward ein geweiht. Da ließen sie den Besitzer leben, und vom „Neffen aus Colorado" sprach kein Mensch mehr. Christentum und Kirche« Die Kraft des Glaubens. Das Komitee „Konfessionslos" und seine Hinter männer haben in der Agitation zum Austritt aus der Landeskirche ihr Möglichstes getan. Sie werden auch weiterar.eiten. Man sagt: Religion haben wir auch, aber wir wollen keine Kirche. Als ob es Religion gäbe ohne Gemeinschaft und ohne Bekenntnis! Berge lich sucht sich hinter der Kirchen'eindschaft der Widerwille gegen die höchste Autorität zu ver stecken. Für die Kraft des vielgefchmähten Glaubens spricht überraschend eine Selbstmord- slatistik, die ein sächsischer Stabsarzt für das sächsische Heer ausgestellt hat. Danach betrüge« die Selbßmordfälle 0,1 vom Tausend der Sol- baten, die den Seiten rmd kleinen Gemein schaften angehörten, 0,31 vom Taus««- der lutherischen, 0,37 vom Tausend der römischen Katholiken, 0,40 vom Tausend der Israeliten, aber 6,05 vom Tausend der Dissidenten und Religionslosen, also etwa das Zwanzigfack)« der Lutheraner und noch das Fürvszehnsach« der Israelitem Hier liegt es klar zutage, auf welcher Seite mehr Lebensfreude, mehr Le- bensmut, mehr sittliche Ausdauer zu finden sind. Aber nian will es in weiten Kreise« nicht wissen, überdrüssig kehrt man sich ab von der Quelle der Kraft und des Lebens. In- zwisch«n strecken andere Hellen Auges und dank- oaren Sinnes die Hand danach aus. Als Joh« Mott, der Vorsitzend« der Edinburger Welt. Missionskonferenz, kürzlich die asiatischen Mis sionsfelder bereiste und an 70 000 chinesische Studenten in EvangAisationsversammbungen um sich scharte, da lieb ihn der Präsident der chinesischen Republik, Nuanschiat, zur Audienz mitten und fragte ihn noch dem Inhalte seiner Verkündigung. Er evfuW, es sei Jesus Chri- slus, der Heiland der Welt. Nach langer Un terredung bat er John Mott, in China zu äleiken. „Alle jungen Männer in China sollte« ^ie hören. Die Lehren unseres Weisen Kon fuzius sagen uns wohl die Wahrheit, aber wir Haren die Kraft nicht, danach zu leben. Die Kraft kommt allein von Christus, darum müs sen wir ihn kennen lernen * Der Luxus und die untere« Volksschichten. Ist der Luxus schon bei dem begüterten Bürgerstand, der es den o eren Zehntausend nachmachen will, eine viel- fettige Gefahr, so wächst diese, ja sie kann geradezu verhängnisvoll werden, je mehr sie in die uu^egüterten Kreise dringt. Di« all«r- größte Gefahr bildet der Luxus bei dem Weib- lichen Dienstpersonal, das in seiner Kleidung die Dame des Haufes nachahmen will. Lei der sind es nur zu oft die Hausfrauen selbst, die dadurch, daß sie ihre abgetragenen Kleider ihren Mädchen schenken, diesen den Luxus an erziehen, denn nun wird das neu« Kleid im Stof und Schnitt dem geschenkten angepaßt, es wird auch nicht bedacht, daß das teure Kleid auch noch viel weniger haltbar ist. Da der ganz« Lohn aufgebraucht wird, fehlt bei einer Verheiratung das Geld zu den notiven- digsteu Anschaffungen für den Haushalt — es wird alles auf Borg genommen. Die Sorg« h ttt ihren Einzug in die neugegründete Ehe, wird größer mit der Geburt des Kindes, das Gespenst der großen Armut zeigt sich in der Ferne und erstickt die Lebensfreude schon im Keim«; erst