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VMM W HchMriii Enllhiilkr ämriUl Tageblatt. Sonntag, de« 26 Oktober IVIS Nr. SS« 4«. Jahrgang Der Sonderling. Von S. Hal m. Nachdruck verboten. Er war jetzt etliche 50 Jahre alt gewor den, der selisame Mann, den die biederen Kleinstädter nur den verrückten Doritor nann ten. Droben am Berg hatte er sich eine Villa erbaut und hauste darin Sommer und Win ter, zumeist nur mit einer alten Haushälte rin, die ebenso wortkarg war wie ihr Herr. Nur aus ein paar Wochen kam zur Hochsom merszeit eine sehr schöne Frau. Die alte Christine nannte sie die gnädige Frau Dok tor, und daher wußtens die drunten im Städt chen, das; es die Frau des wunderlichen Man nes war, der menschenscheu jeden Umgang mied, und dessen gütige Augen so sonderbar zu seinem sonstigen verschlossenen Wesen Paßten. Einige Jahre hatte der Doktor schon dro ben in seinem Bucn retiro gehaust, und die teilte batten sich an seine Art, allein und unbehelligt leben zu wollen, nachanfänglichem Kochzerbrechen so ziemlich gewöhnt: da brachte ein neuer Gerich.sassessor heraus, daß sein Vater ein Studiengenosse des Einsiedlers dro ben gewesen sei — und bald raunte man sich allerlei zu im Städtchen, am Biertisch, beim Kaffeekränzchen, in den Gesinde finden. Der Doktor hatte es in seiner Jugend toll getrieben, war ein Fraucnverfnhrer gewesen und labe sogar einem Kollegen die Fran abspenstig gemacht. Die war jetzt seine eigene chrau; allein die Gatten sollten nicht glücklich leben, llnd die ehemaligen Kommilitonen batten den Doktor geächtet. Der Herr Assessor wußte alles ganz ge nau. Ein Prozeßlansel sollte der Dvlltor ge wesen sein und mit keinem Frieden gehalten haben. Die Gesellschaft habe ihn darum boy kottiert und er sich in der Folge hierher zu rückgezogen. So erzählte man sich, als Gabriele Sön- neken auf Besuch zu ihren Verwandten in dem kleinen Provinznest kam. , Sie war ein echtes modernes Großstadt- d'..O. Entsetzt drehten sich die braven Klein städter aus der Straße nach ihr um, als sie im geschlitzten Coutawa'h-Nock, mit Schleier- strümpsen und in Hochstöckeligen Lackschuhen über die Promonade ging. Die junge Dame besaß entschieden — nach der Meinung der Honoratioren — eiwas fri vol Herausforderndes. Gewiß — sie Ivar hübsch. Ob das Hochblond jedoch echt? Und „die" Frisur! Natürlich Paris! So etwas hatte man noch nicht gesehen. Die jüngeren Herren fanden sie zwar totschick; die Alten zwinkerten pfiffig mit den . Augen; die Damen aber waren samt und sonders chokiert. Gabriele Söuneken bemerkte es voll inne rer Belustigung. Gott, waren diese Philister komisch! Umsonst waren des Assessors und feiner Gattin Mahnungen, sich doch zusammen zu nehmen. — Gabriele konnte es sich hin und wieder nicht verkneifen, die autoritativen Damen merken zu lassen, wie vorsintflutlich sie, Gabriele, sie alle fand. Heimlich seufzte die Frau Assessor, und hatte nur einen Wunsch, die renitente Kusine recht bald wieder los zu werden: indeß halte Gabriele einan stichhaltigen Grund gefunden, länger als sie selbst es für möglich gehalten, bei den „Sudalternenseelchen", wie sie die Verwandten liebevoll benannte, auSzuharren. Sie hatte Doktor Hermann kennen gelernt — durch