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^ so, I. März 1906. Nichtamtlicher Teil. 2247 Tritt man während des TagS in einen der Paläste dieser großen Morgcnblätter, der »Times-, des »Standard-, des »Daily Telegraph-, so findet man ihn fast menschenleer. Unten in den Räumen der Expedition sitzen wohl Buchhalter und nehmen die Anzeigen entgegen, aber in den Auslieferungssälen, in denen in der frühen Morgenstunde in geradezu fieberhafter Hast und unter dem Lärm von Packern und Austrägern ge schafft wird, sitzen nur ein paar müßige Jungen beim blinzelnden Dämmerlicht einer halb aufgedrehten Gasflamme. Die Rcdaktionsstuben sind fast sämtlich verlassen; nur in den Setzersälen geht es lebhaft zu. Die Linotypemaschinen arbeiten mit ihrer klappernden Klaviatur: Spalten auf Spalten werden gesetzt von dem, was bereits tagsüber für die Aufnahme in die nächste Nummer bestimmt zu werden vermag, in erster Reihe — aävsrtissmsvt. Inzwischen treffen ohne Unterlaß die Beiträge ein. Artikel, Artikel, Artikel, auf langen Bogen und auf kleinen, auf dickem Papier und auf »Postverdruß-; durch Boten, mit der Post, mittels Telegraph und Telephon. Um drei Uhr nach mittags ist Stoff genug vorhanden, um zwei Blätter zu füllen, und doch ist noch nicht einmal der Grund gelegt zu dem, was die Zeitung bei ihrem Erscheinen wirklich enthalten soll; all die wichtigsten Beiträge haben noch zu kommen. Neue Wege, sie zu erhalten, und schnell zu erhalten, werden beständig erfunden. Neulich erst kamen einige der größten Zeitungen zur Überzeugung, daß der Telegraph als Verbindungsmittel mit Paris nicht mehr genüge, und jetzt ist an jedem Nachmittag und während gewisser Stunden der Nacht eine jede von ihnen für mehrere Minuten in lebhafter Unterhaltung über ihrem eigenen Fernsprechdraht, der die beiden Hauptstädte verbindet. Seiten auf Seiten werden in Schnellschrift ausgenommen und alsdann zu guten Berichten »krow our ovo Oorrsspooäoot- ausgearbeitet. Um sechs Uhr abends geht der kleine Stab von Tages redakteuren nach Hause, und die zahlreichen Herren vom Nachtdienst treffen, einer nach dem andern, ein. Jetzt erst erscheint auch er, der gewichtigste von allen, obwohl er kaum je eine Zeile für die Zeitung schreibt, obwohl sein Name nur Eingeweihten be kannt ist, denn in England trägt kein Blatt an der Spitze den Namen seines verantwortlichen Leiters, — der Chef redakteur, oder wie man kurzweg hierzulande sagt, der Editor. Sie haben angesehene Stellungen, diese Editors, und be ziehen (an den großen Blättern) diesen entsprechende Jahres gehälter, zwanzig-, vierzig-, sechzigtausend Mark. Denn wenn der Editor auch keine Artikel schreibt, nicht einmal die Leitartikel, so ist er es doch, der in Gemeinschaft mit dem Geschäftsführer (dem raaaaxsr) am meisten für das Aufblühen und Ansehen des Blattes wirkt. Er kennt alle Welt, er zieht Mitarbeiter heran, empfängt wichtige Besuche, macht wert volle Bekanntschaften in den großen politischen Klubs; auf seinen Schultern ruht überdies die Verantwortlichkeit für alles, was in der Zeitung steht; er ist die Seele des Blattes. Der Editor hat auch das entscheidende Wort über das, was morgen in der Zeitung stehen soll und was (aus Mangel an Raum) im letzten Augenblick ausgeschieden werden muß. Manchmal ist das ein Beitrag, etwa ein langes Telegramm von einem ausländischen Mitarbeiter, das Tausende gekostet hat und nun, ungesehen, ungelesen, aber — ach, nicht unbezahlt, in den Papierkorb wandert. Hat das Publikum wohl eine Ahnung davon, mit welchen ungeheuren Summen heutzutage ein großes Blatt zu rechnen hat? In London gibt es verschiedene Kabelgesellschaften, und jede Zeitung muß sie zu zeiten sämtlich benutzen; — nun, die Jahresrechnung einer einzigen dieser Kompanien belief sich für ein Londoner Blatt im Jahre 1904 auf rund sechsmal- hunderttausend Mark! Gelegentlich der Vorberatung einer neuen Gesetzesvorlage zum Schutz des Urheberrechts kam es unlängst zutage — denn die Zeitungen haben nicht die Ge wohnheit, zu prahlen, sondern zahlen diese ungeheuren Summen schweigend, wie wenn es etwas Selbstverständliches wäre, — kam es zutage, sag' ich, daß die »Times« für ausländischen Nachrichtendienst allein eine Million im Jahr ausgibt und daß eine einzige Depesche über den Ausbruch von Wirren irgendwo in Südamerika vierundzwanzigtausend Mark Gebühren verschlungen hatte. Aber alle diese Unkosten sind verschwindend gering im Vergleich mit den Kosten, die Papier und Maschinen verschlingen. »Gehirn-, so sagte einmal ein Editor spöttisch, »ist lächerlich billig, aber — Papier!