Unerkennbar keit des Charakters. 34 P. J. Möbius, Fortschritt und keine Wissenschaft ohne ein triebartiges Ver langen nach Vermehrung und Verwerthung der Kenntnisse. Aber freilich, gerade die Denk-Triebe möchten einer sche matischen Bearbeitung ganz besonders grosse Schwierigkeiten bereiten. Der alte Rationalist Sokrates verstand nicht viel von dem Triebleben, sonst hätte er nicht sagen können : Erkenne dich selbst. Als ob das am guten Willen läge! Das ist ja gerade das Merkwürdige, dass der Kern unseres Wesens uns ganz ver borgen ist. Unter dem Charakter kann man nichts anderes verstehen, als das Stärkeverhältniss der Triebe im Einzelnen. Von vornherein weiss Einer von seinem Charakter gar nichts; er lernt ihn erst im Laufe des Lebens durch Erfahrung kennen, genau so wie den Charakter eines Thieres, das er beobachtet. Ja die meisten Menschen können sich überhaupt nicht ordent lich kennen lernen, weil ihnen das Leben gar nicht die Ge legenheiten bietet, zu erkennen, was eigentlich in ihnen steckt. Zu grossen und practisch wichtigen Verkehrtheiten hat die rationalistische Verkennung der Triebe in der Moral und der Erziehungslehre geführt. Man sieht dies besonders deutlich an der Literatur des 18. Jahrhunderts und vielleicht am meisten an der Moral Kants. Liebenswürdige Eigenschaften sind da nach, wenn sie auf natürlichen Antrieben beruhen, moralisch werthlos, sie werden dadurch erst sittlich, dass sie auf Grund sätzen beruhen. In der Wirklichkeit aber werden „Maximen“ Schall und Rauch, wenn sie nicht an den ihnen entsprechen den Trieben ihren Ankergrund finden. Davon will der ratio nalistische Morallehrer nichts hören; der Mensch soll sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe ziehen. Um der causa sui zu entgehen, stellt man ein wählendes Ich auf, das durch seine Wahl erst Eigenschaften erwirbt, als ob nicht ein reines Ich ohne bestimmte Eigenschaften eine blosse Abstraction wäre. Wenn der Mensch ein Hampelmann aus Pappe wäre, so könnte man ihn durch Ziehen am Faden des kategorischen Imperativs tanzen lassen, der wirkliche Mensch braucht als Gegenkraft gegen seine eigennützigen Triebe die Triebe zu Mitgefühl und Gerechtigkeit, und hat er diese nicht, so helfen ihm auch die Maximen nichts. Wie hoch stand psychologisch Gall über Kant!