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Hs Dringt M HohMkiil-EliWln AHNgrr V«UsB1>tk. 4t. JahvUavg Sonntag, be«^. Juni 1»t4 Rr. IS». Verschleiertes Glück. Krinünalistische Novellette von R. O r t e l l. Nachdruck verboten. Wutbebend — die Zornesadern auf der Stirn geschwollen — schrie Herr von Holle: „Meine Reitpeitsche! Sofort meine Reit- Peitsche! Was habt Ihr zu gaffen, Leute!? Marsch, an die Arbeit! Und er, Barbier, schere er sich zum Teufel! Johann — meine Reupeitsche!! Ich will der bornierten Justiz wohl zeigen, wie man die letztwillige Ver fügung einer Idiotin befolgt, ha, haha!" Ent'etzt stob die Dienerschaft auseinander- Bartier Holznagel, der wie allmorgentlich ge kommen Ivar, den gnädigen Herrn zu rasieren, retirierte in eine versteckt gelegene Nische des Vestibüls, die Neugierde prickelte ihm in den Adern, mitanzusehen!, wie diese Szene endete. Dem herbeistürzenden Johann die Peitsche entreißend, stürmte Herr von Holle jetzt über das Vestibül. Tür an Tür vorbei, die hier mündeten, raste er, die Peitsche in der hoch- crhobenen Hand, der Tür am Ende des Mu res zu. Bevor er diese erreicht, öffnete sich eine Seitentür und Felice von Holle im Frisier mantel, ans dem schönen Gesicht alle Zeichen der Bestürzung, eilte heraus und ihrem Vater entgegen. — „Lieber Vater — um Gottes willen — was beabsichtigst Du!?" Sie bemühte sich, ihm die Peitsche zu ent winden. Vergebens- Wie ein Rasender entriß der Baron sich ihren ihn umklammernden Ar men- Sie flog ihm nach. Allein der Wutent brannte latte bereits das Ziel — das Zimmer der Verstorbenen — erreicht. Die Hand mit der Peitsche zum Schlage aushebend, war ex mit einem Satz vor dem prächtigen, goldenen Papageibauer, in dem der grüngefiederte Lieb- ling und — Erbe — der Verstorbenen — hauste. Doch — was war das? Die Hand mit der Peitsche sank jäh herab. Hinter dem Baron ward ein Schrei laut — er kam aus Felices Munde. Im Hintergründe reckte sich die Dienerschaft, die sich wieder her vorgewagt. Der Barbier hatte die Feirsterbank erklettert, um gleichfalls etwas zu erspähen. Lautlose Stille folgte — kein Atem schien zu gehen- Irgendwoher — aus einem entfernten Raum — nur hallten schwache Laute — leises Frauenweinen. Niemand achtete dessen. Nur ein Gedanke bestürmte alle und schloß ihnen zugleich den Mund. Was war das —?! Die Tür des Bauers stand auf und auf der Schwelle lag tot und starr — dev Papagei. „Was haben Sie heute auf dem Repertoir, Figaro?" Holznagel, ein fabelhast geschwindes Männ chen, das seinem Berufsgenossen von Sevilla an Popularität nichts nachgab, äugte zu sei nem vornehmen Kunden, den Reedereibesitzer Gornemann, hinauf — unsicher — tarierend. Ob er es wohl wagen durfte? Da der Herr Reedereibesitzer, wie man sich erzählte, sich für eine gewisse junge Dame lebhaft interessierte? „Es passieren unglaubliche Dinge, gnädiger Herr!" begann er vorsichtig, während er ge schäftig sein Handwerkszeug zurecht löge und mit großer Handfertigkeit Schaum zu schlagen begann. Gornemann lachte, indes ec Platz nahm. „Na, schießen Sie doch ab, Sie Geheimnis krämer, sonst wird die Prozedur langweilig! Ist