einen Zufall. In Begleitung ihres Wolfshundes Lutz hatie sie den Berg bestiegen und war, von Neugier getrieben, auch an den Bchitz des Maunes herangekommen, von dein man ihr so „Furchtbares" erzählt. Jbr war der Dok tor die einzige Persönlichkeit im Ort, die ihr Interesse wachgevufen hatte. Allein, noch nie hatte sie den Sonderling zu Gesicht bekom men. Heute, wo sie neugierig über den Sta- cheldraht bewehrten Zaun spähte, empfing sie wütendes Hundegebell. Dian, des Doktors großer Neufundländer, gebärdete sich wie außer sich. Kein Locken und Zureden Gabrielens half; der Hund fletschte die Zähne, und schon begann auch Lutz nullend zu bellen, als eine sonore Männerstimme dein Neufundländer Ruhe gebot. Gabriele hatte sich den interessanten Mann anders gedacht, dämonischer, hagerer, wilder. Statt ihres Fantasiegeb eld es trat Höll ich, wenn auch zurückhaltend grüßend, ein nur mittel großer, kräftiger;, noch blonder, kaum leise er grauter Mann aus sie zu, dessen gute blaue Augen sie überraschten. War das der gefähr liche Frauenverführer? Der Renegat, von dem die Leute da unten so gruselnd gesprochen? Unwillkürlich mußte sie lächeln. Und beider Blicke senkten sich ineinander. Der Doktor bat wegen seines Hundes um Verzeihung. Dian sei an Fremde nicht ge wöhnt. Selten, daß ein Mensch sich herauf verirre; die meisten mieden den Weg hier herum. Es klang nicht etwa Bitterkeit aus den Worten. „Und mich trieb gerade — nun sagen wir's ehrlich — die Neugier." Sie sagte das lächelnd, freimütig, uvd wieder begegneten sich beider Augen. „Gnädiges Fräulein hatten keine Furcht?" — Wie seiner Spott zuckte es um seine Lippen. „Furcht? Ich?" „Pardon, nicht vor mir, aber vor dem Urteil der anderen. Man wird Sie tadeln, wenn man erfährt . . ." „Daß ich mit Ihnen sprach? Mag man! Uebrigens bin ich nicht allzu mitteilsam." „Das ist allerdings eine Ausnahme bei Damen." Ihr feines Näschen hob sich indigniert. „Sie sind Frauenverächter?" Nun lächelte auch er. Es war ein gutes Lächeln, das ihn merkwürdig verschönte. „Ausnahmen lasse ich immer gelten." „Ach, lassen wir die Komplimente," meinte sie in ihrer etwas burschikosen Avt. „Ich weiß, was und wer Sie such — ich bin Ga briele Söuneken, Verwandte des Assessors L. unten. Man nennt mich emanzipiert; hier sind alle entsetzt über mich — nun wissen Sie's. — Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu überrumpeln, Herr Doktor. Trotzdem gestehe ich, daß ich neugierig aus Sie war." „Wenigstens ehrlich!" „Ja, so bin ich — zeitweilig." Sie lachten beide. „Gnädiges Fräulein werden lange bleiben?" „Lange? — Vielleicht — vielleicht reise ich bald. Die Menschen da unten sind ja furcht- bar. Das heißt, wenn man sie ernst nimmt — aber ich habe Sinn für's Komische. Und zu Hause kann man mich noch nicht recht brauchen. Die gute Mama zieht um; da bin ich überflüssig, unbrauchbar. Ach ja — ich habe eigentlich gar keine Talente." Doktor Hermann bat seinen Gast, doch näher zu treten. Er zeigte Gabriele Garten und Haus, zeigte ihr anch das Bild seiner Frau. „Ein schönes Gesicht!" bewunderte sie. „^a, schön ist meine Frau." Er sagte es mit einer eigenen Betonung. Gabriele betrachtete sinnend das Bildnis. Also das war die Frau, um die dieser