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Langsam stieg er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf und schloß die Tür auf. Da blieb er wie angewurzelt stehen. Au« seinem Zimmer klangen Klavierakkorde, und nun begann eine süße, schöne, ach, so geliebte Stimme das teure, alte Weihnachtslied: „Stille Nacht heilige Nacht!" Ohne sich zu regen, mit wildschlagendem Herzen, blieb er auf dem dunklen Vorflur stehen und hörte den ersten Vers bis zu Ende. Aber dann hielt er es nicht mehr aus. Er riß die Tür auf. Dort am Klavier, das Haupt von den brennenden Kerzen eines kleinen Weihnachtsbö umchens wie von einem Glorienschein umgeben, saß Lenore. Bei seinem stürmischen Eintritt erhob sie sich rasch. Einen Augenblick standen sie sich stumm gegenüber mit leuchtenden, nassen Augen. Dann sanken sie sich in die Arme. „Lenore," stammelte er, „mein einziger Lieblings Bist du doch wieder zu mir gekommen —" „Ja, um bet dir zu bleiben! Nur bei dir! Kein Erfolg, kein Ruhm kann mir deine Liebe ersetzen!" Zwei glückliche Menschenkinder hielten sich umfangen. „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!" sangen die Glocken von den Kirchtürmen. Des Studentrn Weihnachtsmorgen. .Von Gabriele Neuter Heinz war durch die kleine Stadt gewandert, in der er Philosophie studierte, hatte den Tönen der Kirchcnglocken durch die Schneeluft gelauscht, hatte nach den Fenstern ge späht, ob er da und dort Lhristbaumkerzen aufflammen sehen würde. Doch die funkelnden Weihnachtslichter glommen spärlich in diesem Jahr —.in vielen Häusern blieben die Fenster dunkel oder nur von der alltäglichen Tischlampe er hellt. Er seufzte und kehrte heim in seinen „Eisstall", wie er seine Bude im Winter zu benennen pflegte. Nun ja — er hätte diesen Abend m der Familie seines Professors zu bringen können — auch andere Freunde hatten ihn einge- laden. Er hatte alles abgelehnt. Es war ihm peinlich, zu wissen, daß die Kinder dann um den Teil Kuchen oder gar Braten — der Begriff „Braten" löste eine so dumme, gierige Erregung aus, lächerlich, verächtlich —! Ja, daß also die Kleinen um den Teil, den er als Gast erhielt, benachteiligt wurden. Er hatte das einmal erlebt und mochte nicht zum zweitenmal so enttäuschte Kindergesichter sehen. Und überhaupt ... Er hatte ja nun einmal Neigung für das Familienleben, war ja auch seit zwei Jahren verlobt. Und da hätte ihm das frohe, wenn auch mit Sorgen gemischte Glück der anderen nur eine tolle Sehnsucht, eine heftig niedergerungene, neu erweckt. Und wieder begann er zu rechnen, wie er schon hundertmal gerechnet hatte: noch zwei Semester Studium — dann den Doktor — dann — viel leicht — eine Anstellung als Lehrer, wenn das Glück ihm lächelte; denn auf die Universitätskarriere, von der er einst geträumt, hatte er längst innerlich Verzicht geleistet. Und doch wußte er, Heinz, ein armseliger Student, einem Penn bruder ähnlicher, mit ausgefransten Hosen und durchlöcher ten Stiefelsohlen, ganz genau: er beherbergte da oben in seinem Hirn ein Arsenal streitbarer, kühner, blitzend geschlif fener Gedanken! Und wenn er in seiner Beschiedenheit sich vielleicht nicht klar darüber war, die Freunde hatten's ihm hundertmal in freudiger Bewunderung zugerufen, wenn in ihren philosophischen Debatten die geistigen Waffen in freu digem Kampfe gegeneinanderklirrten und er immer wieder der leuchtende Sieger blieb. Das waren wohl schöne Augen- blicke, die all die Geduldsprüfungen der Privatstunden, das Schuften im Felde bei den Bauern, das seiner zarten Kon stitution nun einmal nicht lag, reichlich überwogen. Heinz vertiefte sich in die Gedankengänge, die zu dem Tempel seines Lebenswerkes führen sollten — einst, wenn er dessen reif und würdig geworden war. Schon standen seine Einteilung, die Stufen, die empor zum Heiligtum führen sollten, logisch festgeformt vor seinem Geiste. Im Durchprüfen, im Ent decken von Lücken, im Finden eines neuen Wortes für ein Aufschimmern seiner Seele schritt er eilig und eiliger durch die engen, schneeschimmernden Straßen. Schade, schade, daß seine Kerze nahezu herabgebrannt war und er das An- zünden der Gasflamme sich nicht gestatten durfte! Heute nacht — das fühlte er —, heute nacht wäre ihm die Arbeit glänzend vonstatten