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saß er doch Stolz. Ebenso stark war das Rechtlichkeitsgefüht in dem kranken Manne aus geprägt; er wäre lieber Hungers gestorben, als daß er sich auf unreelle Weise etwas angeeig net hätte. Wie ein Donnerschlag traf es ihn daher, als eines Tages die Polizei in seinem arm seligen Heim erschienen war und Frau Anna vor Gericht geladen hatte. „Meine Frau!? Was soll sie getan haben?" hatte der Kranke gekeucht, und sein fieberhei ßer Mick hatte Anna gesucht, die stumm und leichenblaß an der Wand gelehnt. Dann aber war Leben in sie gekomuren. Mit jener trotzigen Energie, wie große Not sie im Menschen weckt, hatte sie erklärt: „Die Kinder weinten vor Hunger und mich selbst hungerte heftig. Was ich aus der Ma schine verdient, hätte nicht weit gereicht. Da versetzte ich die fertig genähten Wäschestücke, — in — der — Hoffnung, daß irgendwoher Hilfe kommen werde, — ich — die — Sa chen — wieder — einlösen — könnte." Die Bestätigung ihrer Schuld hatte auf den Kranken furchtbar aufregend gewirkt und da mit sein Leben in Gefahr gebracht. Erst das milde Urteil des Gerichts, das in Anbetracht der traurigen Lage, unter der Frau Anna ge handelt, diese nur mit einem Verweis bestrafte, jedoch auf freiem Fuße ließ, hatte Berger einigermaßen beruhigt. Zwischen den Gatten aber vestand seitdem ein Riß, den die Zeit zwar zugeflickt, der sich aber wieder öffnete, sobald sich dazu die Ge legenheit bot. Auch jetzt fuhr Berger mißtrauisch auf. -- „Gesunden hast Du das Geld?" stierer mit scharfer Betonung hervor und berührte die Brieftasche nicht, die Frau Anna vor ihn hin gelegt. In ihre Augen traten Tränen. „Ach so, Du mißtraust mir, Fritz. Aber cs ist die Wahrheit, die ich sage." Und sie begann zu erzählen. Die Kinder hatten ihr Spiel gelassen und waren neugierig lMcmgetretem Den Finger im Mäulchen, sah die drei jährige Susi aus Mama, die so viel zu er zählen hatte. Den kleinen Gert aber fesselte die schöne silberne Brieftasche, die auf Papas Bettdecke lag. Gar zu gern hätte er sie einer eingehenden Betrachtung unterzogen, und als Mama sie jetzt öffnete, sah er mit glänzeniden, verlangen den Augen auf die Tasche. Das Papier, das Maina ihr entnahm, war gar nicht schön, aber die Tasche, die so fein glänzte. „2000 Mark, Fritz - 2000 Marl," sagte Frau Anna tiefatmend. „Herrgott, wenn die unser wären!" Nervös schob der Kranke die Geldscheine von sich fort — „Unsinn, sich so etwas vorzugauteln!" ta delte er. „Das Geld wird abgegeben, hörst Du? Entweder oekommt der Verlierer es zu rück oder die Polizei — damit basta! — — Gott hat aus andere Weise geholfen. Hör' nur. Während Du fort warst, war der Dok tor hier. Er hat für uns etwas ausgewirkt — ein Legat von 50 Mark, das für einen Kranken ausgesetzt ist. Einer von der Polizei wird woll noch heute kommen und mich aller hand ausfragen — der Herr Polizeirat har nämlich das Legat zu vergeben — und so ohne Weiteres geschieht das nicht. Also —" Mit sehr gemischten Gefühlen hörte Frau Anira zu. 50 Mark? Ja, es war ja gut und schön, wenn sie die^e bekämen. Aber was waren 50 Mark gegen 2000 Mark? Neber dem Sprechen hatten die Eltern nicht gewahrt, daß der kleine Gert sich davon gemacht hatte. Das tat er freilich oft. Lief aus dem elterlichen Hinterstübchen, wenn es ihm dort zu enge ward, über den Hausflur und wie der Wind hinaus auf die Straße. Hier gab es immer etwas zu sehen und Spielkameraden die Menge! Otto — Willi und August, und >vie sie alle hießen. Heute hatte Gert es besonders eilig. Er wollte seinen kleinen Freunden etwas zeigen — die feine, glänzende Tasche nämlich, die Mama init he angebracht, und die er glückl ich erwischt, ohne daß die Eltern es bemerkt. Fast aber hätte er seine Mission vergessen, denn gerade entgegen kam dem kleinen Mann ein großer Mann, mit blankem Helm und blanken Knöpfen. Gert staunte ihn gebührlich an wie immer, wenn er einen Helm und blanke Knöpfe sah. Ei, war der ein