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73, 29. März 1911. Nichtamtlicher Teil. VSrs-ntlatt f. d. Dtschn. Vuchy-I,d-I. 3923 Nichtamtlicher Teil Briefrecht. Von Justizrat vr. Fuld in Mainz. Die Literatur, die sich mit dem Briefrecht beschäftigt, insbesondere mit dem Briefrecht in urheberrechtlicher Be ziehung, ist in den verschiedenen Ländern nicht klein, sie ist namentlich in Frankreich ziemlich umfangreich, wo man von jeher sich mit einer ausgesprochenen Liebhaberei den interessanten Fragen zugewendet hat, die das Briefcecht für Len Theoretiker wie auch den Praktiker enthält. Die Zahl der monographischen Arbeiten über den Brief und die aus ihm sich ergebenden Rechtsverhältnisse wird vermehrt und bereichert durch ein soeben veröffentlichtes Werk von Lud ovic Jardel, Advokat in Douai, den die Akademie für politische und moralische Wissenschaft durch Verleihung des Odilon Barrot-Preises ausgezeichnet hat.') Diese Auszeichnung ist eine durchaus verdiente, und das Werk des Herrn Jardel, der sich bereits früher mit dem Briefrecht beschäftigt hat, wird nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland Beachtung finden. Wie in Deutschland so ist auch in Frankreich in den letzten Jahren mehr und mehr der Ruf laut geworden, daß ein Eingreifen des Gesetzgebers unbedingt notwendig sei, um dem Mißbrauch, der mit indiskreten Veröffentlichungen von Briefen getrieben wird, zu begegnen. Jardel ironisiert in geistvoller Weise diesen Ruf nach dem Gesetzgeber, — wir würden in Deutschland sagen: den Ruf nach dem Staats anwalt —, er spricht von der »Paris löxislativs», die ein Kennzeichen der heutigen Zeit sei. Ein wahres Wort! Wir haben uns auch in Deutschland über die Paris lözislativs zu beklagen, die uns jedes Jahr mit Tausenden von Para graphen überschwemmt, in denen sich schließlich niemand mehr auskennt. Eine gesetzliche Regelung ist aber nach Jardel in zivil- rechtlicher Hinsicht garnicht notwendig; die Rechtsübung muß nur die bisher von ihr festgehalteneAnschauung verlassen und aus die Beziehungen, die zwischen dem Absender eines Briefes, dem Empfänger und dritten Personen entstehen, die all gemeinen Rechtsregeln anwenden, die überall anerkannt sind. Jardel sührt diesen seinen Gedanken im einzelnen aus, und es ist interessant, zu sehen, daß der geistvolle französische Jurist von dem Boden feiner Theorie aus zu Ergebnissen kommt, die zumeist auch vom Standpunkt des praktischen Bedürfnisses durchaus befriedigen. Wenn an dieser Stelle auf diesen Teil des Buches nicht näher eingegangen werden kann, so möchte es anderseits nicht unangebracht sein, auf die Ausführungen eingehender Rücksicht zu nehmen, die sich auf die Frage der urheber rechtlichen Bedeutung beziehen. Für Jardel beantwortet sich die Frage, ob die Ver öffentlichung eines Briefes statthaft ist oder nicht, ganz ein fach. Er sagt: der Brief, d. h. das körperliche Objekt ist der Übertragung fähig, der Adressat erlangt das Eigentum daran, der gedankliche Inhalt verbleibt dem Verfasser, und ihm kommt deshalb allein die Veröffentlichungsbefugnis zu. Von diesem Standpunkt ist die Unterscheidung zwischen Briefen, die einen urheberrechtlichen Schutz genießen, und solchen, denen er fehlt, von ungleich geringerer Bedeutung als in Deutschland. Das Urheberrecht an dem Briefe gebührt dessen Ver fasser bzw. seinen Rechtsnachfolgern. Es ist nicht ohne *) laräsl, lluäüvis, I-g. l-sttrs dtissivs, pssai ä'uao tbsoris aouvslls äs lg. oorrsspoaäaaos spiktolairs. Paris 1911, Interesse, daß früher in Frankreich die Auffassung vertreten wurde, das