Mann soviel gewagt und gelitten? Ein Gefühl von Neid kam über sie. Sie empfahl sich dankend. Zu Hause verschwieg sie ibr Erlebnis. — Ein eigener Reiz lag für sie in diesem Ge heimnis. Ein paar Tage darauf machte sie den gleichen Weg, und dieses Mal kam ihr der Doktor schon entgegen. Sie sah ihn von weitem, wie er das Gartentor öffnete. Bald sahen sie sich täglich. Es war etwas Wunderliches zwischen ihnen, nichts von Ero tik. Gabriele wußte bald, das lag hinter ihm. Es war ein SicheHingezogenfühlen von Mensch zu Mensch. Herrliche Stunden waren das. Dann eines Tages bat sie der Doktor mit ins Haus zu kommen: seine Fra,u sei da. Gabriele folgte voll Neugierde seiner Einladung. Sie fand eine elegante Mode dame, voll konventioneller Liebenswürdigkeit, etwas oberflächlich in ihrem Wesen, die ner vöse Reizbarkeit eines verzogenen Weltkindes verratend. Und Gabriele fühlte den Abstand, der zwischen den beiden Gatten sein mußte. Nichts von Großzügigkeit haftete dieser schö nen Puppe an- Wie war der Doktor zu der Frau gekommen? In Gabriele selbst vollzog sich eine Wandlung. Schlummernde Keime entfalteten sich. Das Starke, Trotzige ihrer Natur streifte die Hülle des Kindischen ab. Eine andere ging sie, als sie gekommen. Ja, sie ging. Sie mußte. Man rief sie heim. Es war an der Zeit. Wie ungern sie 4 « K Allerlei Kurzweil. « « Dentsprüche. Eitles Klagen und Wimmern Wird deine Not verschlimmern, Lege nur frisch die Hände an, So ist das Schlimmste schon abgetan. * * * Steht fest im Sturm, wenn sich das Schicksal wendet, Kein Herz ist so verarmt und so verlassen, Daß nicht ein Engel wieder Trost ihm spendet. Rätselecke. Mts-l. Zwei liebliche Schwestern verbanden sich, Und sind dann als Eins nur bekannt: Als Zwei in Deutschland geboren, als Eins Gestorben an deutschem Strand. Und wird dem Einen ein anderes Herz, Ein fleißiger Mann wird genannt, Im dürftigen Heim oft für kärglichen Lohn Schafft mißlichen Stoff seine Hand. Und Einen auch ncmu's, dem der Muse Gunst Den Kranz des Ruhmes wand, Ein Meister im Reich der Töne, der Viele holde Weisen erfand. Bnchstaben-Rätfel. In der Oper hörst du's singen, Auch in Kirchen wird's erklingen; Fügst als Kopf ein M du an, Jst's ein Mädchenname dann. Scharade. Ein jedes Kind das erste kennt, Und niemand es entbehren kann. Zwei-drei ein jeder Arbcitsmann Und Landmann wohl sein eigen nennt. Einst halt' das Ganze oft die Frau, Trug sie es auch nicht gern zur Schau. Auch mancher Mann, wird älter er, Entbehrt nicht gern das Ganze mehr. Doch zweifellos cs ihm mißfällt, Wenn man ihn selbst für's Ganze hält. Silben-Rätsel. Die erste ist ein Silberstück, Die zweit' ein Wasserpfad, Das Ganze war mal Republik Im großen deutschen Staat. Homonym. Man nimmt mich ein Und man bedient sich mein Soll eine Festung eingenommen sein. — Ninimt man mich ein, So soll ich Heil und Leben, Und — nimmt man durch mich ein Verderben geben. Dreisilbige Scharade. Durch die Lüfte hin und her Können dich die ersten tragen. Wenn drei dein eigen wär, Könntest du wohl vorwärts jagen. Jag' das ganze noch so schnelle, Nimmer kommst du von der Stelle. Scherzrätsel. Von den Propheten mein' ich einen, Nicht von den großen, von den kleinen. Nimmst du das letzte Zeichen fort, So hast du mich. Wie heißt das Wort? «ilder-Rätsel. AustSsungen ans Nummer 42. Der Rätsel: 1. Speiche — Speicher. 