Volltext Seite (XML)
BlM M PMM SrMWlklAMM Nr. 1 Donnerstag, den 1 Januar 1S14 41. Jahrgang Neujahr Müller, Pfarrer emer. k- Die Stunde ist dein Eigentum. O, kauf sie aus, damit du Ruhm Und Heil dir magst erwerben! Erschaffe in der Spanne Zeit Ein Leben dir in Ewigkeit, Willst du hier nicht verderben! Noch leuchtet uns sein Angesicht, Noch hält er nicht mit uns Gericht In Stürmen und in Wettern. Die Rosen werden wieder glllhn, Die Saaten werden neu erblühn, Die Lerchen wieder schmettern. Die Welt verändert ihr Gewand, Sie bleibet nicht in ihrem Stand, Kann nicht zum Heil genesen. All ihre Pracht und Macht zerbricht, In ewge Nacht versinkt ihr Licht, Ihr Wesen muh verwesen. O Gott, vor welchem tausend Jahr Sind wie der Tag, der gestern war, Von deinem Volk nicht weiche! Und führ uns durch der Zeiten Strom Empor zu deinem Himmelsdom, Zu deinem ewgen Reiche! Wohl dem, der aus der Tage Flucht Sich rettet und den Felsen sucht, Der trotzet allen Wellen! Wohl dem, der fromm nach oben schaut, Sich eine feste Burg erbaut, Dran Welt und Zeit zerschellen! Denn eine Tat, die du vollbracht, Die wird von der Gewalt und Macht Der Zeit nicht mehr berühret. Ob auch die Zeit wie Wind verweht, Ob auch der starke Arm vergeht, Der fromm sie ausgeführet. Das gute Werk, das du getan, Folgt übers Grab dir himmelan Hin vor des Richters Throne. Du hast aus allem Weh und Leid Gewoben dir ein Feierkleid, Erlangt die ewge Krone. Vom Himmel schwebt im Morgenrot Das neue Jahr, das walte Gott! Herr, las; es wohlgelingen! Breit über uns die Hände aus, Begnade unser Herz und Haus, Daß wir dir Opfer bringen! Neujahrsglocken. Novellete von A. Hinze. (Nachdruck verboten.) Der Neulahrsmorgen dämmerte über der finnischen Hauptstadt. Wer jetzt über den Alexanderplatz schriit, vorüber an dem kleinen Hotel unweit des So zietätshauses, hielt sicher den Schritt an und lauschte mir verhaltenem A;em. Durch die Morgenstille drang Ehorgesang In reiner, wundervoller Harmonie erho en siw die jungen Mönneotimmen, erscholl es durch die eisige Lut; Q holde Ruhe, steig' ! ernicdcr, Kehr' in die Menschenherzen wieder, Dann ist die Erd' ei» Himmelreich Und Sterbliche den Göttern gleich. Die Helsingforser Studenten waren die Sänger. Aus dem Hospchtz des kleinen Hotels stand dichtgedrängt die jugendliche Segar, die in begeisterter Verehrung der „wackera Tuest»", der schönen, deut'chen Schauspielerin Reaine Schumann, hier unter ihrem Fenster ein Mor genstündchen brachte. Der Gesang wcck.e die jugendliche Künst lerin aus dem Schlaf. Welch schöner Grütz am Neujahvsmorgen! Ein Dank begeisterter Jugend für ihre Kunst, die gestern abend vor dichtgefülltem Hause wieder einmal Triumphe geeiert. Mit geschlossenen Augen lauschte Regine Schumann dem Gesang. Wie sie so still in den Kissen lag, das reiche, blonde Haar wie eine Gloriole ihr feines An litz umrahmte, über das das erste fahle Morgenlicht hinglitt, war weder Freude, noch Triumph aus d esem Nn'litz zu lesen. Selbst diese sympathische Huldigung, dieses, die Seele Mitfortrei ende, das dem Gesang der finnischen Studenten innewohnt, vermochte nicht den Ausdruck ge heimer Qual aus ihren Zügen zu löschen Und in bitterein Spott wiederholte sie — langsam — leise — die Worte, die mit den Tönen zu ihr drangen: O lolde Rule, steig hernieder, Kehr' in die Menscheimerzen wieder. . . Ein neues Jahr — eine neue Zeit . . . Datz nun alles, alles sich