übrigens das erste Mal, daß man Sie ani mieren muß, Figaro!" „Ist auch 'n bißchen mehr als gewöhnlich!" kicherte Holznagel, während er den Kunden einseiste und nun kunstgerecht das Kinn zu schaben begann. „Den Deibel auch — solche Erlschaftsgeschichte ist ja 'n Jammer! Daß der Herr Baron von Holle darüber fuchswild wurde, kann ich ihm nicht verdenken! Aber die Pointe war einfach großartig!" „Erbschaftsgeschichte — Baron von Holle fuchswild — Pointe — großartig!? Was wol len Sie damit sagen, Holznagel!?" „Bitte, ruhig Blut, gnädiger Herr! Um 'n Haar wären Sie mir ins Messer gefahren!" meinte der Barbier, während er den Schaum vom Messer strich und geschickt fortschleuderte „Nichtig — ich erinnere — die alte Erb» raute des Barons ist gestorben! Sie wohnte im Schloß —" „Sie war ein Drache — Gott hab' sie selig!" streute Holznagel ein. „Lassen wir der Toten ihre Ruhe —" „Ich denke, die wird sich im Grabe um drehen!" kicherte da der Barbier. Daß der Erbe sich so proinpt einpsohlen hat — mauser tot in dem Augenblick, wo — — wer Bli—tz" „Wie — was? Baron Holle ist tot!?" fuhr der Kunde auf, und diesmal richtig dem Bar», bier ins Messer. „Das kommt von ihrer verrückten Art zu erzählen, Holznagel!" schrie Gornemann, und stampfte mit dem Fuß auf, indes der Bardier mit Wasser und Heftpflaster herbeiflog, das rinnende Blut zu stillen. „Soll man sich nicht ausregen, wenn man hört, daß ein guter Be-, kannter plötzlich tot ist — — und von solch einem Figaro in roher Weise abgetan wird!?" „Ich bin unschuldig wie ein neugeborenes Kind! Gnädiger Herr haben mich ja nicht aus erzählen lassen — daher der Irrtum . . ." „So ist der Baron also nicht tor!? Zum Kuckuck — Sie sagten doch aber der Erbe —?" „Stimmt." „So ist der Baron enterbt?" „Stimmt. Und darum eben war der Herr von Holle ja so fuchswild und wollte dem Erbschleicher den Garaus machen, haha, ha!" „Mensch — entweder erzählen Sie vernüns- lig oder halten Sie den Mund." „Wie der gnädige Herr befehlen- Also: Laut Testament ist eingesetzt zum Erben — der Liebling der Verblichenen — ihr Papagei. Er soll es haben wie ein König; der Ueberschuß soll verzinst werden. Erst nach seinem Tode ist Baron von Holle der Erbe —" „Solchen Blödsinn dürfte die Justiz nicht anerkennen!" „Ist nicht der erste Fall, gnädiger Herr, und die Justiz kann nichts dabei tun, wenn, wie hier, die Testamentarin klaren Geistes war- In Amerika z. B. gibt es genug Leute, die ähnliche Verfügungen getroffen haben, Leute, die ihr Reitpferd oder ihren Hund zum Erben »rinsetzten und damit ihren Verwandten ein Schnippchen schlugen." „Und dieses hat Baron Holle der Berbli. chenen zurückzahlen wollen, wenn ich recht ver stehe? Aber nein, wie sagten Sie doch, Holz nagel? Der Erbe habe sich —?" „— encpfohlen. Ja, denken Sie nuy, gnä diger Herr, als ich vorhin ins Schloß komme, den Herrn Baron zu rasieren, ist die Geschichte gerade im Fahrwasser. Der Herr Baron war von der Testamentseröffnung gekommen und raste, die Peitsche in der Hand, in das Zim mer des — ha, haha! vermaledeiten Erbschlei chers! Baronesse Felice — das liebe, schöne Fräulein — eilte schreckerfüllt