Volltext Seite (XML)
Beilage zum Hohenstein-Grnstthaler Anzeiger Tageblatt. Nr. 107. Sonntag, den 10. Mai 1903. 30. Jahrgang. Wochenschau. Da» deutsche Reich hat in diesem Lenz von der Temperatur schon mancherlei zu verspüren gehabt, wa» sich noch dazu in einem kurzen Zeitraum zu sammendrängte; Frost und Hitze, Schnee und Schweißtropfen folgten kurz hintereinander. Es ist ein Bild der unruhigen Zeit, in der wir un« befinden; es ist da kein besserer Rat, al« der, Vertrauen auf den Herrgott im Himmel, oer e« mit keinem ehrlichen Deutschen schlecht wemt, und auf sich selbst haben. Und e« ist mit dem fortschreitenden Früh ling trotz aller bösen Prophezeiungen tatsächlich bester geworden, und weil da« sich gerade vor den Wahlen zum Reichstage so trifft, mag der deutsche Reich«- bürger sich getrost sagen: Es kommt doch ost noch besser, als man denkt! Und da« ist zutreffend. Jeder, der eine Reihe von Jahren zurückvenken kann, ha», wer weiß wie oft, gehör», der große Kladde radatsch sei vor der Tür; aber immer kam er ander«. Und die Arbeiter und Gewerbegehilfen, die er immer schlechter bekomme», sollten in Deutschland, bekamen e« immer bester. Da« war ihnen zu gönnen, dar ist ihnen auch von Herzen gegönnt worden. Aber die Sozial-Politik des Reicher hat nicht genug Rück sicht auf Diejenigen genommen, die selbständig sich und ihre Mitarbeiter durch« Leben bringen wollen, ohne dazu gerade einen großen stählernen Geldschrank für nötig zu halten. Wir brauchen im deutschen Reichstage ein Gesetz, das die tatkräftige persönliche Leistung de« selbständigen Bürgers ehrt und ihm dem ja erklärlichen, aber doch »richt produktiven Groß kapitalistentum gegenüber seine vollen Rechte gibt. Die Millionen-Gesellschaften haben ihren unbestreit baren großen Nutzen, aber sie sollen leben und leben lasten. Darüber läßt sich viel sagen, aber noch zehnmal mehr denken. Und weil so viel gedacht worden ist, ist im Reichstage mit allen gegen drei Stimmen unmittelbar vor seiner Vertagung die Forderung für das neue Reichs-Marine-Amt abge lehnt. Die Neichsbehörden hatten da« Beste gewollt, aber nicht gewußt, wer hier seine Pfeifen im Rohr schneiden wollte. Ganz gewiß, es war ein ehrliches Geschäft, aber unsere Zeit verlangt die Berücksichti gung de« ganzen, großen Nährstandes, nicht einzelner finanzkräftiger Gruppen. Es ist bei un« in Deutsch- land seit zehn Jahren zu viel spekuliert, da« steht außer allem Zweifel. Wir empfingen den Umschlag in der Industrie; e« folgt jetzt ihm die lange Zeil außerordentlich vorteilhaft gewesener großstädtischer Grundstück«. Spekulation. In Berlin pfeifen die Spatzen den infolge der Hypothekenüberlastung be vorstehenden Häuserkrach von den Dächern, und er ist recht gut, daß bei dieser Gelegenheit einmal klar gestellt wird, woher die Belastung großstädtischer aber wenig bemittelter Haushaltungen rühr». Der Zug der Zeil ging bei uns lange dahin: Weg vom Lande und den Kleinstädten und hin nach den Groß städten! Da« klang schön, aber mit dem, wa« da bei herauskam, ist heute erst recht Niemand zufrieden. Und da« dem so ist, ist Niemandem zu verdenken, und die Folgen davon ergeben sich wohl ohne Weitere« von selbst. Nämlich: e» genügt nicht, daß etwa« schön aussieht, e« muß auch wirklich schön sein! Am