Volltext Seite (XML)
X- 253, 30. Oktober 1930. Redaktioneller Teil. Börsenblatt s. d. Dtschn Buchhandel. Unter den Beantwortern sind alle Temperamente — auch der Schalk fehlt nicht, dessen Antwort deshalb ausgeschicdcn und separat behandelt werden muß — und Berussklassen vertreten, und zwar: 16 Beamte, davon 1 Hosrat, 4 Regierungsräte, l Sek tionsrat, 1 Obevfinanzrat, 1 Oberstaatsbibliothekar, 1 Staats bibliothekar, 2 Direktoren, 2 Prokuristen und 3 einfache Beamte; 8 freie Schriftsteller und 6 freie Schriftstellerinnen; 4 Redakteure und 1 Redaktrice; 7 Universitätsdozenten bzw. Professoren, wo von 3 der medizinischen und 4 der philosophischen Fakultät an- gchörcn; 9 andere Lehrkräfte der bildenden Kunst, der Tonkunst, des Kunstgewerbes usw., darunter eine Klavierpädagogin, I Volksschullehrer, 1 Rabbiner und 1 Staatsopernkorrcpetitor; 4 Techniker, davon ein Senatsrat und 1 Baurat; 2 Berufsjuristen. Ferner sind darunter noch 3 Militärpersonen, 1 Graphologe, 1 Ordenspriester, 1 Hotelier, 1 Privater, 1 Maschinenfabriks- dircktor und schließlich noch 1 Landwirt zu finden. Es kann also ruhig behauptet werden, daß, so kurz auch die Liste ist, das zu- sammenfassende Ergebnis kein einseitiges Bild vermitteln kann. Dabei wäre noch anzumerken, daß viele außerdem noch einen für sie wichtigen Nebenberuf ausübcn, und zwar zählen 27 männliche und 1 weibliche Persoir die Schriststellcrci, 2 männ liche und 1 weibliche die Schauspielkunst als Nebenberuf auf. 3 Persönlichkeiten männlichen Geschlechts bezeichnen sich noch als Komponisten und 2 Personen führen gar noch als zweiten Nebenberuf das Komponieren bzw. die Schriftstcllcrei an. So erbringt diese Rundfrage gleichzeitig den Beweis dafür, daß die Not der Zeit eine Beschäftigung nach zwei Richtungen nötig macht und andererseits das Weiterbestehen eines Produktiven Dilettantismus, der die Aufrechterhaltuug einer bodenständigen Kultur verbürgt. Eine Tatsache, die von einem Manne, bezeich nenderweise von einem gebildeten Landwirt, ausdrücklich fest- gestellt wird. Für die Regsamkeit unserer Bevölkerung spricht, daß fast alle Fragebeantworter bis auf eine Person, die aber anscheinend nur die entsprechende Rubrik auszusüllen übersehen hat, noch neben dem Haupt- und Nebenberuf ein besonderes Interesse für viele Dinge und Wissenszweigs haben, und zwar nicht, wie eigentlich zu erwarten war, hauptsächlich für Sport und tech nische Dinge, sondern hauptsächlich für alle Gebiete der Kunst. Neben diesem Hauptgebiet des außerberuslichen Interesses wird noch die Anteilnahme an Theater, Medizin, natürlich auch Sport und an Dingen der Menschenkenntnis bekundet. Eine Persön lichkeit, allerdings ein Fachmann (Ing. vr. Franz Hoesst), er wähnt ausdrücklich die Raumschifsahrt. Zur Rubrik über die modernen Kulturmittler Grammo phon, stummer und Tonfilm und Rundfunk liegen viele einander widerstreitende, teils bewundernde, teils abschätzige Äußerungen vor. Die Frage: »Was halten Sie von der Kunst, Literatur und Kultur der Gegenwart?» wurde von fünf Personen garnicht und von einer Person nicht ernsthaft behandelt. Immerhin kommt auch hier zum Ausdruck, daß die heutige Kunst und Kultur nicht befriedigt, für welche Tatsache teils die wirtschaftliche Not, teils das Eingehen auf niedere Triebe und das Überwiegen der Reklame verantwortlich gemacht wird, wo durch gerade nur die Mittelmäßigkeit durchdringen kann. Ein zelne rügen die Überschätzung der Technik, des Sports und über haupt des Äußerlichen, der Quantität (Rekord) und die damit in Verbindung stehende »neue Sachlichkeit«. Eine Persönlichkeit meint, daß eine wirklich harmonische Kulturcntwicklung nicht möglich ist, weil sich ein unerfreulicher Snobbismus breitmacht, sodaß durch ein Überwiegen von eitlen Regungen ein ernstes Streben nach Fortschritt unmöglich wird. Einige stellen fest, daß durch die allgemeine Politisierung und die dadurch ver ursachte Zerrissenheit der Menschheit in viele einander wider strebende Weltanschauungen der Aufbau einer einheitlichen Kultur nicht möglich ist. Einige Persönlichkeiten beklagen den Mangel an genialen Menschen und einige die allzugroße Be einflussung durch fremdländische Elemente. Allgemein wird über das Übcrwiegen des Sentimentalen und des Kitschs geklagt. Es finden sich aber in diesem Chore auch Stimmen, die einen Auf stieg unserer Kultur seststellcn zu können glauben und ein Radi 1038 kalist beantwortet die Frage kurz wie folgt: »Ich halte sehr viel von der gegenwärtigen Kunst und Kultur, aber die Schmücke müßte man hängen.