recht, wenn die junge Mutter alles so für ihr Kind haben möchte, wie ihre frü here Herrschaft es hatte. An den Hausfrauen wäre es vor allem, sich der Verantwortung bewußt zu werden, die sie durch ihr Beispiel der Arbeiterklasse gegenüber haben, und sich der Pflicht zu erinnern, die ihnen als vorbild lichen Müttern durch Vermeidung von un- nutzem Aufwand den zukünftige« Müttern des Volkes gegenüber auserlogt ist. 2 sprechen," sagte sie zu sich, „das habe ich bei meinem früheren Herrn, dem Barbier Mull- rich, gelernt, dem ich voriges Jahr entflohen bin. Freilich verstehe ich nur Deutsch, aber kräftiges Deutsch, pflegte mein Herr zu sagen, versteht man in der ganzen Welt." Sie war noch nicht lange gegangen, da er blickte sie einen Star in einem Bauer am Fen ster. „Guten Morgen, Herr Star," rief sie ihm zu. „Warum so trübsinnig?" „Sehen Eie es denn nicht? Ich bin ge fangen und sehne mich hinaus in die freie Luft und den schönen Sonnenschein." „Aber warum spazieren Sie denn nicht her- aus? Das Türlein ist ja offen." „Wahrhaftig," rief der Star frohlockend. „Mein Herr hat es zu schließen vergessen, und ich habe es gar nicht bemerkt." Im Nu war er heraus und stand neben der Dohle. „Wo wollen Sie denn so bepackt hin?" fragte er. „Auf Reisen. Wollen Sie sich anschließen? Gute Gesellschaft hat man unterwegs immer gern." „Es würde mir ein Vergnügen sein — aber werden wir auch weit kommen? Die Menschen »erstehen unsere Sprache nicht!" „Aber ich spreche die Menschensprache. Einen Vogel, der sprechen kann, wird man als Wundertier anstaunen und ihm seine Kunst reichlich lohnen. Haben Sie auch etwas ge lernt?" „Ja, mein Herr hat mich das Pfeifen ge lehrt. Ich pfeife ein Dutzend Menschenlieder." „Na also — waS dann mehr? Ich rede, Sie pfeifen, so geht alles vortrefflich." Sie wanderten rüstig vorwärts. Bald kamen sie an einen großen schilfbewachsenen Teich. Vor diesem stand ein Storch, der schnappte eben nach einem großen grünen Frosch und hob ihn vergnügt mit dem Schna bel in die Höhe, um ihn zu verschlingen. „Der arme Frosch," raunte die Dohle ihrem Begleiter zu. „Er tut mir leid — wir wollen versuchen, ihm zu helfen." Und sogleich schrie sie mit lauter Stimme: „Elender Mörder, laß gleich den Frosch los oder ich arretiere dich! Ich bin der Schutzmann!" Und der Star pfiff, so laut und gellend er vermochte: „Mach dich up, mach dich up, mach dich up de Beene!" Da erschrak Meister Langbein, ließ den Frosch fallen und suchte das Weite. Der arme Frosch aber lag im Grase und rang nach Atem. „Haben Sie Schaden genommen?" erkun digt» sich die Dohle voll Mitleid. Da antwortete der Frosch: „Nur ein wenig die Rippen gequetscht hat mir der Unhold — und drei Zähne auSgebissen — sonst befinde ich mich, Dank für Nachfrage, ganz wohl." „So kommen Sie mit uns auf Reisen. Hier ist's nicht geheuer für Ihre Gnaden. Haben Sie studiert?" „Nichts wie das Hüpfen, aber darin bin ich Meister." „Das genügt. Sie können das Geld ein sammeln, wenn Herr Star und ich eine Vor stellung geben." Der Frosch war's zufrieden und hüpfte wohlgemut neben den Vögeln her. Abends kehrten alle drei hungrig und durstig in einem Dorfwirtshaus ein, wo die Bauern beim Schop pen Bier saßen. Sofort schwangen sich