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IKK, IS. Juli 1912. Nichtamtlicher Teil. «rismii-u i.». »t,«». «-«»asb-i. 8L71 Zur körperlichen Ausbildung des Jungbuchhandels. Ein Ausflug nach Utopia don Marchicus. Wo in deutschen Landen gibt es einen Stand, dem mehr bebrillte, hohlwangige Bürschchen angehörten als dem jungen Buchhandel! Wo einen Stand, der jahraus jahrein ein schwächeres Kontingent an Heerestauglichen stellte! Man kann diese bedauerlichen Tatsachen aus mancherlei Gründen herleiten, etwa daraus, daß dem Buchhandel besonders viele Elemente mit körperlichen Entwicklungshemmnissen zuström ten, man sollte aber gerechterweise niemals verkennen, daß in vielen Fällen, besonders in der Großstadt, der Grund zu körperlicher Minderwertigkeit erst in der Lehrzeit und durch die Lehrzeit, bei der Arbeit im Beruf gelegt wird. Die jungen Leute, die den Buchhandel erlernen, sind durchschnittlich fünf zehn bis etwa neunzehn Jahre alt. Körper und Geist stehen in der Entwicklung, sind äußeren Einflüssen zugängig und har ren der Leitung. Wie aber verläuft gemeinhin der Tag unseres Lehrlings? Ich will von denen sprechen, die ein mißgünstiges Geschick ihre beruflichen Bildungsjahre im Grotzstadttrubel verbringen läßt. So ein junges Menschenkind hastet am frühen Morgen ins Geschäft. Die Zeit bis zur Mittagspause wird bei strenger Arbeit in Geschäftsräumen zugebracht, die, besonders in alten Städten, durchaus nicht immer allen ge rechten Anforderungen der Hygiene entsprechen. Wer achtet darauf, daß der Lehrling nicht mit angezogenen Knien und mit rundem Rücken auf dem Drehschemel hockt, wenn er sein Portobuch addiert oder Fakturen ordnet? Etwa der erste Ge hilfe, der den jungen Mann beaufsichtigen soll? Der erste Ge hilfe sieht seinen Zögling durch seine blaue Brille hindurch kaum oder er sitzt selbst noch krummer als der Lehrling vor dem Pult. Mittags geht's dann in der Sonnenglut zu Tisch; Hin- und Herweg machen manchmal reichlich die Hälfte der zwei stündigen Pause aus. Nachmittags gibt es wieder Arbeit in Trubel und in Wolken heimtückischen Bllcherstaubes, und abends — ja, wer will sich da Wundern, wenn abends dem jungen Mann, dessen wachsende, überschietzende Kräfte kein wohltätiges Ventil finden, allerlei törichte Gedanken kommen, Gedanken an Kneipkomments und an die holde unholde Weib lichkeit, die, wenn sie Wirklichkeiten werden, ein junges Leben in Grund und Boden verderben können? Oder wenn die wuchernde Phantasie sich dann mit der Lektüre der Nick Carter- Aventüren sättigt, so daß jeglicher Maßstab für Reinheit und Größe dem armen Kerlchen verloren geht? Töricht wäre es, unseren jungen Leuten ewige Askese hinterm Lehrbuch beim Lampenlicht oder Wassersuppengesellig keit in Tugendbünden und Jünglingsvereinen anzuraten; Jünglingskräfte suchen mit Recht ein anderes Ventil. Des halb sollte jeder, dem die gesunde Entwicklung seines Standes am Herzen liegt, des Buchhandels Heranwachsende Jünger auf die natürlichste Betätigung Hinweisen, die den Kräften freien Spielraum gibt: auf die Körpererziehung und die Pflege der Leibesübungen. Die Erkenntnis des großen Wertes körperlicher Erziehung ist während der letzten Jahre in weite Kreise unseres Volkes gedrungen. Das erstaunliche Interesse, das sich allerorten für die Stockholmer Olympiade kundtat, hat das bewiesen. Wir sechzig Millionen Deutsche sind — endlich! — ein Volk ge worden, das fest entschlossen ist, allen Hemmungen zum Trotz seinen Weg zur Höhe zu gehen. Wir haben aber auch einge- fehen, daß nur eine seelisch und körperlich kräftige Generation Träger des völkischen Entwicklungsgedankens sein kann. Der Gedanke, daß unsere Jugend gestärkt werden müsse, ist mächtig geworden. Mir will es scheinen, daß bei solcher Stärkung uns Buchhändlern besondere Pflichten gestellt