letzteren fehlte es aber. Erfreulicherweise haben die internationalen Ver bindungen, die das deutsche Reich mit den ihm ver bündeten Staaten im Auslande unterhielt, besser Stich gehalten und Farbe bewiesen. Zu der Zeit, als der Reichskanzler von der für Deutschland harmlosen „italienisch-französischen" Extratour sprach, hat doch wohl mancher Deutsche im Stillen gedacht, an Bi«marck« großem Werk de» Friedens-Dreibunde«, da poltern die Fundamentsteine. Denn wenn die Diplomaten zu freundlich reden, etwa« als gar zu harmlo« behandeln, dann pflegen die Dinge am ehesten einen Haken zu haben. Und nicht anders war e« wohl auch im vorliegenden Fall; unser Ver bündeter Italien war, vielleicht nicht unseretmegen, aber doch um Oesterreich« Willen im Begriff, mit der gallischen Republik einen Tanz zu unternehmen, sodaß am Ende wir um eine Extratour mit dem bisherigen Verbündeten hätten bitten müssen. Zum Glück kommt aber mit der Erfahrung die Einsicht, und die Annahme, daß das Königreich Italien mit Rußland und Frankreich würde bester fahren können, al» mit Deutschland-Oesterreich-Ungarn, scheint nicht blo«, sondern ist geschwunden. Da« hat wohl am Besten die glänzende Bewillkommnung unseres Kaiser in Rom bewiesen, da« haben die Trinksprüche im Quirinalpalaste geoffenbart. Daß ein deutscher Kaiser ! in der ewigen Stadt am Tiber wirklich und dauernd eine populäre Persönlichkeit gewesen ist, ist recht lange her, heute aber ist e« mit Bezug auf Kaiser Wilhelm II. wieder Tatsache. E« ist neben manchem praktischen Gesichtspunkt ein gute« Stück Romantik dabei; aber wa« tut das am Ende? Bester, die Romantik baut sich auf nüchterner Grundlage auf, wie umgekehrt. Anders lagen die Dinge in Pari«, wo König Eduard von England mit dem Präsidenten Loubet sehr liebenswürdige Trinksprüche wechselte, über welchen unsichtbar die russische Zustimmung schwebte. Aber wa« bedeuten sie ? Ein bi«chen Pose! Denn wenn wir Deutschen un« recht gut in die Stimmung der Italiener hineinversetzen und ihr Rechnung tragen können, Franzosen und Briten verhallen sich einander gegenüber wie Feuer und Master. Der einstige Prinz von Wale« hätte von mancher Freundin emen viel herzlicheren Gruß be kommen, wie der heutige König von der französischen Republik, wenn es möglich gewesen wäre, einen solchen Gruß zu wagen. Indessen, auch in Pari« gibt e« für Könige Tage, wo sie wirklich Könige sein, nicht nur sie scheinen müssen. Das ist Ko mödie und Tragik in der Welthistorie, Beides zu gleich, wie man will! Rußland wird dafür sorgen, daß in der Mand schurei Ruhe wird und am Ende wird auch auf der Balkanholbinsel Ruhe werden. In den letzten acht Tagen sah es freilich wenig darnach aus, die Dynamit-Attentate, die in der Hafenstadt Saloniki von den bulgarisch-mazedonischen Verschwörern an gezettelt und zur Ausführung gebracht wurden, waren doch ein mehr wie starkes Stück. Diese Leute wollen von der türkischen Willkürherrschaft los und begehen dabei Dinge, die viel schlimmer sind, als das Schlimmste, was vvn türkischer Seite je verbrochen ist. Selbst wenn als erwiesen angenommen wird, daß die Türkei die erforderliche Kraft, die Verwaltung ihrer Provinzen in gerechter Weise zu führen, nicht mehr besitzt, so sind diese „tonangebenden" heimischen Elemente doch am