gegangen. Nun, was tat's, man mußte sich eben die Sätze memorieren, bis sie ehern eingeprägt im Gedächtnis standen. Seine Zimmerwirtin rief ihn an, als er an ihrer Tür Vorüberging: „Kommen Sie, Her.r Heinz; halten Sie mit; wir sitzen beim Bohnenkaffee. Man will sich doch auch was gönnen zum Christabend/ „Kein Bries für mich?" „Doch, hier — von der Mutter. Die Handschrift kenne ich doch! Ja, was 'ne Mutter ist, die vergißt doch ihren Jungen nicht . . ." „Weiter nichts?" fragte Heinz und trank zerstreut den guten, heißen Trank, biß von dem dicken Stück Kuchen ab und fühlte nun erst in der behaglichen Wärme der kleinen Stube, bei dem Arbeiterehepaar, wie der Hunger in seinen Eingeweiden gewühlt hatte. „Ich danke, Frau Gerike, danke recht sehr; aber ich muß nun hinüber." „Bleiben Sie doch noch ein bißchen — im Warmen . . „Nein, nein..." Er drehte den Brief in seinen Fingern, die zu zittern begannen. Nichts von Maria, dem geliebten Mädchen — kein Weih nachtsgruß? Daß die Mutter nichts senden konnte, wußte er . . . Doch Maria . . . Vorsichtig hatte er das Lichtstümpfchen entzündet, öffnete den Brief; die kurzsichtigen Augen hinter der Brille blickten nahe auf das Papier. Und dann sank die Hand schlaff auf das Knie; das Haupt sank kraftlos vornüber — ein Röcheln drang aus der gepreßten Kehle, ein heiseres, tränenloses Aufschluchzen. Hatte er's nicht gefühlt? Seit geraumer Feit — wie kühl, wie selten ihre Briefe . . . Und der Schmerz durch raste seine Brust. „Nicht eine kalte Anzeige ihrer Vermählung sollte Dir die bittere Nachricht bringen," schrieb die Mutter, „sonst, weiß Gott, hätte ich Dir den Christabend nicht verdorben. Aber wahrscheinlich weißt Du längst von Marias Entschluß. Man muß ihr ja recht geben, wenn sie eine Existenz ohne Sorge an der Seite eines verdienten Industriellen dem Warten auf den armen Studenten vorzieht . . ." Feige war sie! dachte Heinz, namenlos verbittert. O, so hinterlistig im Doppelspiel, um keinen zu verlieren. — Weiber — Weiber . . . Plötzlich brach er in ein wildes Weinen aus, das den unerträglichen Schmerzkampf der Brust erleichterte. Vor Maria hatte er im Geiste gekniet . . . Beatrice, Diotima Sophia, die göttliche Weisheit sollte sie ihm sein, nichts Geringeres! Die Zweite, der seine Seele jeden ge zeugten Gedanken darbrachte als ein Geschenk der höchsten Liebe... Das Kerzenstümpfchen erlosch. Der weinende Heinz saß im Finstern; nur hinter den gefrorenen Scheiben glomm ein mattes Licht von der Straßenlaterne. Und allmählich er starrte er im Frost, kroch in sein Bett, zog die Knie hoch, duckte sich eng zusammen, versuchte vergebens, sich unter der Wolldecke zu erwärmen, hauchte in die klammen Hände und wischte von Zeit zu Zeit die warmen Tränen, die ihm über die Wangen liefen, mit den eisigen Fingern ab. Es gingen die Stunden der Nacht — langsam — so langsam, wie sie den Verzweifelnden vergehen, den Kranken und Unglücklichen. Denken konnte Heinz nicht mchr; dieser Trost war ihm genommen. Es war, als fei ihm ein großer, schwerer Hammer auf den Kopf niedergesaust, daß ihm nur ein dumpfes, taubes Gefühl im Hirn übrigblieb und auch der Schmerz sich am Ende verkroch. Er mochte eingeschlafen sein, als die Winternacht der grauen Dämmerung wich. Und erwachte von einem Glanze, der seine geschlossenen Lider traf. Die Eisblumen auf den Scheiben schimmerten golden — rosenrot. Heinz sprang auf, trank die strömende, klare Winterluft in die wunde Brust, trank mit durstigen Augen das Purpurleuchten des auf steigenden Sonnenballs über die Schneehügel, in denen die kleine Stadt gebettet lag. Weit schaute er aus seinem hoch gelegenen Eisstall hinaus über die Dächer, die im Farben spiel violetter Nebeldüfte lagen, auf das Dlitzgefunkel der jäh belebten weißen Berglehnen, auf denen die Schatten in tiefem Blau dämmerten und alle Engel ihre Rosen ausge streut zu haben schienen. O goldene, himmlische Welt! Und nun stieg die Königin empor; der Purpur wandelte sich zu einer Lichtfülle sonder gleichen. Und Heinz fühlte nach dem Elend der überstan denen Nacht die göttliche Offenbarung ewigen Lichtes. Ja — es war seine Berufung, einsam zu sein — hart zu werden in, Kampf mit seinem zerrissenen Herzen, hingegeben allein der schaffenden' Lust