- -Daily Mail» und -Daily Telegraph-, so will man wissen, zahlen an die Mühlen ihre vier Millionen im Jahr. Die technischen Vervollkommnungen haben mit den beständig wachsenden Ansprüchen der Zeit gleichen Schritt gehalten. Unten in den Kellerräumen zu Carmelite-Haus stehen die zehn ge waltigen Hoemaschinen, von denen eine jede von drei Rollen »endlosen- Papiers in der Stunde ihre siebenundvierzigtausend Exemplare der zwölfseitigen »Daily Mail- druckt. Man denke: fast eine halbe Million Blätter in sechzig Minuten. Das Getöse, wenn diese zehn Maschinen ihr rollendes, stoßendes, druckendes, pressendes, faltendes, schneidendes Geschäft zu gleicher Zeit verüben, ist so betäubend, daß man das Wort nicht zu verstehen vermag, das einer dem andern aus Leibeskräften ins Ohr schreit. Wenn die Maschinen da unten ihr Riesenwerk beginnen — das ist vielleicht allnächtlich der Höhepunkt in dem fieberhaften Werdegang einer Zeitung. Die Redaktion ist zur Ruhe, endlich erlöst von dem auf reibenden Bann der beständig einlaufenden Nachrichten, die geprüft, verarbeitet und zum Druck gegeben werden müssen; die Verfasser der Leitartikel, deren jedes große Londoner Daily sich drei oder vier leistet, haben ihr Werk vollbracht und sind befriedigt nach Hause gegangen. Es ist zwei Uhr nachts. Der unerbittliche Zeiger der Uhr hat wie des Schicksals Finger auf die Not wendigkeit gewiesen, ein Ende zu machen. Die Artikel sind gesetzt, die Matrizen aus Papiermache um die runden Zylinder geformt und in Blei gegossen, die Spalten zu Seiten geschlossen, die Blätter fertig. Wieviel Arbeit, geschulten Geschmack und Meister schaft dies alles erfordert, um aus diesem Wirrwarr von großen und kleinen Typen, von »deaälinss» und »spscialtelezrams-, von gesperrter Schrift und enggesetzter Nonpareille ein harmonisches Ganzes zu schaffen, angenehm dem Auge und übersichtlich zugleich — das wissen der Metteur und der Editor allein, die Viel geplagten, denen in diesen Dingen das letzte Wort zukommt. Nur wenige Minuten vergehen zwischen dem Schließen der Form und der Zeit, da die Maschinen einsetzen. Jetzt beginnt das Tosen; es dauert eine halbe Minute, dann verstummt es wieder. Ein paar Probcabzüge wurden gemacht, die genauer Prüfung unterzogen werden. Manchmal ist es erst in dieser zwölften Stunde, wenn das Werk von Tag und Nacht zusammenhängend in Schwarz und Weiß vor ihm liegt, daß der gewiegteste und sorg samste Kenner einen Fehler zu entdecken vermag. Irgend eine Nachricht mag zweimal abgedruckt worden sein — an zwei verschiedenen Stellen der Zeitung — oder irgend etwas ist los mit einer der dicken Überschriften (bsaälins). Manchmal läßt sich der Schaden durch Abschaben auf der Stereotypie wieder gutmachen, manchmal bleibt nichts weiter übrig, als die Spalte neu zu setzen und zu stereotypieren, während der mavaAsr wie toll vor Aufregung treppauf, treppab rast und jedermann zuschreit, heute werde das Blatt unzweifelhaft den Bahnanschluß verfehlen und das Donnerwetter von einem Un glück sich ereignen. Nun, Unglücke der einen oder der andern Art hängen beständig dräuend über den Bureaus der großen Blätter in Fleetstreet. Da gibt es niemals ein Gleichgewicht der Seele und des Geistes, bis das Blatt tatsächlich aus dem Haus ist — und manchmal selbst dann noch nicht; aber fast will es scheinen, als ob eine freundliche Vorsehung sich dieser hartgeprüften und schwerbesorgten Leutchen annähme, denn nur in den seltensten Fällen geschieht es, daß solch ein geweissagtes Unglück sich in ein wirkliches verwandelt. Auch jenen Schabernack spielt das Schicksal unfern Helden von der Feder gottlob nur selten, daß es nämlich, etwa just nachdem man eben nach Hause gegangen, etwas un geheuer Wichtiges geschehen läßt, was nun — ein Ding, vor dem es dem Editor beständig graut — den Abendblättern zur Beute fällt! Kein größerer Abstand irgendwo, als zwischen englischen und französischen Zeitungen, ein Unterschied, so weit wie zwischen dem englischen und sranzösiscbcn Volkscharakter. Keine -sotsnts ooräials- vermag ihn wegzuwischen. Da findet sich stets ein gut Teil eleganter Wendungen, graziöser Einfälle in den Pariser Jour nalen, und eine ungeheure Masse gesunden Menschenverstands in den Londoner vsvspapsrs. In den Blättern ganz wie im Leben: wirre Locken und fliegende Künstlerkrawatten auf den Boulevards; glatter Scheitel und nüchterner Tweedanzug, wie es sich für den Gentleman schickt, in Fleetstreet. Es ist vielleicht mehr Talent in der französischen Presse; aber sicher mehr solides Rückgrat, mehr Charakter und Logik in der englischen. Die Londoner Zeitungen 296»