seien. Ange sichts der Tatsache, daß unserer Jungmannschaft die Belebung, die heilsame Anspannung der körperlichen Kräfte bitterer not tut als irgend einer anderen, dürfen wir uns meiner bescheide nen Überzeugung nach sogar nicht damit begnügen, den Lehr ling auf den Wert der Leibesübungen hinzuweisen. Unsere jungen Leute haben kaum Zeit genug, sich einem Ver ein mit geregeltem Programm anzuschlietzen. Sie sind nach acht Uhr auch viel zu müde, als daß sie sich dann noch an strengender Tätigkeit hingeben könnten. Wir müssen mit der Tat wirken, wir müssen die Lehrlinge zu körperlicher Erziehung führen. Nicht mit Zwang, denn dann würden jene Herren schreien, die das Selbstbestimmungsrecht des Halbslüggen für eine unantastbare Errungenschaft moderner Kultur halten, aber mit Empfehlung, Förderung und, wo es not tut, mit sanfter Überredung. An der körperlichen Minderwertigkeit der jungen Buchhändler sind neben anderen Dingen auch die In stitutionen unseres Berufes schuld. Ist es da dem Buchhandel nicht ein nodils ottlcium, nach besten Kräften den Schädi gungen entgegenzuarbeiten, die der Körper seiner jungen An gehörigen während der Arbeitsstunden erfährt? Meinen positiven Vorschlag schreibe ich nur mit Zagen nieder, weil ich ahne, daß er vielerlei Bekämpfung erfahren wird: Man gebe den Lehrlingen in der Groß stadt (Berlin, Leipzig, Hamburg und Mün chen kommen zuvörderst in Betracht) wäh rend der Sommermonate die Nachmittags stunden des Sonnabends, etwa von 5 Uhr an, zu körperlicher Betätigung frei! Man sorge gleichzeitig für geeignete Aufsicht und zweckdienliche Organi sation! Ich weiß wohl, daß die Fortbildungsschule den jungen Mann, der sie pflichtmätzig besuchen mutz, — Wohl 75 Prozent unserer Lehrlinge kommen in Betracht — im Sommer und im Winter stundenlang vom Geschäft femhält, und ich verhehle mir nicht, daß es ein bedenklich Ding ist, einem neuen »Vor wand zum Entschlüpfen« das Wort zu reden! Messe ich Vor- teil und Nachteil der paar Freistunden, die ich mir borzu schlagen erlaube, aber gegeneinander ab, so bedünkt mich doch, die neue Freiheit könnte für Chef und Lehrling überwiegend von Segen sein. Daß ein gesunder Körper folgerichtig einen gesunden Geist bedingen müsse, haben schon die alten Griechen und die Lateiner gewußt. In der Brisenfrische des Hellen Sommernachmittags, beim friedlichen Wettkampf mit den Kameraden verflattern die törichten Gedanken der Halbwüchsi gen. Lebensfrische, Arbeitsfreude ziehen dafür ein, und so wird das Geschenk der Freistunden dem Chef die willkommen sten Früchte tragen. Dem jungen Angestellten selbst schaffen sie Lebenskräfte, aus denen sich ein gesundes Mannesalter auf bauen und fügen kann. Sollte — ich gehe ins Allgemeine — es unserem Stande nicht auch zum Segen gereichen, wenn von ihm dann später die öffentliche Meinung geht, daß seine Angehörigen »maus sana in corpore sano« pflegten? Noch weiter: unser Volkstum erstarkt, sobald sich einer seiner Aste kräftiger entwickelt. Ich will dann auch daran erinnern, daß wohl jeder Prinzipal im Winter seinen jungen Mitarbei tern gern ein paar Abendstunden zum Besuch von Vorträgen, von Kursen freigibt, und will mein Plaidoher mit einem Appell an den honorigen Verstand beschließen: wer schon die Wich tigkeit der Körpererziehung anerkennt, der mutz notgedrungen denen, die von ihm abhängig sind, die nötige Zeit dazu geben. Der Sonntag? Mit Verlaub, der gehört als unbedingter Ruhetag der Familie. Die praktische Durchführung meines Vorschlags dürfte wohl nicht schwierig sein. Wo ein Wille ist, da ist ja auch ein Weg. Ich denke mir, daß zu Sommersbeginn sich erst einmal alle die Firmen verständigen würden, die sich zu beteiligen ge denken. Man müßte sich über den oder die Leiter einigen und müßte bestimmen, wo die Spiele und Übungen stattfinden III7'