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2248 Nichtamtlicher Teil. 50. 1. März 1906. sind in der Hauptsache große politische Organe. Obwohl sie in der größten Stadt der Welt erscheinen, sucht man vergeblich darin nach all jenen kleinen Nachrichten aus dem städtischen Leben, wie es unsere Zeitungen so hübsch unter -Lokalem- und -Ver mischtem- aufzutischen wissen. Statt der Berichte über Künstlerbälle und Festlichkeiten, die in den Berliner Zeitungen so großen Raum einnehmen, findet man in den Londonern ausführliche Wiedergaben der Reden, mit denen hervorragende Männer hierzulande bei Banketten glänzen. Die Engländer sind vortreffliche aktsr-äinnsr- spsaiccr; sonst wortkarg in der Gesellschaft, funkeln sie bei solchen Gelegenheiten mit Witz und treffenden bovs wots; ein politisch reifes Volk, haben ihre Redner sich schon auf der Schule und auf der Universität in der Debatte geübt; alle gesellschaftlichen Formen sind ihnen zur Natur geworden. Es ist erstaunlich, wie reichlich die führenden Geister des Landes auf diese Weise zu freiwilligen Mitarbeitern der Presse werden und beständig auf die angenehmste Art zur Unterhaltung der Leser beitragen. Die Seite, die ein englischer Leser zuerst aufschlägt, ist die zur Rechten in der Mitte des Blattes, auf der die Telegramme aus dem Auslande stehen. Die Berichterstatter in Berlin, Paris, Wien und New Jork haben in der Nacht Spalten auf Spalten herübertelegraphiert, und ein gewissenhafter britischer Zeitungs leser ackert sich über seiner Teetasse am Frühstückstisch geduldig hindurch, leistet sich dann auch noch die Leitartikel, die, drei oder vier an der Zahl, auf der linken Seite gegenüber stehen und von denen zum mindesten einer den Inhalt der Telegramme noch ein mal wiederholt und aus ihrem Inhalt das heraushebt, was der Redaktion je nach Parteirichtung von Wichtigkeit erscheint. — So ungefähr sah es etwa vor zehn Jahren mit sämtlichen Londoner Zeitungen aus. Da war endlich einem jungen Heiß sporn von Journalisten über der Duldsamkeit der englischen Spießbürger selber die Geduld gerissen. Wer sinder denn auch Muße, stundenlang über seiner Zeitung zu brüten und dann am Ende vor all dem Wortschwall kaum zu wissen, was eigentlich in der Welt los ist! Nultuw, sagte er, nicht multa. Je kürzer und klarer seine Korrespondenten sich auszudrücken verstanden, um so reicher bezahlte er sie. Knappe Leitartikel behandelten die wichtigste Tagesfrage — solch ein frischer, jugendlicher Ton wehte durch das neue Blatt, daß sich vom ersten Tage an viele Tausende von Lesern darum scharten. Es war die »Daily Mail-, ihr Begründer jener Alfred Harmsworth, der vor ein paar Tagen zum Peer des Reichs erhoben worden ist. Seit dem Erscheinen der -Daily Mail- hat sich viel in dem Bilde der Londoner Presse verändert. Die alten Blätter mußten sich aufraffen, um von dem neuen, das überdies nur einen halben Penny (4 Pfg.) kostet, sich nicht ganz und gar über den Haufen rennen zu lassen. Das war ein Gähnen und Recken unter den verschlafenen Gesellen in Fleetstreet, wie sie, einer nach dem andern, aus ihrer Lethargie erwachten, und das Publikum stand sich gut dabei. Freilich, wer nicht nur obenhin wissen will, was in der Welt vorgeht, wer den Dingen auf den Grund zu gehen wünscht, der greist noch immer zu den umfangreichen, langatmigen großen Zeitungen. Unter ihnen steht die -Times- obenan; was einer auch einwenden mag: kacilo xrivoeps. Sie hat — abgesehen von ihrer politischen Gesinnung, auf die wir hier nicht eingehen wollen, — nur einen ffbelstand: man wird nie mit ihr fertig. Es kommt ihr nicht darauf an, bei Tagungen des Unterhauses zehn oder zwölf Spalten im feinsten Druck mit wörtlichen Berichten über die Debatten zu bringen. Das sind etwa 4000 Zeilen oder 40 000 Worte, also so ungefähr ein Buch von dem Umfang eines mo dernen Romans. Denn die -Times- sieht ihre Aufgabe darin, der ausführliche Chroniker der zeitgenössischen Geschichte zu sein, und sie erfüllt ihr Werk in solcher Weise, daß ihre Berichte oft selbst vor Gericht oder im Parlament als Zeugnis gelten. -So steht cs in der Times», so etwa folgert der Engländer, »ergo: so ist es.» Die übrigen Blätter haben längst über den Parla mentsstenographen den politischen Chroniker gesetzt, der nicht mit den anderen auf der Berichterstatterbank über dem Thron des Sprechers sitzt, sondern in der -lobbz'» umherwandelt, mit scharfem Sinn nach politischen Wortbissen jagt und nach Schluß der Sitzung — das ist in England so um die erste Morgenstunde — eine knappe Plauderei über die Verhandlungen niederschreibt, in der das Bild der Debatten und der Debattierenden sich dem Leser lebendiger und faßlicher vor Augen stellt als in wortgetreuen Berichten. Einer der ersten, die diese Neuerung einführten, war T. P. O'Connor, unzweifelhaft eine der gewandtesten Federn im Königreich. Der Ruhm von W. T. Stead ist heute fast erblaßt; aber es wäre undankbar, seine Verdienste zu vergessen. Wie er zuerst das »Interview- und die Illustration in die Londoner Zeitung eingeführt hat, in der beide heute solch bedeutende Rolle spielen, so war er auch eine Größe ersten Ranges auf dem Ge biete des -scoox». So bezeichnet der Slang nämlich jene glän zenden Einfälle, durch die eine Zeitung allen ihren Nebenbuhlern bei gewissen Gelegenheiten den Rang abläuft. 