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Die Hoffnungslosigkeit aller Psychologie. 35 Es ist wohl anzunehmen, dass alle Menschen alle dem Der Kampf Menschen zukommenden Triebe haben, aber die verschiedenen "e iebe Charaktere sind deshalb so verschieden, weil nicht nur ein Trieb bei A sehr stark, bei B sehr schwach sein kann, sondern auch das Ergebniss abhängt von dem Verhältnisse der Triebe unter einander. Grosse Eitelkeit z. B. wird sich anders dar stellen bei grosser Klugheit, als bei geringer Klugheit. Man spricht von harmonischen und unharmonischen Charakteren, je nachdem die Triebe gut zusammenzustimmen scheinen oder nicht. Aber ein Kampf der Triebe unter einander findet überall statt. Man sollte meinen, der eigentliche Urtrieb, der Lebens trieb, müsste immer der stärkste sein. Aber schon beim Thiere lässt die erregte Kampflust oder das geschlechtliche Verlangen die Gefahr vergessen, so dass nicht selten das Thier dem Tode geradezu in den Rachen läuft. Den Menschen lässt Pflichtgefühl oder Mitleid, nicht weniger aber auch Eitelkeit, Furcht vor Spott und dgi. dem Tode trotzen. Wenn man von einem Wider streite der Motive spricht, oder ähnliche Ausdrücke braucht, so handelt es sich immer um den Streit der Triebe. Diese eigenthümliehen inneren Kämpfe haben natürlich der Beobach tung nicht entgehen können, und wenn auch die moralisirende Auffassung eine gewisse Einseitigkeit mitgebracht hat, so hat man doch schon frühzeitig mit treffenden Worten von der Sache gesprochen. Der Apostel Paulus sagt, „dass die Gedanken sich unter einander verklagen“, und dass „zwei Gesetze in ihm woh nen“, und Goethe spricht von „zwei Seelen in der Brust“. Jeder Unbefangene kann dabei nicht umhin, die nach verschiedenen Seiten gehenden Antriebe zu personificiren, ja Racine sagt geradezu, in ihm seien zwei Menschen. Je genauer man das Triebleben verfolgt, um so mehr erscheinen einem die Triebe wie selbständige Wesen, von denen jedes Herz und Kopf hat. Es ist durchaus nicht angebracht, Einen, der das offen aus spricht, lächerlich zu machen, da es sich doch nur um eine anschauliche Darstellung handelt, und im Grunde niemand von den geheimnissvollen Kräften unseres Innern etwas Rechtes weiss. So wenig wie ein seelisches Leben ohne den Hintergrund Die der Triebe denkbar ist, ebensowenig könnten die Triebe ohne Wahrnehmung 3*