Urheberrecht gebühre demjenigen, der Eigentümer des Brieses sei; in dem berühmten Briesrechtsprozeß, der wegen Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Ben jamin Constant und Mme. Röcamier geführt wurde, ver teidigte sogar der Generaladookat am Appellhos in Paris diese Auffassung, die in der Folgezeit in Frankreich voll kommen aufgegeben wurde. (Jardel S. 278—281.) Nur die Veröffentlichung des wesentlichen Inhalts des Briefes verletzt das Urheberrecht; Zitate aus einem Briefe läßt die französische Rechtsprechung zu, selbst mehr oder minder erhebliche Auszüge. Jardel rügt, daß die Recht sprechung in dieser Hinsicht zu tolerant sei. Der Verfasser des Briefs kann auch auf das ihm zustehende Urheberrecht zu gunsten des Empfängers verzichten, die französische Recht sprechung nimmt sogar die Möglichkeit eines stillschweigenden Verzichts an, aber es besteht keine Vermutung zugunsten eines Verzichts; aus dem Umstand, daß der Verfasser des Briefes sich eine Abschrift nicht zurückbehalten hat, kann ein Verzicht nicht abgeleitet werden. Eine interessante Frage ist die, ob Briefe polemischen Inhaltes, welche auf Grund der die Richtigstellung vorsehenden Paragraphen des französischen Preßgesetzes veröffentlicht werden, hierdurch den Charakter als Schriftwerke verlieren. Der Appellhof Paris hat die Frage in einem Falle verneint, der die Veröffentlichung von Briefen des verstorbenen Akademikers und langjährigen Herausgebers der Ksvus äss Vsax-Lloaäss, M. Brunetidre, betraf. Hinterlegt jemand Briefe in Staatsarchiven oder staat lichen Bibliotheken, so erlangt der Staat hierdurch noch nicht das Urheberrecht daran; diese für deutsche Leser selbstver ständliche Wahrheit gilt in Frankreich keineswegs als selbst verständlich, und es hat Gerichte gegeben, die sich zugunsten der gegenteiligen Meinung ausgesprochen haben. Jardel behandelt auch die Stellung der ausländischen Gesetzgebung zu den Briesen, insbesondere auch die der deutschen, Seite 287—291. Als charakteristische Eigentümlich keit derselben hebt er die Unterscheidung zwischen dem lite rarischen Brief und dem Privatbcief hervor. Unter dem literarischen Brief versteht er den Brief, der ein Schrift werk im Sinne des Gesetzes vom 19. Juni 1901 ist. Die Veröffentlichung von Briesen, dis nicht Schriftwerke sind, lasse sich in Deutschland nach der herrschenden Lehre nur dann erfolgreich verfolgen, wenn sie sich als Eingriff in die durch U 823 und 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches ge schützten Rechte erweise. Diese Darstellung ist richtig und steht insbesondere mit der Stellung im Einklang, die das Reichsgericht in dem Prozeß wegen der Nietzschebriefe eingenommen hat, (vgl. Reichsgericht vom 7. November 1908, Entscheidungen in Zivilsachen 69, Seite 401 u. folg., vgl. auch Daude, Gutachten (Berlin 1907) Seite 91 u. folg.) Es ergibt sich aus dem interessanten Buch, daß der Schutz des Rechts an Briefen in Frankreich trotz der von dem Verfasser als unhaltbar bezeichneten französischen Theorie doch viel wirksamer ist und viel weiter geht als bei uns; wir werden erst dann dahin kommen, einen genügenden Schutz zu haben, wenn in der Rechtslehre und Rechts übung die Anerkennung des Persönlichkeitsrechts zur Tatsache geworden ist. Die Lage ist in dieser Beziehung bei uns die gleiche wie in Frankreich; ein Eingreifen des Gesetzgebers zum Schutze gegen indiskrete Veröffentlichung von Briefen ist nicht notwendig; es bedarf nur der rückhalt losen Anerkennung des Persönlichkeitsrechts, des Rechts an der Geheimsphäre, dann können alle Bedürfnisse 609»