Dohle und Star auf einen leeren Tisch, die Dohle Hub an: „Paßt Achtung, ich bin der sprechende Vogel!" Der Star begann zu pfeifen: „Bier her, Bier her, oder ich fall um!" Da rissen die Bauern Mund und Ohren gewaltig auf, der Schulze ließ auf der Stelle Bier und Bra- trn bringen, und der Frosch hüpfte mit einem Teller umher und sammelte ein. So ging's auch an den folgenden Tagen. Die drei Reise genoffen lebten herrlich und in Freuden; der Geldbeutel, den die Dohle in ihrem Rucksack verwahrte, schwoll immer stattlicher an, und es bewährte sich an den dreien daS alte Wort: Wer etwas gelernt hat, der bringt es im Leben vorwärts!" Endlich kamen sie in eine wüste und men schenleere Gegend, da gab es wenig zu schmau sen und noch weniger zu verdienen. Drei Tage war Schmalhans Küchenmeister bei ihnen, und der Frosch war bereits nahe am Verhungern, da erspähten sie in der Ferne ein großes vor nehmes Haus. Hocherftcut marschierten sie darauf zu und klopften an die Tür. Eine reichgekleidete Dame öffnete und forschte nach ihrem Begehr. Die Dohle entgegnete mit einer höflichen Verbeugung: „Drei ganz erschöpfte und ver hungerte Reisende bitten um Wegzehrung und Obdach." Und der Star setzte pfeifend hinzu: „Keinen Tropfen im Becher mehr Und der Beutel schlapp und leer, Lechzend Herz und Zunge." Da lachte die Dame und sagte: „Ich bin zwar ganz allein im Haus, da mein Mann heute verreisen mußte, aber von Ihnen droht mir ja keine Gefahr. Treten Sie näher und leisten Sie mir bis zu seiner Rückkehr Gesell schaft." DaS ließen sich die Reisekameraden nicht zweimal sagen. Bald saßen sie mit der Dame an der vollbesetzten Tafel und schmausten nach 3 Herzenslust. Dann unterhielten sie die freund liche Gastgeberin mit ihren Künsten aufs beste. Als es zehn Uhr schlug, gingen alle vier zu Bett. Die Tiere teilten das Schlafgemach der Hausbesitzerin. Die Dohle setzte sich auf die GardinenstanPe, der Star auf ein Wandbrett, der Frosch wählte sich als gute Lagerstatt das Waschbecken auf dem Waschtische, in dem er noch ein Nestchen Wasser fand. Die Nacht war stockfinster und stürmisch, so recht gemacht für unredlich Gewerbe. Nun hatte ein berüchtigter Räuber, dessen Höhle sich im nahen Walde befand, auSgespäht, daß die reiche Frau Güldenapfel, so hieß die Dame, in dieser Nacht alleinbleiben würde. Gr wußte, daß viel Geld im Hause war, und dachte sie zu berauben. Als er sie fest schlafend glaubte, drang er durch ein eingeschlageneS Fenster in das Haus und tappte sich nach dem Schlaf zimmer, dessen Lage er vorher erforscht hatte. Neben dem Bett der schlafenden Dame stand der Schrank mit dem Gelde. Wie jedoch der Räuber die Tür erbrach, wachte die Dame auf und fing an erbärmlich zu schreien und zu jammern. Wütend hob da der Räuber seinen Knüttel gegen sie auf und wollte schon zu- schlagen, da erschallte plötzlich aus einer Ecke des Gemachs eine laute Stimme: „Räuber! Mörder! Wart, ich zerhacke dich zu Koch stücken!" Zu gleicher Zeit begann es aus einer anderen Ecke her gellend zu pfeifen: „Fuchs, du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her!" Zufällig nun hieß der Räuber wirklich Fuchs. Bestürzt fuhr er zurück und ließ den Knüttel fallen. Er glaubte nicht anders, als daß sich