seines Geistes. Die Geliebte hatte sich zur Seite des materiellen Behagens gewandt — wohl — sie war ein schwaches Weib. Er wollte seine Seele nicht be flecken durch Haß! Wußten sie nicht gläubig und hoffend, er und der Kreis seiner Freunde, daß ihnen das Los gefallen war, in Entbehrung und Hunger an dem Schwerte des Geistes zu schmieden, das Deutschland befreien sollte aus der Gewalt des Drachens Materie? „Komm, Leid, ich drücke dich an die glühende Brust, damit du mein Inneres reinbrennst zur Arbeit meines Lebens — zur Arbeit für mein deutsches Vaterlandl" In die braune Wolldecke gewickelt, zerrissene Filzpan toffeln an den Füßen, eine armselige und lächerliche Gestalt, stand der Jüngling am Fenster, und das Haar fiel ihm wirr in die mächtige Stirn, die gebadet wurde'von dem Glanz der Morgenstrahlen. Weit breitete er die Arme dem Gestirn entgegen: „Erlöse mich — erlöse uns, Gott des Lichts und der erwachenden Welt, von aller Verzagtheit! Stärke uns zu feurigem Tun, auf daß wir würdig werden der Berufung: die Sonnensöhne deines Geistes!" , O Tannenbaum." k Wenn alle Lampen im Weihnachtszimmer ausgedreht sind und jede andere Beleuchtung ausgeschaltet ist, wenn nur noch einige letzte Kerzen am Christbaum brennen, schon tief her- untergeglüht und in den Zweigen verkrochen, dann kommt die schönste Stunde des ganzen schönen, heiligen Abends. Die Stunde der stillen Nacht, des Schweigens und des Träumens. Dann versinkt das Zimmer in magisches Helldunkel mit tiefen schwarzen Schatten, die das Begrenzte des Raumes wegtäuschen, und an der Decke beginnt ein seltsames Licht spiel, wie aus einer Zauberlaterne. Die Schatten der Zweige wachsen größer, sie werden zu Bäumen und Wäldern. Aus ihren Tiefen zuckt und flimmert Heller Schein — sind das nicht die Urwälder aus der Vorzeit, die heiligen Haine un serer Vorfahren? Und das Lichtspiel zaubert huschende Ge stalten — jetzt kommen sie in Scharen, sie brechen aus dem Dickicht, voran der Oberpriester, mit dem Kranz auf wallen den Silberlocken, die Opferschale in der Hand. Sie wollen Lie Sonnenwendnacht des Winters feiern, und sie schmücken Len schönsten Tannenbaum des Waldes mit brennenden Fackeln, als Symbol des wiederkehrenden Lichtes. Auf dem Opferstein, unter der Tanne, werden Rind und Pferd ge schlachtet bei dumpfem Hörnerklang und dröhnenden Schlägen Ler Speere und Schwerter auf die Schilder. Der Priester Fängt das Blut in der Schale, er sprengt es über die Knie- »nden und murmelt Zauberformeln. Lin wilder Lhorgesang schließt die Opferfeier, dann kreist das Methorn, und der Meigen um den brennenden Iulbaum beginnt. Er endet, siwenn die Fackeln niedergebrannt sind; nur die funkelnden Sterne des nordischen Himmels leuchten den Germanen heim. Und ein anderes Bild steigt aus der Zauberlaterne des Dscken- lichtspieles. Es wird dunkler, nur noch ein Lichtchen glüht zwischen den Tannenzweigen. Es brennt hoch empor in strahlendem Glanz. Ist das nicht der Stern, den die Könige aus dem Mor genlande suchten — der nur einmal am Himmel erschien — der Stern von Bethlehem? Ringsumher das schlafende judäische Land, und zwischen seinen Hügeln die kleine, stille, nachtversunkene Stadt. Und dort vollzieht sich das Wunder. Ueber einem alten, er legenen Ochsenstall der strahlende Stern, und in dem Stall die Hirten des Feldes und die mächtigen Könige des Orients anbetend vor dem Kind in der Krippe, das in dieser Nacht geboren ist, die Welt aus der Finsternis zum Licht zurück- zuführen. Und vor dem träumenden Geiste wird die große Menschheitssehnsucht nach Erlösung zur Brücke, die Orient und Okzident verbindet. Das Symbol dieser Verbindung ist unser Christbaum, dessen Ahne der Iulbaum in den nordischen Wäldern sagen hafter Vergangenheit unserer heidnisch-germanischen Vor- fahren gestanden. Und unter den Zweigen dieses Lhrist- baumes die Krippe von Bethlehem mit dem Stern darüber, aus dem judäischen Lande des Orients, dem Erdteil der aufgehenden Sonne, daher uns die Erlösung und die Er füllung unserer Sehnsucht kommt. Das letzte Lichtchen am Baum knistert und zuckt noch ein mal hell empor — wieder ein neues Bild! Es ist der erste Weihnachtsbaum der Kindheit, zu dem die Erinnerung reicht. Alles wird wieder lebendig — die