feiner Mann, und wie alles an ihr» blitzte! Am Ende war der feine Mann der Kaiser! Gert war sonst ein kecker Wicht. Aber der Gedanke eben überwältigte ihn doch und er ward daher blutrot, als der blanke Mann plötzlich stehen blieb und seine Augen durch dringend auf die silberne Brieftasche l eftele, die der Junge wie eine Trophäe hochhielt. Diese sichtbare Bewunderung schmeichele Gert, und mit wiedererlangter Keckheit sagte er: „Wenn Du der Kaiser bist, will ich Dir die schöne Tasche schenken. Willst Du sic ha bcn?" „Danke," sagte der Gefragte. Griff hastig nach der Gabe, hielt aber die braune Jungen- Hand, die sie ihm bot, mit fest. Und nun ward Gert Berger in ein richtiges Verhör ge nommen. Kreuz und quer gingen die Fra gen, und der Fragesteller ließ sich keine Mühe verdrießen. Er fragte so oft, bis er aus dem Jungen heraus hatte, was er wissen wollte. Dagegen aber blieb der Polizeibesuch, den der Kranke bezüglich des Legats erwartet lalle, aus. Alle Nachbarn liefen zusammen, in weni gen Augenblicken war das Haus von einer Menschenmenge umlagert, als um die sechste Nachmittagsstunde Frau Anita Berger von der Kriminalpolizei abgeholt wurde. Herzerschütternd drangen die Klagelaute des kranken Berger bis hinaus auf den Flur. Der Arzt hatte angeordnet, hrß er inS Kran kenhaus überführt werde. Die Kinder waren nicht sichtbar — eine Nachbarin hatte sie ausgenommen. War das ein Flüstern und Murmeln; im mer noch kamen neue Nachbarn hingu. Herr gott, — der Jammer! Freilich hptte sich die junge Frau Berger schon einmal vergangen. Nun, das war da mals vertuscht worden und auch nicht lo schlimm gewesen. Aber jetzt! „Bei aller Eutschuldiglung wegen Krank heit und Not, aber es so gleich zu treiben, zur Diebin schlimmster Sorte zu werden, das ist denn doch unerhört!" entrüstete sich eine Frau. „Was ist denn eigentlich geschahen, — ich weiß voll nichts!" fliisterte eine andere. „Was, Sie wissen die Geschichte nicht? Sie steht ja doch schon in der Zeitung! — Beim Baron von Eichstädt in der Lützow- slraße ist doch heule nacht ein frecher Dieb stahl ausgeführt worden — eine silberne Brief tasche mit 30 000, sage 30 000 Mark entwcn det worden! Tausend Mark hat der Herr Baron dem ausgesetzt, der den Dieb nachwei- 'en kann. Und nun —" „Nun -?" Ja, denken Sie nur, die Bergers sollten ein Legat bekommen und einer von der Po lizei war abgeschickt worden, sie 'n bischen auszufragen, wie das immer bei solchen Sa chen ist. Vor dem Hause hier trifft er den kleinen Gert und dsc — ja, es ist kaum zu glauben! — der spielt mit der entwendeten silbernen Brieftasche des Herrn Baron Eich städt! Nun, das weitere kann sich ja jeder mann denkens" „Ja, hat Frau Berger denn gestanden?" m// MW naWaM brocheu. Tas war wirklich ein trauriger Ge burtstag! Eine Viertelstunde später stand Onkel Doktor, den Mariechen so gut kannte, an ihrem Bette, auf das die hilfreichen Leute sie getragen hatten. Seine Hand glitt prüfend über das arme gebrochene Bein, dann trat er an den Tisch und nahm Mariechens Kvrallen- kette auf, die die Mutter dahin gelegt hatte. „Hast Du denn schon gezählt, wie viel Korallen Du an der Kette hast, Mariechen?" sagte er. Mariechen schüttelte den Kopf, die Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Nein, Onkel Doktor, aber ich kann jetzt auch nicht zählen, es tut so schrecklich weh .. ." sagte sie kläglich. „Das ist gleich vorbei, paß nur auf. Nun zähl' mal die Korallen hier, ich möchte wirk lich gern wissen, wie viele es sind!" Onkel Doktor legte das Kettchen in ihre Hand, dann trat er an den Tisch zurück, goß aus einer Flasche etwas Klares auf ein Tuch und wandte sich wieder zu Mariechen. „Komm', riech' mal!" Er hielt das Tuch vor Mariechens Näschen, und sie hörte einen Augenblick auf mit Zählen und atmete tief den starken Geruch ein. „Fünf — sechs — sieben — —" o wie gut es tat, das kühle Tuch vor dem Ge sicht „acht — neun ze — — hn — was für eine Zahl kommt jetzt — z—w—a—n—z—i—g — nein, das ist doch nicht richtig ..." Mariechen besann sich, aber ihr wollte die Zahl gar nicht einfallen — — es war ihr mit einem Male, als sänke sie sacht ganz tief, tief hinunter wie auf einer weichen Wolke — immer tiefer vor ihren Ohren plätscherte und gurgelte es wie Wasser. Richtig, da war sic auch hinuntergeglitten in einen klaren blauen See — — oder war's gar das Meer? Jisch- lein schossen flink nnd vergnügt an ihr vor bei, große, schlanke Blattpflanzen wiegten sich leise in dem klaren Wasser, und — Mariechen rieb sich die Augen — da kam gar ein rich tiges Nixlein, wie sie in dem schönen Märchen buch, das Großpapa ihr geschenkt hatte, abge bildet waren, hinter einer solchen großen Pflanze hervor auf sie zu und sagte freund lich: „Guten Tag, Mariechen! Du hast ja eine Kette von meinen Korallen um - willst du einmal meinen Garten sehen, wo sic wach sen ?" Sie nahm Mariechen bei der Hand und tauchte wiederum tiefer und tiefer bis ganz unten auf den Grund. „Nun sieh dich einmal ordentlich nm!" sagte das Nixlein lächelnd. „Ihr Menschen wißt gar nicht, wie schön es hier unten ist. Gerade wie ein Garten bei Euch, nicht wahr?" Ganz erstaunt und neugierig sah Marie chen sich um. Nein, war das schön! Wirklich, gerade wie ein Menscheugarten wars hier unten. Feingliederige schlanke Pflanzen mit langen, sich ausstreckenden Zweiglcin breiteten sich wie ein feines, grünes Netz über den Boden, dickköpfige Schwämme, hinter denen ganz kleine Fischlein Versteck spielten, machten sich zwischen ihnen breit, große purpurrote Blätter, die dicht aneinander wuchsen wie Salatköpfe, leuchteten rechts und links her über, und dann wieder gabs stämmige, derbe Gewächse, die hoch und stark wie ein Baum in die Höhe ragten, und mit ihren verschlun- gmen Aesten Laubeugänge und Lusthäuschen bildeten, in denen man sich verstecken konnte. Dazwischen lagen dann wieder ganz zarte, spinnwebdünne Pflänzlein am Boden, und über all die Pracht hin glitten die Wellen und spielten in allen Farben, wie wir sie im Regenbogen sehen. Mariechen kam es vor, als sei sie in einem Zaubergarten. Fest hielt sie das Nixlein au der Hand und fragte schüchtern: „Was macht Ihr denn hier unten mit all dem vielen, was hier wächst?" „Das ist Futter für die Millionen von Tieren, die hier unten wohnen — sieh eiu- mal —" sagte das Nixlein freundlich, und deutete dabei auf eine Stelle, wo die Pflanzen üppiger wuchsen als anderswo. Dort kribbelte und wimmelte es von Tieren; am Boden logen graue Muscheln, die ihre Schalen ge öffnet hatten, pfeilschnell schossen Fische mit glänzendem, blankem Rücken durch die Lauben gänge; fette Schnecken krochen gemächlich an den grünen Pflanzen hinauf; große, grau haarige Walrosse nagten daran, und behäbige Schildkröten krochen schwerfällig zwischen ihnen umher. Lachend wollte Mariechen eins der Fischlciu greifen, aber es war schneller als sic, es verschwand in einein dichten, rosenroten Walde — oder wars ein Blumengarten? Neugierig trat Mariechen näher heran, und das Nixlein sagte : „Sich, hier wachsen Deine Korallen!" Erstaunt blickte Mariechen auf den Blu- menwald, denn so konnte man ihn wohl nennen. Halb wie Büsche, halb wie Bäume o ussehend, ragten Gewächse empor, die lebendige Blumen trugen — Blumenticre hätte mau sie nennen können. Manche waren rosig ge färbt, manche purpurrot, andere psirsichfarbru oder goldgelb; Insel» nnd Klippen gabs, haushohe Burgen und Schlösser mit Zinne» 3 und Türmchen, so fein und schön, wie kein Maler der Erde sie malen, kein Baumeister sic hätte ausführen können. „Sich, von hier holen die Menschen die Korallen, Mariechen!" sagte ihre frcnndlime Führerin. „Diese Korallenbänke, wie ihr Menschen sie nennt, bestehen aus Millionen kleiner Tierchen, nicht größer als ein Nadcl- knopf. Wenn sie sterben, versteinern sie, uud die Korallenbauk oder das Korallenschloß wird größer — und aus dem Steingrabe heraus wachsen neue lebendige kleine Tiere wie far benprächtige