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Nr. L53 (N. 131). Leipzig, Donnerstag den 30. Oktober IS30, 97. Jahrgang. Redaktioneller TA Kultur-Verfall oder -Aufstieg? Eine Rundsrage und ihr Ergebnis. Von Or. Fritz Stein-Wien. Der Titel dieser anspruchslosen Ausführungen ist der Haupt punkt einer Rundfrage, die ich durch meine Versandbuchhandlung »Iris« an eine größere Anzahl von Persönlichkeiten aller Beruss und Gesellschaftskreise Österreichs ergehen ließ. Der Ausgangspunkt dieser Aktion war 'eine Art Neugierde, worin die schon seit längerer Zeit bestehende, unleugbare Krise im Buchhandel ihre Ursache haben mag. Daß die tiefsten Gründe natürlich in der wirtschaftlichen Not, der mehr materialistischen und aus Sport gerichteten Sinnesart der Menschheit und in der Verdrängung des Buches und der Noten als Bildungsmittel durch Zeitung, Magazine, Rundfunk und Grammophon liegen, ist ja selbstverständlich. Dies würde aber trotzdem noch nicht ausreichen, um die allgemein behquptete und auch vielfach sest- zustellendc Abwendung vom Buch zu begründen. Ich suchte des halb nach einem Mittel, nm gewissermaßen beim Publikum selbst anzufragcn, ob noch besondere Gründe für diese Erscheinung vor- licgen, etwa weil die Dichter der Gegenwart die kulturellen Lei den und Probleme der Gegenwart nicht erfassen und behandeln, oder ob schließlich die Aufnahmefähigkeit für kulturelle Werte im allgemeinen gesunken ist. Die spezielle nur auf den Buchhandel gerichtete Frage erweiterte sich also zu einer Problematik der gesamten Kultur. In diesem Stadium erhöhten Interesses für die Lösung die ser Fragen erinnerte ich mich eines Buches mit dem Titel »Proletarischer Glaube« von vr. Paul Picchowski, erschienen 1927 im Furche-Verlag, Berlin, das die religiöse Ge dankenwelt der organisierten deutschen Arbeiterschaft nach sozia listischen und kommunistischen Sclbstzeugnissen behandelt. Die ses interessante Buch enthält das Ergebnis einer Rundfrage auf diesem Gebiete, das aus Versäumnisse hinweist, welche gewiß in der konfessionellen Seeleupflcgc begangen wurden. Der Ver anstalter dieser Rundfrage konnte sich bei Verarbeitung der Ant worten mit Recht sagen, daß das Ergebnis der Welt tatsächlich etwas zu sagen vermag. Da es mir immer lockender erschien, die eingangs erwähnten Punkte auch im Wege einer Rundfrage zu klären, machte ich mich daran, einen geeigneten Text auszu arbeiten und an ausgewählte Persönlichkeiten zu verschicken. Ob zwar vorauszuschen war, daß meine Aktion hier und dort als Propagandamanöver für meine Versandbuchhandlung »Iris« angesehen werden könnte, ließ ich die Rundfrage doch von dieser Stelle ausgchcn, da ich mich auf eine Sendung berufen mußte, um überhaupt auf eine Antwort rechnen zu können. Doch auch so war das zahlenmäßige Ergebnis erschreckend dürftig. Denn von 2300 ausgesandtcn Fragebogen kamen bloß 66 Antworten zurück, also etwa 2.6"/», während bei der mir als Vorbild dienenden Aktion vr. Piechowskis von 5000 Fragebogen gegen 10°/« be antwortet zurückkamen. Bei Abfassung des Fragebogens war ich ganz aus mich allein gestellt und so mag mir vielleicht die allerdings notwendige Kürze in der Fassung der einzelnen Punkte den Blick dafür ge nommen haben, ob die Formulierung der Fragen auch deutlich genug sei, und so konnte cs kommen, daß die Antworten in manchen Fällen leider nicht den Kern der Fragen trafen. Ge dacht war daran, in den ersten