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Kirchliche Nachrichten Monatliche Beigabe zum „Anzeiger". Januar-Ausgabe. 1903 Redigirt von Pfarrer B. Albrecht in Hohenstein-Ernstthal an den alle diesbezüglichen Sendungen zu richten sind. Zum neuen Jahre. Sei nur getrost und unverzagt! Weil heut ein Jahresmorgen tagt, So ruf' ich dir in stiller Ruh dies Wort im Namen Gottes zu. bei nur getrost und unverzagt! Auch wenn dir Manches nicht behagt. Wie oft gab Gott uns Sonnenschein, nimm drum ein Wölkchen willig drein! Sei nur getrost und unverzagt! Auch wenn ein Weh den Körper plagt. Noch lebt der Arzt in Israel und seine Kuren gehn nicht fehl. Sei nur getrost und unverzagt! Auch wenn die Sorg' am Herzen nagt. Wirf alle Sorgen auf den Herrn, dann weichen sie und bleiben fern. Sei nur getrost und unverzagt! Auch wenn dein Herz dich laut verklagt. Gott ist noch größer als dein Herz und heilt den größten Sünden schmerz. Sei nur getrost und unverzagt! So hat sein Mund schon oft gesagt. Austs Neue sagt Er's heute dir, Nimm's denn zum Wahlspruch und Panier! Sei nur getrost und unverzagt! Mit Gott, dem Höchsten, sei gewagt Der erste Schritt im neuen Jahr! — Sein Name heißet: Wunderbar. Sei nur getrost und unverzagt! Die höchsten Wogen überragt Der Fels des Heils, der nie zerbricht. — O weiche von ihm ewig nicht! L. Zu Es war ein langer, imposanter Trauerzug. Unter der Fülle der Kränze verschwand der schlichte, schwarze Sarg. Und als sie ihn hinabgesenkt hatten, thürmten sich die kost baren Spenden zu einem prangenden Blumenhügel, wie er nur die Gräber der Reichen schmückt. Gut, daß der stille Schläfer da unten von dem üppigen Prunke nichts mehr sah; er würde nach seiner Art darüber wohl die Achseln gezuckt und bitter gelächelt haben, wenn er das alles voraus gewußt hätte. Denn er war einer von denen gewesen, die zeitlebens darben, die mit Hunger und Sorge auf „Du und Du" stehen, trotz alles ehrlichen Strebens und Schaffens. Ob er wohl je so viel sein eigen genannt hatte, als die Summe wog, die nun eine zu späte Aner kennung aufgewandt, um sein Grab zu schmücken und ihm ein ehrendes Denkmal zu setzen? Es war das alte Lied: Zu spät! Gewiß, sie meinten es gut, und viele, die nun zu seiner Ehrung ansehnliche Summen zeichneten, haben wohl nie geahnt, wie kümmerlich sein Loos gewesen, denn er war einer von denen, die zu stolz zum Betteln sind. In seinem rastlosen Schaffen hatte er sich verzehrt; was nützte es nun, daß sich Hunderte von freigebigen Händen fanden, die sich öffneten zur Ehrenspende, die dem Lebenden versagt ge blieben? Es war zu spät! Zu spät! Wie leicht sind die beiden Wörtlein gesprochen und wie zentnerschwer wiegen sie! Es giebt kaum etwas Grausameres als dieses: „Zu spät!" So hart und uner bittlich wie ein Todesurtheil steht es über dem Leben Tausender geschrieben. Kennst du die Worte, die solchem „Zu spät" voran gehen, die gefährlichen Worte, die so harmlos klingen: „O, es hat ja noch Zeil!" Schon der Kindermund spricht sie. Das Spiel ist so schön und die Schularbeiten sind so langweilig. Die Kleinen trösten sich: „O, es hat ja noch Zeit" — und sie denken nicht an den bittren Schluß: „Zu spät!" Und wie die Jungen, so sind auch viele, viele von uns Alten. Jeder Tag säst bringt für jeden von uns spät! Motto: Der Aufschub ist der ärgste Dieb der Zeit, irgend eine unangenehme Pflicht. Da giebt es tausend wohlfeile Entschuldigungen zum Aufschub. Dann heißt es: „Erst will ich dieses thun, das andere hat ja noch Zeit" oder: „Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben!" Und man schiebt auf und schiebt auf — bis es zu spät ist. Wie viele gelöste Freundschaften, wie viele Familien zerwürfnisse können von diesem: „Es hat ja noch Zeit!" erzählen! Wieviel Vertrauen ist über solch kleinen Unter lassungen schon irre und zu Nichte geworden. Wieviel Un annehmlichkeiten und Verdrießlichkeiten, die uns das Leben verbittern, hat schon das böse „Zu spät" uns ver ursacht. Wie viele gute Thaten sind ungethan geblieben um des „Zu spät" willen und in unser Schuldbuch ge schrieben. So viele haben sich ja daran gewöhnt, Unpünkt lichkeit nicht als einen Charakterfehler anzusehen, und denken nicht daran, daß von der Unpünktlichkeit zur Unzuverlässig keit nur ein sehr kleiner Schritt ist, denn im Grunde ist ein unpünktlicher nichts anderes als ein unzuverlässiger Mensch, der keine Schonung verdient. Tausende von Menschen sind an dieser Klippe ge scheitert. Thue nur einmal die Augen auf und blicke um tnch. Rings wimmelt es von solchen, die immer „den besten Willen" haben, die voll guter Vorsätze sind, die tausenderlei versprechen, meist in der besten Absicht, — und am Ende, wenn sie wirklich ihr Wort einlösen, wenn sie ihre Versprechungen halten wollen, — ja dann ist es zu spät — oder wenigstens so spät, daß sie sich und anderen Verdruß über Verdruß bereiten. Durchmustere einmal die große Zahl der sogenannten „verfehlten Existenzen". Würdest du sie fragen, und wollten sie dir die Geschichte ihres Lebens erzählen, immer wieder würdest du dieselbe Geschichte zu hören bekommen — erst die Entschuldigung des jugendlichen Leichtsinnes: „O, es hat ja noch Zeit", und dann die harte Gegenantwort des Lebens: „Zu spät", diesen unerbittlichen Richterspruch über ein ganzes Menschenleben. iAus M. v. Hochfeld „Sonntagsgedanken.")