zum Guten wen den, dah Tränen versiegen, Wünsche sich cr- süllen werden, daß die vollkommene Zeit, die ser Traum der Menschenbrust, endlich, endlich anbrechen werde, ist heute, am Neujahrsmor gen, der Glaube und die Hofnung. einer gan zen Welt. Nur sie, Regine Schumann, so jung »och, so schön und gefeiert, teilte dieft Hoffnung nicht. Hatte sie denn überhaupt noch unerfüllte Wünsche? Dies war eine Gewissensftage, der sie gern aus dem Wege ging. Aber eine Kette kalte das Schicksal um sie geschmiedet und die Glie der dieser Kette würden mit dem neuen Jahre sich schließen um sie. Dies war es, was die geheime Qual auf ihr Antlitz prägte. Und kein Entrinnen gab es; kein Zerreißen der Kette, denn sie war die Sklavin der Verhältnisse . . . Ein nervöses Hüsteln, das in dem geschlos- sencn Nebenzimmer laut ward, brachte ihr dies grausam klar zum Bewußtsein. Der Gesang der Studenten Ivar verhallt Hart und kalt und nüchtern sah das zuneh mende Tageslicht ins Zimmer. Die Glocken der Kirchen hoben zu läuten an. Als die Töne an,schmollen zu erhabenem Chor, da war es der Schauspielerin, als riefen sie ihr zu: Heute — heute wird dein Schicksal besiegelt! Ein nervöses Emp inden, das Gefühl, als drängten finstere Mächte erdrückend aus sie ein, befiel sie und in erwachender Angst streckte sie a. wehrend die Arme aus. „Du hast lange auf Dich warten lassen, Negine!" Herr Felix Hagen, der Stiefvater der Schauspielerin — ihre Mutter war tot — sagte es. Er stand am Fenster des Hotelzimmers, das beiden als Wohn- und Empfangszimmer diente. In seiner äußeren Erscheinung der Typus des alten Lebemannes, trommelte er jetzt ungeduldig mit den Fingern gegen die Fensterscheibe. Die Schauspielerin runzelte die Brauen. „Hast Du denn auf mich gewartet?" gab sie zurück. „Allerdings," klang es vom Fenster her. „Ich wollte Dich doch nicht unvorbereitet las sen, da heute Leutnant Sergius Dimitrowitsch ommen und Dir mit seinen Neuahrswünlchcn seine Hand antragen wird — und Du wirst ja sagen." Felix Hagen batte es vorgezogcn, seinen . ensterplatz, Regine den Rücken kehrend, zu etaupten. So sah er nicht die Blässe der Erregung, die ihr Gesicht überzog, aber er mußte, daß sie erblassen würde. — „Du weißt," hob sie an, daß der Russe mir zuwider ist. Ich hasse in ihm den Unter drücker Finnlands." „Unsinn! Was gebt Dich Finnland an? Du bist doch eine Deutsche!" „Sergius Dimitrowitsch ist der Urt;Pus eines Volkes: hochmütig und üppig, brutal und habgierig —" „Nun, wenn letzteres sich auf den Besitz Deiner Person bezieht, so wird Deine Eitel keit ihm wohl diesen Fehler verzeihen. Leut- n mt Dimitrowitsch ist ein Grandseigneur und er ist reich. — — Doch, es ist überflüssig, Dir noch die Chancen dieser Verbindung vor zustellen. Eine arnie Schauspielerin, deren Stern mit ihrer Jugend und Schönheit er- eicht, kann sich ja überglücklich schätzen, wenn e n reicher Of izier sie zur Frau begehrt!" --Ich gehöre nicht zu den Frauen, die ein g duzendes Leben, wenn auch an der Seite eines ihnen verhaßten Gatten, erstreben! Ich -" Du bist rührend genügsam, ich weiß es," fiel Hagen spottlachend ein. „Du be gnügtest Dich gern mit einem commis Voya geur —" „Was meinst Du da?" „Nun, was ist er denn viel anderes, Dein deutscher Landsmann, der Herr Weinreisende Julins Rosenberg, für den Du schwärmst —" „Halt ein!" rief sie gebieterisch. „Wie darfst Du aussprechen, was niemand, niemand wis