Wenigsten geeignet, das Regiment in die Hand zu nehmen. Dann würde im Nu alles drunter und drüber gehen, die ärgste Gewalttat würde Recht gewinnen. Und die Regierungen der kleinen Balkaustaaten sind ebenso wenig geeignet, Ordnung und Recht zu schaffen. Ein eiserner Besen muß kehren, und am besten wird er auS Pe'ersburg oder Wien bezogen. Neber die Wnrmkrankheit und deren Ausbreitung unter den Bergarbeitern kommen au« dem Ruhrgebiet geradezu erschreckende Meldungen. Etwa 20 000 Bergleute sind, wie be richtet wird, von der Wurmkrankheit befallen; da die Erkrankten fast autschließlich Untertag«arbeiter sind, so handelt e« sich um die Erkrankung von bald 15 v. H. der „eigentlichen Bergleute". Daß eine solche Mastenerkrankung nicht ohne störenden Einfluß auf die Arbeit«, und Betrieb«vcrhältniste bleibt, liegt auf der Hand. Die „Arbeit«markt- Korr." läßt sich hierüber recht beunruhigend aus, sie sagt: „Die starke Au«breitung der Krankheit übt einen hemmenden Einfluß auf die Betriebr- führung und Arbeitsleistung aus. Sind doch schon Zechen vorhanden, auf denen vir zu 90 v. H. der Belegschaft von dem Parasiten ergriffen sind, z. B. Schamrack, Erin, Schwerin usw. Auf ihnen kann der regelmäßige Betrieb nur mit außergewöhnlichen Maßregeln aufrecht erhalten werden. Ain Sonntag, den 26. April, fand in Dortmund eine von einigen Tausend Bergarbeitern besuchte Versammlung statt die sich lediglich mit der Wurmkrankheit beschäftigte. Arbeiter erzählten, daß sie, von verseuchten Zeche»: kommend, nur sehr schwer Arbeit auf anderen Gruben fanden. Vor der Neuanlegung finden Untersuchungen der Exkremente der Arbeitsuchenden statt; eine Anzahl Werke haben dafür besondere Stationen angelegt, einige auch Baracken und Lazarette. Stellt die mikroskopische Untersuchung die Erkrankung der Arbeiters fest, dann wird er nicht angelegt, mindestens nicht unter Tage. Von diesem Schicksal werden fast au«nahm«los die Berg- leute von den bekannten starkverseuchlen Schächten betroffen. Sobald der Betrieb«führer nur hört, daß der Mann von Schamrack usw. kommt, dann heißt e«: „Wir nehmen Sie nicht." Neuerdings ist den Werkleitern eine Uebersicht«karte betreffend die Ausdehnung der Seuche zugestellt worden, seitdem ist die Kontrole noch schärfer. Wie gefährlich die Krankheit Menschen und Betrieben ist, wird nach gerade anerkannt. Zur Zett sind viele Tausend Ruhrbergleute entweder in Spitälern, Baracken und Lazaretten untergebracht oder sie stehen bei Ver richtung von Obertagsarbeiten unter ärztlicher Kon trolle. Da gegen den Parasiten bisher noch kein zuverlässige« Abführmittel gefunden ist, zieht sich die Kur wochen- und monatelang hin, der Kranke kommt körperlich furchtbar herunter, nicht selten hat die Kur sogar mit einer Erblindung de» Patienten geendet! In der Dortmunder Versammlung teilten Arbeiter mit, daß sie drei- bi» zwölfmal die Kur durchmachten, ohne den Schmarotzer lo« zu werden. Solche Leute müssen al« ungeheilt entlasten und dem inneren Grubenbetrieb ferngehalten werden. Naturgemäß ist da» eine Störung für den Betrieb, sind es doch vorzüglich die qualifizierten Arbeiter (Schießmeister, Reparaturheuer, Kchlenhener), die angesteckt und alibald der Kohlengewinnung ent zogen werden. Neuerdings sind auch recht viele