dem Herrn Papa nach. Der aber hebt schon zum Schlage aus — da entsinkt ihm die Peitsche plötzlich. Die Baronesse, die Dienerschaft, im Hintergründe ich — standen starr. Was war? Das Bauer stand offen und der Papagei, der reiche, reiche Erbe, lag da — tot. Ja, gnädiger Herr, wenn ich eines Malers Pinsel hätte, der Moment war wert, aus die Leinwand gebracht zu werden! Der Herr Ba ron hätte ja nun eigentlich Jubellieder anstim- men können, aber ich glaube, es war ihm doch nicht recht behaglich, uxd dem gnädigen Fräu- lein auch nicht. Was sich uns allen ausdrängte, werden di« Herrschaften auch wohl gedacht ha- den: die Welt wird nach dem Schein urteilen und sagen, Barons haben das Tier durch Gist getötet! Aber solch ein Gedanke wäre ja schon himmelschreiendes Unrecht! Ich behaupte, die Tat hätte ja doch garnicht geschehen können, denn —" , , Die Tür des Barbierladens ging aus und zwei Herren traten, aufgeregt sprechend, ein. Als si« den Reedereibesitzer Gornemann erblick- ten, rief der Aeltere aufgebracht: „Wissen Sie schon, Verehrter^— es geht wie ein Lauffeuer durch unsere Stadt — Herr Baron von Holle ist verhaftet worden!" „Gemein ist's, einen Ehrenmann so zu ver dächtigen!" sprudelte der zweite Herr. „Doch die Sache muß ja ans Licht kommen! Wer nur, wer inag den Papagei getötet haben im Interesse der Holles? Daß es nicht der Baron selbst war, liegt ja auf der Hand — der Herr Baron wäre doch nicht mit der Peitsch« vor- 4 » » Allerlei Kurzwett. * « Denksprüche. Es gibt eine Kraft, die den Tod überdauert, Die im Sturm nicht wankt und im Leid nicht trauert, Sie bleibt dieselbe in Glück und Not Und heißt: Vertrauen auf Gott! * * * Laß ab, mein Herz, von Klagen und von Sehnen — Es scheint die Sonne durch Regen und Tränen; Es ist kein Leben davon befreit, Ein jedes hat seine Regenzeit Und Tage, trüb' und traurig. Rätselecke. Gleichklang-Rätsel. O, hätte ich sie doch! — So hast du oft gedacht, Wen» in den Lüften hoch Der kühne Adler jagt. Der Menschen Ziel und Streben Nun ist es ja erfüllt: Er kann im Fluge leben, Das Sehnen ist gestillt. — O, hätte ich ihn doch! — So hast du oft gedacht, Wenn Klänge, tief und hoch, Umbrausten dich mit Macht, Und deine Seele hoben Auch adlergleich hinauf, — Denn immer ist nach oben Gerichtet unser Lauf. — Tauschrätsel. Aus der Farben Fülle nimm, der reichen, Eine nur. Vertausch' das letzte Zeichen, Und es läßt — ein Wunder ist geschehn — Plötzlich eine große Stadt sich sehn. Schön ist diese Stadt und zauberhaft, Zeigt seit grauem Alter ihre Kraft. Hier in jener Farbe edlen Funken Siehst du hohe Würdenträger prunken. Scharade. Wer gern sich im fröhlichen Wandern übt, Zur Zeit der blühenden Linden, Der wird, so er heitere Orte liebt, Im ersten das ganze finden. Bilder-RStsel. Vexierbild. Ei, da ist ja die Toni vom Waldwirt I Grüß Gott! (Auflösungen in nächster Nummer.) ««fiSsttngen an» Nummer 22. Des Pfingsträtsels: Festbesuch (fest, Buch, B-eS-uch). Der dreisilbigen Scharade: Wissenschaft. Des Logogriphs: Docken, Socken, Glocken, Flocken, Brocken, Socken. Des Bilder-Rätsels: Dachstube. Des Vexierbildes: Quer zwischen dem Baume links und dem unteren Rande des Kir- chendachS. Liu-er-Ieitrsz. Nr. 23. Redaktion, Druck und Verlag von Horn L Lehmann, Hohenstein-Ernstthal. 