Blumen, und wieder sterben sie und werden zu Stein. So komme» in Tau sende» von Jahre» die Korallengebilde zu stande, von denen die Menschen dann Stücke abbrcchen und abbröckeln zu ihrem Nutzen. Möchtest Du nicht lieber hier bleiben, kleines Menschenkind, und in solch einen, Korallen schluß wohnen und mit uns spielen?" Mariechen bedachte sich einen Augenblick, aber daun schüttelte sie den Kopf. „Ich möchte doch lieber wieder zu meiner Mutter und zu Meta," sagte sie zögcrnä, „aber vielleicht können sie . . ." In diesem Augenblick kam ein gewaltig großer Fisch auf sie zu. und ängstlich ver steckte sie sich hinter dem Nixlein. Das Wasser rauschte und schwoll unter den Flossen des Wassertieres; es schien Mariechen, als werde sie nach oben gezogen, und sie machte die Augen auf . . . Erstaunt sah sie sich um — — da war kein Korallcnschloß mehr, keine spielenden Fisch- lei», keine grünen Seebäumc und kein Nir lein. Die Mutter beugte sich über sie, und Onkel Doktor stand am Waschtisch und trock nete sich die Hände. „Nun, Mariechen, Du träumtest wohl recht schöu?" fragte er. „Mein Bein . . .?" fragte Mariecheu ängst lich — jetzt erst wieder fiel ihr das arme, ge brochene Bein ein. „Das haben wir gut besorgt und aufge hoben, als Du schliefst," sagte Onkel Doktor lächelnd. „Bloß still liegen mußt Du jetzt vier Wochen lang, dann kannst Du wieder hinüber zu Meta laufen. Und nun erzähl mal, was träumtest Du denn? Ordentlich vergnügt sahst Du aus, als wir Dein Bein fcstwickelten!" lind Mariechen erzählte. „Jetzt habe ich die Korallenkette »och einmal so lieb, Mutti," sagte sie. Die Bewohner der Erde. Hast du schon die Sonne gefragt, wohin sie des Abends geht, wenn sie hinter die Berge hinabsinkt? Ich denke wohl, hinter den Bergen wohnen auch Leute, nach denen »ruß sie sehen, und sie scheint auch dort auf Wiesen und Felder, auf Städte und Dörfer. Oder den Bach, der da außen vorbeiläuft, hast du ihn einmal gefragt: „Wo hinaus, Freund?" Der hat nimmer Ruhe, muß hin unter in den Fluß uud mit ihm bei mancher schönen Stadt vorbei, bis hinaus ins Meer. Wer da mitwandern könnte — mit der Sonne über die Berge, oder mit dem Bache zum Meere. Da gäbe es viel zu sehen und zu hören; denn die Erde ist groß und schön uiid voll Mannigfaltigkeit Es leben viele Millionen Menschen auf der Erde, und sie sind von verschiedener Gestalt und Farbe. Menschen, wie wir, mit weißer Haut und roten Wangen, wohnen in ganz Europa, in einem großen Teil von Asten, auch in jenem Teile von Afrika, der Europa am nächsten liegt, und cs sind ihrer selbst viele in Amerika und Australien heimisch geworden. In Afrika wohnen die schwarzen Neger mit wolligem Kopfhaare; in Amerika die kupferfarbigen Indianer; in Asien die gelben Mongolen mit dünnem schwarze» Haar und kleinen, schiefac- schlitzten Augen; auf der Halbinsel Malakka uud auf zahlreichen Inseln des großen Ozeans leben die braunen Malaien. In den heißen Erdstrichen fällt nur auf den höchsten Gebirgen Schnee. In jenen Ländern stehen prächtige Wälder mit immer grünem Laube, in den Wäldern schwirrt und lärmt es von buntfarbigen Vögeln und man cherlei Affen, und der Boden bringt dort reiche und mannigfaltige Frucht, ohne daß der Mensch viel zu säen und zu pflanzen braucht. Aber in den Wäldern lauern auch giftige Schlangen; in Asien und Afrika leben Löwen, Tiger und andere reißende Tiere, die selbst den Menschen anfallen. In den kalten Erdstrichen hingegen wird cs sogar den Tannen zu kalt; das Land ist unfruchtbar und öde, nnd nur wenige Tiere bieten dem Menschen die Mittel zu seinem Unterhalte. Doch der Eingeborene liebt auch in diese» unwirtlichen Gegenden seine Heimat und sein Vaterland und weiß sich seinen Aufenthalt so bequem und angenehm zu machen, als es möglich ist. Den Kindern möge Kindlichkeit und Welt vertrauen bewahrt bleiben so lange als mög lich; Kindlichkeit ist der fruchtbare Boden für das Schöne; Weltvertrauen ist der fruchtbare Boden für das Gute. .