sen kann. Ich wäre eine schlechte Schauspie lerin, wenn ich je dies verraten." „Du hast recht, Negine, nicht Du hast dies verraten, wie Du es eben getan" — er lachte spöttisch — „sondern der Inhalt des Medail lons, von dem Du Dich, wie ich bemerkt, niemals trennst, hat es mir verraten." „Dir hast spioniert," sagte sie verächtlich, wie schützend die Hand auf das Kleinod le gend, das sie an einer feinen Goldkette um den Hals trug. „Genug des Geplänkels — die Zeit drängt," sag e er, einen anderen, strengen Ton anschla gend. „Klar und bündig will ich Dir noch einmal ins Gedächtnis zurückrufen, was Du vergessen zu haben scheinst —" Mit wenigen Schritten war er bei ihr. Ehe sie es hindern konnte, hatte er ihre Handwur zeln mit eisernem Druck umspannt: „Erinnere Dich, daß Du ohne meine G te jetzt vielleicht ein elendes Falwikmädchen wä- rest! Als ich Tor mich in Deine Mutter, die arme Choristin, verliebte, rasend verliebte, da -" da war es, als Du Mama heiratetest, nach dem Gesetz Deine Pflicht, für ihr Kind mitzusorgen," siel sie bitter ein. „Als ich dann heranwuchs, mein Talent sich zeigte, da —" war ich es," iibcrbot er sie, „der Dir den Weg zum Ziel ermöglichte, Deine Aus- bildung bezahlte." „Ja," gab sie zu, und wieder klang es ver ächtlich, „und ich glaube, schon damals rech netest Du mit den Zinsen, die ich Dir ein bringen würde. Daß ich meine Gage mit Dir teilte, war meine Pflicht. Wir sind quitt. Höhere Zinsen — meine Freiheit als Einsatz — zable ich nicht." „Du wirst es dennoch tun, denn Du wirst es müssen," raunte Felix Hagen jetzt niit rauh klingender Stimme ihr zu. „Schon längst luchte ich den immer knapper werdenden Mam mon beim Kartenspiel zurückzuerobern. Ich verschwieg Dir bis jetzt, daß sich meine Schul den so sehr gehäuft, daß es für mich nur zweierlei: dec Gewinn oder —" Und nun stieß Hagen heiser hervor: „Ge winnen aber kann man nur, wenn man etwas zu setzen hat. Ich aber habe nichts mehr, nichts, das genügt hätte, mir so hohe Chan cen, wie ich sie benötige, zu bringen. Und mein Partner beim Spiel war Dimitrowitsch. Und da — da — wurdest Du, Deine Person — der Einsatz — und — Dimitrowitsch — gewann . . ." Leichenblaß stieß die Schauspielerin den Sprecher zurück. — Hatte nun die heftige Bewegung es verur sacht? Oder war ihre Hand gegen das Me- daillon an ihrem Halse gefahren? Genug, es ftblte plötzlich an der Kette. Wohin war es geglitten? Regine bemerkte es in ihrer Erregung nicht. „Du bist ein Elender!" stieß sie, gedämpft, aber Gebend, hervor. „Geh'! Und damit Du es weißt, ich opfere mich für Deinen Leichtsinn nicht!" Taumelnd tastete Hagen nach einem Halt. „Dir hast zu wählen," drohte er: „weisest Du Dimitrowitschs Hand zurück, so bleibt mir nur eins — die Kugel." Es klopfte an der Tür. „Der Leutnant ist es! Willst Du also Dein Gewißen mit einem Selbstmord nicht belasten, so -" Eilig verschwand er im Nebenzimmer. Als brenne der Baden ihm unter den Füßen, so eilig verließ er wenige Sekunden später, in seinen Pelz gehüllt, das Hotel. Als er vor dem kleinen Palast des russi schen Generalgouverneurs, vor dessen Tor der Doppelposten, das Gewehr bei Fuß, stand, vorüberkam, staute sich hier eine Menschen menge. Neujahrsgäste waren diese Leute sicher ! nicht. „Was gibt es?" erkundigte sich -Hagen bei dem Nächststehenden. „Ein politischer Spion ist entdeckt und ver haftet worden," bekam er zur Antwort. Als verkündeten