Beamte, Fahrheuer, Steiger und Obersteiger al- wurmkrank au«gehoben worden. Begreiflicherweise verspüren auch die Arbeiter keine Neigung, sich auf den ihnen bekannten „Wurmlöchern" anlegen zu lasten, so daß hier Arbeitermangel herrscht. Ist erst die voir der Sanitättbehörde vorgesehene lücken lose Organisation der Seuchenuntersuchungistation durchgesührt, so dürfte sich die Zahl der von dem Parasiten befallenen Arbeiter al« noch viel be- deutender herautstellen, als bis jetzt angenommen wurde." Im Abgcordnetenhause hat die Regierung versprochen, nach Möglichkeit dem Uebel zu steuern. Er wäre dringend zu wünschen, daß amtlich be kannt gegeben würde, welche Vorkehrungen mittler weile getroffen worden sind, um die Seuche mit Aussicht auf Erfolg zu bekämpfen. Vermischtes. 7 Neber einen Blitzstrahl und seine Folge« bei dem am vergangenen Sonnabend stattgefun denen Gewitter wird von Mehla aus mitgeteilt-Wäh rend das Gewitter am stärksten tobte, befand sich ein Bauersmann auf der Straße von Mehla nach Hirschbach. Als derselbe sich wenige Schritte von dem auf der Höhe liegenden Teiche befand, schlug plötzlich ein Blitzstrahl unter starkem Donner in kerzengerader Richtung in den Teich hinein. Dos Wasser schlug haushoch in die Höhe. Der Bauers mann sank durch die Erschütterung und den Schreck in die Kniee, ging dann, nachdem er sich von dein ersten Schreck etwas erholt hatte, an den Teich heran, auf welchem eine Unmenge Fische, als Karpfen, Schleien, Aale usw. tot herumschwammen, die durch den Blitzschlag getötet waren. s- Ein seltener Glücksfall, dessen Geschichte eines romantischen Beigeschmackes nicht entbehrt, wird aus Baden erzählt. Vor einigen Tagen er schien in Freiburg i. Br. bei einem dortigen Bank kommissionsgeschäft eii» Mann von, Kaiserstuhl und erklärte dem Chef des Hauses, ihm habe die ver gangene Nacht geträumt, der folgende Tag werde für ihn ein besonders glücklicher sein. Und in der Tat, schon frühmorgens sei ihm das Glück in Ge stalt von mehrere», vermißten Gegenständen erschienen. Nun »volle er noch ei», Los kaufen, der Geschäfts mann solle es ihm aber auf Kredit geben. Dies wurde zugesagt, und der Mann vom Kaiserstuhl erstand ein Türkenlos, das dann auch richtig mit 600 000 Franken gezogen wurde — wenn es wahr ist. 7 Unglaublich aber wahr! Aus Miltenberg wird der „Neuen Bayer. Landeszeitung" geschrieben: Ein seltener Unglücksfall ereignete sich am 4. d. M. im Orte Wenschdorf bei Miltenberg dadurch, daß ein bei einen, dortigen Landwirte bediensteter Knecht beim Futterschneiden seinen Hinteren Teil in die Schneidemaschine brachte, wodurch eine beträcht liche Portion abgeschnitten wurde. -ß Ein origineller Eintrag findet sich, dem „Schwäb. Merkur" zufolge, in einem Güterbuch des Alpdorses Donnstetten bei Urach: „Wohl eine Seltenheit in der Weltgeschichte wird derjenige Fall genannt werden dürfen, der sich am 5. September 1687 in Donnstetten zugetragen, indem an diesem Tage Balthasar Mejer, Schulmeisters Hausfrau, ge storben, die nicht weniger als sieben Männer gehabt und durch diese Tatsache die in, Evangelium Matthäi Kap. 22 Vers 23 ff. von der Sekte der Sadducäer aufgeworfene Frage auch in diesen Tagen insofern als Wahrheit dargelegt hat, daß wirklich eine Frauensperson sieben Männer haben kann."