noch zwei Menschen im Zimmer befänden, und einer dieser habe ihn trotz der Finsternis er kannt und gebe ihm dies durch daS Pfeifen des bekannten Kinderliebes zu verstehen. In dem er noch ganz bestürzt dastand, fühlte er scharfe Hiebe an seiner rechten Wange — daS war die Dohle, die ihm mit ihrem spitzen Schnabel hart zusetzte. Zugleich eilte der Star herbei und bearbeitete ihn von der linken Seite. Entsetzt wandte er sich schon zur Flucht, da fühlte er sich auf einmal von einer kalten feuchten Hand im Nacken gepackt, das war der Frosch, der hinten aufgesprungen war. Nun war kein Halten mehr. Tödlich erschrocken warf er seinen Sack von sich und stürmte zur Tür hinaus. „Der kommt nicht wieder!" rief die Dame voll Jubel, machte Licht und dankte tiefbewegt ihren Rettern. „Wollen Sie nicht für immer bei mir bleiben, meine Herrschaften?" setzte sie hinzu. „Ick werde Sie halten wie meine eigenen Kinder, Sie sollen alle Tage herrlich und in Freuden leben und können nach Ihrem Willen kommen und gehen." Die Reisegenoffen hatten das Reisen ohne hin satt, sie willigten freudig in den Vorschlag. Al« man den Sack dsS Räubers öffnete, fand man darin eine große Summe in lauter Gold stücken. „Dies Geld ist von Rechts wegen euer Eigentum," sagte die Dame. Und dabei blieb es, und sie legte es für ihre Retter in der Sparkaffe auf Zinsen an, und von den Zinsen bekamen die drei jeden Tag die schönsten Lecker biffen. Eine moderne Legende. Es war einmal ein kleiner Knabe, der bar fuß durch die Straßen von Newyork wan derte, denn seine Eltern waren so arm, daß sie ihrem Kinde keine Schuhe kaufen konnten. Und der kleine Sullivan ging Winter und Sommer barfuß in die Schule, die Füße schwol len ihm an und bluteten, und im Winter schmerzten sie ihm ost so sehr, daß seine Augen groß und starr wurden, wenn er durch den Schnee marschieren mußte. Der arme kleine Sullivan war sehr traurig, und er wollte nicht glauben, daß diesen Tagen des Unglücks einmal frohere Zeiten folgen könnten. Aber mit den Jahren wurde aus dem kleinen Sullivan ein junger Sullivan, der fleißig arbeitete und Geld verdiente. Und wenn er ihm so gut ging, daß er etwas ersparen konnte, dann kaufte er oft Schuhe für die armen kleinen Kinder, die barfuß gehen mußten. Und als aus dem jun gen Sullivan dann der große und reiche Sul livan geworden war, kaufte er in jedem Jahre von seinem vielen Gelde 5000 Paar schöne, warme Kinderschuhe und schenkte sie den Klei nen, die keine hatten und denen im Winter die Füße weh taten. . . Diese „moderne Legende" ist wirklich ge schehen, und jener barfüßige, arme, kleine S.ul- livan ist heute der berühmte amerikanische Mil lionär und Senator der Vereinigten Staaten. Und im Gedenken an die Not seiner Kindheit gibt er alljährlich ein Fest, bei dem 5000 arme Kinder von dem Senator Schuhe und Stiefel erhalten. Dann teilt der Senator Sullivan seine Gaben selbst aus und sorgt dafür, daß die Schuhe nicht drücken. Dies ungewöhnliche und rührende Schauspiel ist zugleich ein schönes Beispiel dafür, wie ein reicher und angesehener Mann seine dunkle Vergangenheit nicht ver leugnet, sondern gerade aus ihr den frohen Mut zu einer guten Tat empfängt.
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