sie den Frieden einer bes- I seren Welt, schwebten indessen die Kirchenglok- I kenklänge über Helsingsors hin. Auf der Espla- I nade begann das Leben zu wogen; pfeilschnell I schossen elegante Schlitten, mit in Pelzen ge- I hüllten Herren^ und Damen vorüber. Am I Horizont brach ein blasser Sonnenstrahl her vor, vergoldete die Alexandersäule und lag glitzernd über dem eisumstarrten Hafen. Ein neues Jalr — eine neue Zeit . . . Neu der Mut und neu die Hoffnung! schien das Him melslicht zu künden. Auch die zwei, die sich im Hotelzimmer gegenüberstanden, vernahmen die Glockenklänge. Aber sie fühlten nicht den Mut zu glauben an ein Glück . . . Regine Schumann, die routinierte Schau spielerin, stand verwirrt und befangen vor dem unerwarteten Gast, der gekommen war. Nicht der Russe, Leutnant Sergius Dimitrowitsch, war er, sondern der junge Deutsche, Herr Ju lius Rosenberg. Etwas ungemein Achtunggebietendes, ein sittlicher Ernst, lag über seiner sehr sympathi schen Persönlichkeit ausgegossen. Das heiße Glückserwarten, das Regine bei seinem Ein tritt durchflutet und nach der vergangenen Szene mit ihrem Stiefvater wie ein süßer Rausch er füllt, war schon nach den ersten Worten des Gastes wieder erloschen. „Ich komme im Auftrage unseres gemein samen Freundes in der deutschen Heimatstadt, Kurt Weltner, Fräulein Schumann. Er läßt durch mich Sie fragen, ob Sie die heißen Ge fühle, die er Ihnen entgegenbringt, teilen — ob Sie seine Frau werden wollen." Eigentümlich schwer waren die Worte aus Rosenbergs Mund gekommen. Als sei es seine Pflicht, etwas nachzuholon, fuhr er jetzt hastig fort: „Als ich- Kurts Brief erhielt, dachte ich: armer Freund, dir blühet diese Rose nicht. Verzeihen Sie, mein Fräulein — ich erinnerte mich Ihres offenkundigen Verehrers, des Herrn Leutnant Dimitrowitsch. Von gestern aus heute aber hat sich ja nun so Ungewöhnliches ereig net, daß ich überzeugt bin, — Freund Kurt — doch — eine günstige — Antwort — mit- teilen — zu können." Mit deu widerstreitendsten Empfindungen hatte Regine die Worte vernommen. Jetzt richtete sie sich zu ihrer schlanken Höhe auf und fragte erstaunt: „Von gestern auf heute hat sich Un- I gewöhnliches zugetragen, etwas, das mit mei nem kleinen Schicksal zusammenhängt? Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Herr Rosen berg!" „Nicht? Ich bedanre, wenn ich Ihnen Schmerz bereite durch die Mitteilung, daß Leutnant Dimitrowitsch inzwischen der politi schen Spionage überführt und seine Verhaf tung erfolgt ist." Es wurde still im Zimmer. Regine war ans Fenster getreten, ibre Gefühle dem Gast zu verbergen. Als sie sich ihm endlich wieder zuwandte, lag es aus ihrem schönen Gesicht wie Erlösung von langer Pein. „Meinem Herzen hat Leutnant Dimitro witsch nicht nahe gestanden. Im Gegenteil. An meinem Entschluß, Freund Kurt gegen über, ändert demnach des Leutnants Tat nichts. Ich beklage, Kurt, diesem guten, lie ben Menschen, Schmerz zufügen zu müssen. Doch ich kann ihn nicht heiraten, denn — ich liebe — einen — anderen." Sie batte dieft Erklärung mit einer kleinen, hastigen Geste begleitet. Die Folge war ein leises, klirrendes Geräusch. Aus den Falten ibrer Bluse, dahinein es sich verirrt, war das Medaillon geglitten und zu Boden gerollt, wo es mit aufgesprungener Kapsel, gerade vor dem Gast, liegen blieb. Ein leiser Schrei entrang sich der Schau spielerin, indes Rosenberg wie verzaubert aus