1914. Gebet beim Abendläuten. Jesu Ehrist, der Tag will scheiden Und ich hör' die Glocken läuten. Ihre abendlichen Klänge Tönen sanft durchs Weltgedränge. Stille wird es; und der ferne Wand'rer kehrt zur Heimat gerne. Aus des Tages Sorg' und Mühen Wollen auch wir heimwärts ziehen, Heim zu dir, du Hirt' der Seelen! Laß die Seel' bei dir gesunden! Gib zum frohen Feierabend Uns dein Wort jetzt mild und labend! Denke auch der fernen Freunde, Segne uns're Christgemeinde! Hör' der Kranken Flehn und Sehnen, Trockne der Betrübten Tränen. Mache gut, was wir verwirren; Laß uns nicht von dir verirren. Knüpfe in des Friedens Bande Alle Häuser, alle Lande. Laß, o Herr — wir alle flehen — Uns begnadigt schlafen gehen. Wer war die Erzählung von Im Garten prangten rote und gelbe Jo hannisbeeren, Stachel- und Himbeeren in voll ster Reife. Sie schimmerten durch den Sta ketenzaun, so daß man sie vom Felde aus sehen konnte. Dort las eine arme Frau Aehren und hatte ihrer Tochter, dem siebenjährigen Gretchen, befohlen, mit dem Brüderchen in der Nähe des Gartens zu bleiben, wo die überragenden Aeste der Bäume einigen Schatten gaben. Der Kleine schlief in einem alten Kinder wagen; Gretchen wehrte ihm die Fliegen ab, schielte dabei nach den lockenden Früchten und malte sich aus, daß Mutter Sonnabend so viel Geld behielte, um ein ganzes Pfund davon kaufen zu können. Letzten Sonnabend war'S nicht gegangen. „Bor allem muß ich die Milch für Rudolf- chen bezahlen," hatte die Mutter gesagt, „sonst borgt man uns nicht mehr. Der Krämer muß auch sein Teil bekommen, und Vater arbeitet so schwer, da soll er wohl am Sonntag ein Stückchen Fleisch haben. Nicht wahr, dann verzichtest du auf das Obst? Vielleicht langt's nächsten Sonnabend dazu." Gretchen seufzte und wünschte, daß es schon Sonnabend wäre. Jetzt erwachte der Kleine, fuhr mit dem Zünglein die trockenen Lippen Schlimmere? Tante Marie. entlang und fing kläglich an zu weinen. Man sah, er hatte Durst. Die Sonne stand nicht mehr weit vom Horizont, aber es war immer noch sehr heiß. „Verweile ihn nur noch ein bißchen, Milch ist nicht mehr da!" rief die Mutter Gretchen zu. „Noch eine gute Stunde, dann bin ich fettig." Gretchen tat ihr Bestes mit Plaudern und Späßemachen, doch der kleine Mann wollte seinen Durst nicht vergessen. Plötzlich entdeckte er die roten Beeren zwischen den Staketen, streckte rasch die Händchen danach aus und lallte: „Haben! Haben!" Gretchen sah von ihm zu den Beeren. Ein Ast — sie hatte es längst bemerkt — streckte sich gerade auf das Feld hinaus, und daran hingen wohl sechs bis acht prachtvolle rote Jo hannistrauben. „Wenn ich die pflücke — das ist wohl nicht gestohlen," dachte Gretchen. „Sie hängen ja gar nicht mehr im Gatten. Die wollen Gerolds gewiß auch gar nicht haben." Und schon war sie zu dem Zweige gelau fen, pflückte schnell, ängstlich nach der Mutter spähend, alle Trauben ab und brachte sie dem Brüderchen. Ihr blieb das dunkle Gefühl, dennoch Unrecht getan zu haben; denn ihre