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^ 162, 14. Juli. Nichtamtlicher Theil. 3247 winn zufließen wird, als aus dem Verleihen von Büchern. Wes halb sollte der verständige Leihbibliothelar diesen Unternehmungen abhold sein, wie vielfach geglaubt wird? Es lassen sich allerdings keine Beweise dagegen anführen, daß ohne diese vielen Unter nehmungen die Kundschaft der Leihbibliotheken eine größere sein würde; wir indessen können diese Meinung nicht theilen, sondern halten dafür, daß sie für die Leihbibliothek mehr Leser erziehen, als sie ihnen nehmen. Bevor wir min an die Beantwortung der Frage gehen: ob die Leihbibliothek den Rückgang des Bücherabsatzes verschuldet habe, scheint es uns nöthig, zu untersuchen, ob der Absatz von Belletristik überhaupt zurückgegangen ist. Man spricht das so leichthin aus, daß vom Publicum Romane nicht mehr gekauft werden, daß der Romanverlag ohne die Leihbibliotheken nicht mehr möglich sei. Diese fast allgemein getheilte Ansicht ist indessenl grundfalsch. In keiner Zeit wurde mehr Belletristik vom Publicum gekauft, als in der unsrigen. Daß es irgend ein Roman bis vor zehn Jahren zu vier, ja zehn und auch zwölf Auflagen gebracht hätte, haben wir nie er lebt; heute ist das keine Seltenheit mehr. Das beweist doch, daß die Kauflust im Publicum nicht erloschen, sondern gestiegen ist. Freilich concentrirt sie sich auf das anerkannt Gute; wer aber wollte das bedauern? Es ist das eine Folge der Ueberproduction. Mit welchem Rechte wollen wir vom Publicum verlangen, daß es für Bücher von zweifelhaftem Werthe unsere gebräuchlichen theuren Preise bezahle? Für Bücher, die man einmal durchblättert und nie mehr in die Hand nimmt? Es ist doch nicht zu leugnen, daß die Mehrzahl unserer Novitäten dieser Kategorie angehört. Ist es nicht genug, wenn der Leihbibliothekar hierfür sein schwer erworbenes Geld verwendet, und hat nicht selbst dieser das in vielen Fällen nachträglich zu bedauern? Die Hunderte von perio disch und täglich erscheinenden Blättern rufen eine Unmasse Romane und Novellen hervor. Müssen denn aber alle diese auch noch in Buchform nochmals auf den Markt treten? Begnüge sich doch der Autor mit dem meist anständigen Honorar, das von den Zeitungen gezahlt wird, und verschleudere er es nicht wieder durch eine Buch ausgabe, für deren Resultatlosigkeit er dann Publicum und Leih bibliothekar verantwortlich machen will. Der Schriftsteller klagt, daß heutzutage mit einer Hast gelesen wird, daß es zu ruhigem Genießen und Aufnehmen eines Buches gar nicht mehr komme. Das ist richtig; indessen wer anders ist Schuld daran, als er und der Verleger, die sich täglich dem Publicum mit neuen Erzeugnissen präsentiren? Die Massen- haftigkeit des Mittelmäßigen hat diesen raschen Wechsel erzeugt und den früher bedächtigen und genießenden Leser zu einem ober flächlichen gemacht. In früherer Zeit setzte sich allabendlich die Familie zusammen mit ihrer Handarbeit, um einige Capitel eines Buches gemein schaftlich zu lesen und durchzusprechen. Man beschäftigte sich mit einem Roman der Paalzow oder von Bulwer acht bis vierzehn Tage. Wir sehen noch heute davon die Nachwirkung, denn ein sehr großer Theil jener vor vierzig Jahren erschienenen Romane geht noch heute in den Leihanstalten von Hand zu Hand; keine kann sie entbehren. Ein so aufgenommener Roman erhielt sich im Bewußtsein der Leser, wurde von Eltern auf Kinder übertragen durch Gene rationen, bis heute. Und werden von diesen Romanen nicht noch in unserer Zeit neue Auflagen gemacht? Warum haben denn das die Leihbibliotheken nicht verhindern können? Die Production ließ zu jener Zeit dem Leser Muße zum ruhigen Genießen. Dieselben Romane, die sich durch vierzig