8eoox mit einem Wort ist eine große journalistische Tat. Wenn einem Blatte eine solche gelungen ist, so spricht ganz London davon, und Fleetstreet befindet sich auf vierundzwanzig Stunden in ungeheurer Auf regung, verursacht halb durch Neid, halb durch Bewunderung. Solch ein scoox mag sich auf hunderterlei Gebieten bewähren, er mag dem glücklichen Redakteur von ungefähr in den Schoß fallen oder, wie es häufiger der Fall ist, das Ergebnis schärfsten journa listischen Instinkts und angespanntester Energie sein. Je nach der Haltung des Blatts wird sich auch die Beschaffenheit des scoox verhalten, ebenso die Mittel, mit denen er zuwege gebracht wurde. Die letzteren sind nicht immer die saubersten. Der Verfasser unsres Buchs erzählt folgendes Geschichtchen: »Wollte da einmal ein gewisses Blatt sich den ausschließlichen Bericht über einen wichtigen Oricirst wateü verschaffen, und so ging es zu, daß es dies zuwege brachte: Das Blatt und sein einziger Rivale pflegten beide ihre Berichte durch Taubenpost zu erhalten; die Berichte werden auf ganz dünnes Papier geschrieben, zusammengerollt und an die Beine von Brieftauben befestigt, die, sobald man sie frei macht, nach ihrem Schlage bei der Redaktion zurückfliegen. Dieser Art der Berichterstattung bedienen sich viele Redaktionen. In unserm Fall waren die Boten mit den Tauben vorzeitig angekommen, hatten ihre Körbe mit den Vögeln in die Reporterloge gesetzt und sich nach Hause begeben. Nicht lange darauf erscheint als erster auf dem Schau platz der Berichterstatter des Blattes, das auf den -scoox» bedacht war. Gelassen nimmt er sämtliche Tauben aus dem Korbe seines Rivalen, bindet an ihre Beinchen Zettel mit der verblüffend ein fachen Mitteilung: -Äateb verschoben- und läßt die Vögel fliegen. Dann setzt er seine Tauben in den geleerten Korb und begibt sich seelenruhig nach Hause. Bald daraus langt sein Nebenbuhler an, der Berichterstatter des andern Blatts, nicht wenig erfreut zu sehen, daß aus unbekanntem Grunde der andre Reporter nicht er schienen ist. Nun macht er sich mit doppeltem Fleiße an die Arbeit. Er verfaßt einen ganz vortrefflichen, besonders ausführ lichen Bericht, bindet ihn den Tauben auf und läßt sie los. Die natürlich fliegen nach der Redaktion des trügerischen Reporters, und dessen Zeitung bringt denn auch am nächsten Morgen den Bericht, während das Blatt des fleißigen Mannes ganz ernsthaft nur die lakonische Nachricht enthält, es habe kein Llateb statt- gesunden.» Selbstverständlich duldet kein anständiges Blatt derartige Machenschaften; aber — -seooxs- sind sie eben doch, und Fleetstreet hat seine Freude dran. Was Fleetstreet aber vor allem schätzt, ist Intelligenz; nicht umsonst nennt man diese Zeitungstraße zuweilen Brainstreet — Gehirnstraße. Ein echter -scoox- muß daher auch hiervon eine Portion ausweisen. Keiner unter allen englischen xrsssmsv, den alten wie den jungen, wies davon mehr auf als der verstorbene Blowitz, der oielberufene Pariser Vertreter der -Times-. Neben ungeheurer Arbeitskraft, gewiegtem Urteil über Menschen und Dinge verfügte dieser Journalist auch über ein Gedächtnis, wie dessen wenige Leute sich rühmen dürfen. Zu der Zeit, da Delane Chefredakteur der -Times- war und sich eines Tages zufällig in Paris befand, begab er sich mit Blowitz zu einer Sitzung der Kammer in Versailles, bei der es sich traf, daß Thiers eine hoch bedeutende Rede hielt. Delane reiste noch am selben Abend nach London zurück, und als er sich auf dem Bahnhof von Blowitz verabschiedete, sprach er noch sein Bedauern darüber aus, daß die -Times» durch keinen Stenographen in der Kammer vertreten war, der es ihr möglich gemacht hätte, eine Rede von solcher Bedeutung ohne Zeitverlust zu bringen. Dann dampfte der Zug aus der Halle; Blowitz aber, statt nach Hause zu gehen, begab sich auss Telegraphenamt. Er strengte sein Gedächtnis aufs äußerste an, beschwor in seiner Phantasie die ganze Szene herauf, die Kammer