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überbrückt. Rafael ist gestorben, sein Bild lebt aber noch, Es lebt mit mir und entzückt mich heute noch. Hier ist alles kristallklar. Nun aber nimm jenen märchenhaft blauen Rudolfs-Paradies vogel. Ich brauche nicht in die Vergangenheit zu gehen. Er selbst lebt neben mir, mein Zeitgenosse — wenn schon in recht verrammeltem fernen Tropen-Eiland. Hier im Museum steht er aber unmittelbar vor mir, nicht als Werk, sondern er selbst. Und ich — ich finde ihn „schön". Was heißt das jetzt? Ich als Mensch finde ihn schön. Er ist ein Vogel, ein lebendes Wesen weit entfernt von mir. Mir kommt das Wort auf die Lippen: welch herrliches Kunstwerk ist dieser Vogel. Aber da öffnen sich auf einmal die seltsamsten Fragen. Ist der Fall nicht doch ganz anders wie bei Rafael? Rafael, ein Mensch, projiziert Schönheitsdinge nach außen und ich finde sie wieder schön — ein glatter Kreislauf. Das Bild ist im Grunde nur ein Stück von Rafaels Gehirn, in die Zeitdauer hinein projiziert, das Gehirn selbst aber ist Ge hirn des Menschen und ich finde nur wieder, was ich selbst habe, wenn ich auch jene Projizierungskraft für mein Teil nicht besitze. Bei dem Paradiesvogel ist scheinbar nur die halbe Kreis linie ausgeschrieben. Mein Gehirn findet ihn schön, unmittel bar so bald es ihn sieht. Aber ich vermisse zunächst die andere Kreishälfte. Welches Gehirn hat diesen Vogel ersonnen? Hat ihn als „Schönheit" aus sich herausprojiziert? Auf den ersten Anblick fehlt mir jedes Band. Dieser Paradiesvogel des Rudolf mit seiner Farbenpracht der blauen Grotte von Capri — er flog vielleicht schon in den Urwäldern jenes verwunschenen Neu-Guinea, als zuerst Menschen auf der Erde entstanden. Woher kam seine „Schönheit"? Indem ich sie empfinde, träume ich, ich finde auch in ihr wie in jener Madonna Rafaels etwas wieder.