Punkten zu erkunden, wie der Befragte im allgemeinen zu den Kulturfragen außerhalb seines Berufes stehe, also etwa zu den scheinbar etwas überholten Din gen der Kunst, Literatur, Wissenschaft, Theater, Sammlerlciden- schaften; ferner zu den neuesten technischen Errungenschaften, ins besondere zum stummen und Tonfilm, Grammophon, Rundfunk usw. Frage 3: »Was halten Sie von der Kunst, Literatur und Kultur der Gegenwart«, knüpft an die genannten technischen Kulturmittel an und sollte in dieser allgemeinen Fragestellung den Befragten auch ein allgemeines Urteil über die A r t der Kultur abfordern. Die Antwort ließ also, wie es ja in den meisten Fällen der nachdenklicheren Beantworter der Rundfrage geschah, etwa c. oartcn, daß diese Dinge zu sehr von der Technik, vom Materialismus, von Oberflächlichkeit usw. beherrscht erschei nen. Von manchen Personen wurde aber diese dritte mit der Frage acht zusammengeworfen, die einerseits nur die Spezial- fragc herausgriff, ob die jetzige Zeit als eine Epoche des Kultur verfalls oder -aufstiegs empfunden wird und andererseits über haupt mehr gewissermaßen über die Intensität, Lichtstärke, Gra- "ouierung aussagen sollte, im Gegensatz zur dritten Frage, die so zusagen die Art, Qualität und Farbe treffen sollte. Trotz dieses zahlenmäßig mageren Ergebnisses und trotz dieser beinahe unvermeidlichen Mißverständnisse ist das Ergeb nis dieser Rundfrage doch noch immer interessant und wertvoll und hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, daß eine solche Rundfrage, auf breiteste Basis gestellt, Aufschluß über alles geben könnte, was die Menschheit auf kulturellem Gebiete heute bewegt. Jedenfalls geben auch meine Rundfragen-Beantwortun- gcn einen zwar dünnen, aber doch deutlichen Querschnitt durch die Wurzeln unserer Kultur. Es darf nicht vergessen werden, daß immerwährend alle Welt durch Zeitungen, Zeitschriften, Bü cher, Rundfunk usw. beeindruckt wird, ohne daß diese Kultur- mittler ein anderes Echo erhalten könnten als Zustimmung oder Ablehnung durch Absatz und Abnahme dieser Kultur- und Ver triebsmittel oder bestenfalls durch gelegentliche Zuschriften über einzelne Angelegenheiten. In einer solchen Rundfrage, an die große Masse gerichtet, die ihrerseits teils aus Kultur-Trägern und Kultur-Konsumenten besteht, liegt erst die Möglichkeit, in unseren Tagen ein solches Echo zu gewinnen. So ist heutzutage beispielsweise für den Dichter, der seinerzeit einen direkten Kon takt mit seinem Publikum hatte, die Verbindung nur durch die Zeitung hergcstcllt, also durch eine mittelbare Instanz. Es ist deshalb bemerkenswert, daß vielfach in den Fragebeantwortun- gen die Kunstempsehlung (Rezension) durch Zeitungen angegrif fen wird. Der Konsument wehrt sich gegen eine solche Empfeh lung, die er für eine unzulässige Reklame und Bevormundung hält. Doch, — ich lasse nunmehr die statistische Zusammenfassung der Fragenbcantwortuugen für sich selbst sprechen. Es wird vor allem interessieren, daß von den 66 Persönlichkeiten, die das Verantwortlichkcitsgefühl hatten, die Fragen zu beantworten, 58 männlichen und 8 weiblichen Geschlechts waren. Trotz der absolut genommen weitaus geringeren Anzahl von Fraucnzu- schriften ist aber auch dieser Prozentsatz ein Beweis für das ge steigerte Persönlichkeitsbewußtsein der Frau von heute, weil eine unvergleichlich höhere Zahl von Fragebogen an Männer als an Frauen geschickt wurde.