Jahre erhalten haben, würden, wenn sie heute erschienen, nach kurzer Zeit vergessen sein oder gar nicht in den Vordergrund treten. Leihbibliotheken, die auf der Höhe der Zeit stehen, oder besser gesagt, den Anforderungen des Publicums entsprechen, führen also jene alten eingebürgerten Romane, eine Auslese der besten Werke aus den letzten Jahrzehnten und die Novitäten der Saison, von denen ein großer Theil in dem nächstgedruckten Katalog nicht mehr zu finden ist. Hieraus erklärt sich auch die Abneigung mancher Schriftsteller, die ihren Namen vergebens in den Katalogen suchen. Schriftsteller von Bedeutung haben wir auf feindlicher Seite bis her kaum gefunden; diese wissen aus Erfahrung, wie sehr die Leih bibliotheken mitgewirkt haben, ihren Ruf in alle Schichten der Bevölkerung zu tragen; sie wissen, daß von den zehn Auflagen ihrer Werke kaum mehr als eine in die Leihanstalten gegangen ist, die aber die anderen neun mit hervorgerusen hat Es kann zugegeben werden, daß die Verbreitung mittelmäßiger Romane durch die Leihbibliothek das Publicum abhält, solche zu kaufen; indessen daraus dürfte doch Wohl der Leihbibliothek kein Vorwurf zu machen sein. Wir wenigstens rechnen ihr das viel mehr als ein Verdienst an. Die Anklage gegen die Leihbibliothek ist erst laut geworden, seit unsere Productionsverhältnisse eine Wendung zum Schlimmen angenommen haben. Man bedenkt dabei nicht, daß die Um wälzungen auf dem Gebiete unserer socialen Verhältnisse eine einschneidende Einwirkung auf den Romanabsatz ausgeübt haben. Heben wir nur zwei Momente heraus. Oesterreich war früher das Eldorado für den deutschen Roman verleger. Bis zum Jahre 1848 zählte der oesterreichische Adel zu dem reichsten. Er saß im Sommer auf seinen Gütern, im Winter lebte er in der Hauptstadt, in der Nähe des Hofes. Wir fanden stets bei ihm ein lebhaftes Interesse für die Literatur, sahen ihn aber selten in der Leihbibliothek. Nach Aufhebung der Robot und des Zehnten verminderten sich aber seine Einkünfte in erheblicher Weise. Heute sieht man den Adel selten auf seinen Gütern, wo ihn früher die Einförmigkeit des Lebens zur Lectüre führte. Seine Güter befinden sich zum großen Theile in den Händen der Pächter, oder in denen der Geldaristokratie; er selbst befindet sich im Sommer aus Reisen, in den Bädern; im Winter auch weniger als früher in der Haupt stadt, weil auch der Aufenthalt des Hofes ein weniger beständiger geworden ist, durch die Zweitheilung des Reiches. Daß also der Adel nicht mehr wie früher seinen bleibenden Aufenthalt hat, daß seine Einkünfte sich vermindert, sind die Ursachen, die ihn der Leihbibliothek zuführten und dem regelmäßigen Bücherkaufe abwendeten. Das zweite einschneidende Element war der Krach des Jahres 1873. Hier vollzog sich eine vollständige Besitzveränderung des Capitals. Der wohlhabende, reiche Bürger, der zu den besten Bücherkäufern gehörte, kam in die Lage, seine Neigung aufgeben zu müssen; seine Hausbibliotheken wanderten nach und nach zum Antiquar. In jenen Kreisen aber, zu welchen das Capital gewan dert ist, finden wir allerdings vorzugsweise das lebhafteste Interesse für die Literatur, für Musik, Theater und Kunst, aber nicht jene Freude an einem Buche, die den Wunsch erzeugt, es zu besitzen. Nur kennen will man Alles. Man besucht jede Kunstausstellung, fehlt bei keiner Premiöre, keinem Concerte und durchfliegt nebenher jede neue literarische Erscheinung ohne Unterschied. Man lebt überall, nur nicht im stillen Heim des Hauses; wozu bedarf es denn da der Hausbibliothek? Es genügen einige Prachtwerke auf dem Tische der Salons und die Classiker in reichem Einbande im Bücherschränke. Das fieberhafte Streben aber, Alles zu kennen, 458*