« Die Beantwortung der Frage, die mich als Buchhändler und Verleger naturgemäß am meisten interessieren mußte, ob noch ein ungebrochenes Interesse an Büchern und an allerlei Wissenszweigen vorhanden ist, bot mir eine angenehme Ent täuschung. Wenn man nämlich Zeitungen und anderen öffent lichen Feststellungen trauen müßte, wäre das Interesse — und hier soll hauptsächlich von einem theoretischen Interesse die Rede sein — an den ernsten Bildungsfächcrn und Wissenschaften durch Kino, Rundfunk, Grammophon und Sport vollkommen ver drängt und ich muß gestehen, daß ich dies aus der gegenwärtigen, krisenhaften Lage im Buchhandel selbst auch schließen zu müssen glaubte. Ich denke, daß es für alle, die einer tieferen Kultur nufgetan sind, eine Beruhigung ist, aus einer solchen Rundfrage ersehen zu können, daß dies durchaus nicht der Fall ist. Manche — es sind deren 12 Personen — haben den Kreis des für sie Wissenswerten so weit gesteckt, daß er schlechterdings alles Hohe und Schöne umfaßt. Die meisten (30) tummeln sich auf allen Gebieten der Kunst, während sich eine geringere Anzahl ein Spezialgebiet erkoren hat, und zwar die Mehrzahl (aus Wiener Boden kein Wunder) Musik (16), ferner Literatur (13), Theater (9) und Malerei (1). Bon den ernsten Fächern behauptet die Königin der Wissenschaft, die Philosophie, mit 21 Stimmen noch immer ihren alten Rang, dem, für die Gegenwart bezeichnend, die rationalistischen Zweige: Naturwissenschaft (13), Wirtschasts- und Sozialwissenschaft (10) und Medizin (8) nahekommen, wo zu noch die heute mehr denn je lebenswichtigen Sprachen (13, worunter sich ein Interessent für orientalische Sprachen befindet) kommen. Vereinzelt erscheinen als Gebiete eines anderen Inter esses: Geographie (3), Politik (3), Kunstgewerbe (3), Mathema tik, Astronomie und Verwandtes (4), Botanik (2), Rassenkunde (2), Rechtswissenschaft (2), Vogelkunde (1). überraschend er scheint ebenso, daß nur wenige ihre Vorliebe für technische Zweige (2) oder für Sport (5) bekundeten, wie andererseits die bemerkenswerte Tatsache, daß poch erstaunlich viele ihre Anhäng lichkeit an humanistische Fächer beweisen. Bei Geschichte (6) wird dies vielleicht nicht wundernehmen, während das Interesse für allgemeine Sprachwissenschaft (2) und für die klassischen Spra chen (4) als angemessen angesehen werden wird; doch erscheint sicherlich die Ziffer für Mythologie (II) und Theologie (8) rela tiv erstaunlich hoch und dürste als ein Beweis für das wieder er wachte religiöse Gefühl angenommen werden können. Allerdings macht sich die wirtschaftliche Not besonders be merkbar, denn nicht weniger als 27 der Fragebcantworter ge stehen, daß sie höchst selten in der Lage sind, sich Bücher zu kaufen und deshalb ihr Lescbedürfnis durch Entlcihungen von Privaten und durch Entlehnung von öffentlichen, d. h. staatlichen oder Leihbibliotheken zu befriedigen gezwungen sind. Manche Fragebeantworter weisen stolz daraus hin, selbst eine große Bi bliothek zu besitzen, von deren Schätzen sie noch heute zehren; eine Stimme macht sich vernehmbar, daß cs eine Undankbarkeit wäre, Bücher zu leihen, die man kaufen könnte, und eine Person lehnt insbesondere die Büchcrklubs wegen des schlechten Systems, das darin liegt, ab. Die Frage, ob ein Dichter der letzten Zeit einen starken Eindruck hintcrlassen hat, wurde von 10 Personen überhaupt nicht beantwortet, während sich 3 Personen veranlaßt sahen, festzustellen, daß sie keine einzige dichterische Erscheinung be sonders ergriffen hat. Einzelne (3) begnügten sich mit einer all gemeinen Floskel (»Dichter, die eine Völkerverständigung an streben«, »Jedes Buch von hohem ethischen Wert«, »Ältere Lite ratur»), während sich viele nicht ganz an die Frage hielten und auch Dichter einer mehr vergangenen Epoche erwähnten. Ich nehme an, daß es interessieren wird — wenn auch die Liste unge ordnet ist —, von jenen Dichtern zu hören, die einer solchen be sonderen Auszeichnung und Hervorhebung gewürdigt wurden. A. Döblin: Berge, Meere und Giganten (wurde 2mal erwähnt); D. S. Mercschkowski: Leonardo da Vinci; E. Zola: Das Kunst werk; R. Hamerling: Aspasia; F. K. Ginzkey (wurde 4mal her-