2. Ode — Mode. Des Verwandlungs-Rätsels: Psalm — Salm — Alm. Des Logogriphs: Lahn — Lehn — Lohn. Des Scherzrätsels: Rotte — Karotte. Des Bilder-Rätsels: Erdbebenvorautzsage. Des Vexierbildes: Im Gezweig dicht an der linken Seite de« Bildes. Lin-er-Zeitnug 1913. Nr. 43. j Redaktion, Druck und Verlag von Horn L Lehmann, Hohenstein-Ernstthal. Müder Glanz der Sonne! Mattes Himmelsblau! Von verklungner Wonne Träumet still die Au. Herbftgefüht. Von der letzten Rose Löset lebenssatt Sich das letzte, lose, Bleiche Blumenblatt. Goldenes Entfärben Schleicht sich durch den Hain — Auch Vergehn und Sterben Deucht nur süß zu sein. Ser kleine Tambour nnd der große Riese. Ein Märchen, nacherzählt von Friedrich Thieme. Es war einmal ein großer Riese. Mit seinem Kopfs überragte er die höchsten Kirch türme, seine Augen glichen feurigen Luftbal lons, sein Mund besaß die Weite eines Scheu nentors. Seine Wohnung hatte er auf einem hohen Berg neben der Residenz, da lag er den ganzen Tag faul im Schatten und schlief, und unterbrach seinen Schlaf nur, um seine Mahlzeiten einzunehmen. Was er aß, mußte ihm die Stadt liefern, und das war nicht wenig. Ec brauchte zu einer einzigen Mahl zeit drei Wagen voll Kohl und anderes Ge müse, ein paar Ochsen oder zwölf Schweine oder dreißig Hammel, sowie zwanzig Tonnen Bier oder Wasser, und abends vor dem Schla fengehen verzehrte er als Leckerbissen noch einen Bewohner der Stadt. Jeden Tag mußte ihm einer zugesührt werden, sonst drohte er der Stadt und allen Bewohnern den Untergang, und er hätte die ganze Stadt mit seinen Tatzen leicht zusammen schlagen können. Darüber herrschte unter den Bürgern große Trauer. Durch das Los wurde täglich bestimmt, wer am Abend dem Ungetüm als Nachtmahl ans- geliefert werden sollte. Der König war untröstlich über den Jam mer und versprach dem seine Tochter zur Frau, der die Stadt vou dem Ungeheuer befreien würde. Außerdem sollte der Netter noch eine Million Taler erhalten. Viele tapfere Helden (Nachdruck verboten.) waren schon gekommen und waren voll Mut und Hoffnung nach dem Berge gegangen, aber noch keinen hatte man lebendig wiedergesehen. Eines Morgens nun vernahmen die Bürger plötzlich aus der Ferne den Klang einer Trom mel. Teromm tomm, tomm, teromm tomm tomm, kam es näher und immer näher. Neu- gierig horchten sie — da erblickten sie einen ganz kleinen Knirps, der, die Trommel um den Leib geschnallt, mit höflichem Gruße unter sie trat. „Guten Morgen, liebe Leutchen," rief er fröhlich, „bin ich hier recht in der Stadt, die von dem großen Riesen bedroht wird?" „Jawohl, Herr Tambour," entgegneten die Bürger. ,Jst's wahr, daß der, welcher den Riesen erschlägt, eine Million Taler und die Tochter des Königs zur Frau erhalten soll?" „Jawohl, Herr Tambour," nickten die Bürger. „Gut, so ist alles richtig." „Wieso? Du kleiner Knirps willst doch nicht etwa mit dem Riesen kämpfen?" „Gewiß will ich das," versetzte stolz der Knirps. „Zeigt mir nur, wo ich den Kerl finde." Die Bürger lachten laut und sagten, der Riese hätte schon ganz andere Leute wie ihn aufgezehrt — er sollte nur machen, daß er