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10280 Mrs-nil-tt I. d. Dt>4», BE-nd-I. Nichtamtlicher Teil. ^ 208, 6. September 1S1L Zur lyrischen Überproduktion. Von Marchicus. Wolzogens überbrettelei und die perversen Verstiegen heiten der Marie-Madeleine haben die Ausübung der Vers- kunst in deutschen Landen populärer gemacht denn je. Heut zutage hat der liebliche Unfug der Dichteritis, früher beinahe ein Primanerprivileg, bei Männlein und Weiblein beängsti gende Dimensionen angenommen. Wer jemals Gelegenheit gehabt hat. in den Redaktionsbetrieb eines belletristischen Blattes hineinzusehen, der weitz, welche Heerscharen heute die Harfen rühren, er weiß aber auch, wie greulich es klingt, wenn potenzierte Impotenz auf Dchmelschen Wegen geht, oder wenn ein Nachahmertalentchen Zusammengelesenes zur Liliencron- wcise fügt. Der Herausgeber einer großen Revue, die keine Verse abdruckt, klagte neulich, daß ihm im Lauf eines Jahres nicht weniger als 1450 Versmanuskripte lediglich zur Prüfung gesandt worden seien! Wohin diese Überflutung mit lyrischem Singsang führt, wissen wir. Es haben sich zum Schaden unserer Kultur vieler- orten Leutchen festgesetzt, die bestrebt sind, aus der Eitelkeit ihrer dichtenden Mitmenschen Kapital zu schlagen, und die erste Folge solcher liebenswürdigen Beflissenheit ist eine er staunliche Überproduktion an lyrischer Makulatur. An das Berliner Blättchen »Die Lyrik«, dessen Autoren für den Ab druck ihrer Verse horrende Summen zahlen mußten, will ich nur im Vorbeigehen erinnern. Die zweite Folge sind — wir haben es vor einigen Monaten erlebt — Bloßstellungen der Herren Verleger, die ihre Schäfchen allzu skrupellos scheren, und damit im Zusammenhänge Anwürfe gegen unseren ehren werten Stand, der jene Elemente gar nicht energisch genug von sich weisen kann. Drittens richtet sich in den Hirnen der Männlein und Wciblein, die nach schmerzlichen Geldopfern ihres Herzens Gestöhn fein säuberlich gedruckt erblicken, allzu oft der Dünkel so hartnäckig ein, daß ihn selbst die kalten Wasserstrahlen ehrlicher Kritik nicht vertreiben können. Wer erst einmal mit verlegerischem Tamtam de» Einzug in unsere Literatur gehalten hat, der ist häufig seinem bürgerlichen Be rufe verloren. Er kann sich, wenn die erträumten Erfolge und die ersehnte goldene Flut ausgeblieben sind, im nüchternen Erwerbsleben des Alltags nicht mehr zurechtfindcn und gefällt sich allgemach in der Drohnenrolle des verkannten Genies. Man hat an vielen Orten eingesehcn, daß dieser unge sunde» Entwicklung Einhalt geboten werden müsse. Rosegger hat die Einrichtung einer offiziellen Prüfungsstelle vorge schlagen, deren Ausgabe es sein sollte, Werke von Neulingen zu begutachten, und Hermann Bahr hat, irre ich nicht, in den Münchner Neuesten Nachrichten einer ähnlichen Idee das Wort geredet. Mir will cs scheinen, daß eine einzelne Prü- fnngsstelle nie und nimmer fähig sein würde, der Riesenanf- gabe gerecht zu werden, zumal wenn nach Roseggers Vor schlag nicht nur Lyrik, sondern alle belletristische Literatur dort durchgcfehcn werden müßte. Man könnte vielleicht an verschiedene Stellen in den deutschen Bundesstaaten denken. Wer aber sollte diesen unfehlbaren Kommissionen angehören? Zielsichere Beurteiler künstlerischer Schöpfungen sind rarer fast als die Künstler selbst. Gereifte Kunst und hoffnungs loses Dilettantenwerk sind leicht zu erkennen, aber die Auf gabe, im Unfertigen Keime der Größe oder mittelmäßiges Älltagsgut zu erkennen, das keiner Pflege bedarf, erfordert besondere Eignung und besondere Organe. Nähme der Staat im Interesse der Kultur den Rofeggerschen Gedanken wirklich auf, so würde es Wohl recht schwer halten, die Klippe zu um schiffen, daß das Zcnsoramt hier und da von ungeeigneten Personen oder doch zu schematisch verwaltet würde. Die Möglichkeit, daß die Prüfungsstelle schweren Schaden stiften : könnte, darf man durchaus nicht ausschließen. Es liegt nahe, an die Debatten über das Prllsungsamt der Schillerstiftung zu erinnern, die wir Heuer zur Faschingszeit anhören mußten. — Avenarius verficht im Kunstwart den Gedanken, »weil das Erscheinen eines Buchs nicht letzten Endes allein davon ab hängig gemacht werden dürfe, ob sich ein zahlender Verleger dafür finde«, solle man am Kommissionsverlag sesthalten, aber an die Stelle des Herstellungskostenverlegers, des »unkontrol lierbaren Privatunternehmers« fortan einen Genossenschafts verlag schriftstellerischer Verbände treten lassen, der unter ge schäftlicher Kontrolle der Verbände und unter künstlerischem Beirat besonders delegierter Sachverständiger zu arbeiten hätte. Die Pcrsonenfragc der Sachverständigen habe ich oben schon gestreift. Ganz abgesehen davon wird manch ein Verleger, der auch als Privatunternehmer nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zu handeln pflegt, der beim Abschluß eines Kommissionsvertrages im Interesse seiner Standesehre und unserer Kultur künstlerische Gesichtspunkte neben den ge schäftlichen maßgebend sein läßt, die geplante Gründung ent behrlich finden. Er würde ihr aber, sollte sie zur Tatsache werden, guten Erfolg wünschen und vor allen Dingen Autoren, die ihre Vertragspflichten erfüllen! Zukunftsmusik ist sowohl der Vorschlag von Rosegger, wie der von Avenarius. Ob aber der Verlagsbuchhandel und unsere Redaktionen Wohl nicht schon jetzt mit einigem Erfolg gegen die Flut der Versdilettantcrei ankämpfen könnten? Ich glaube es fast. Wenn heutzutage irgendein skandierendes Menschenkind einem Verleger sein neuestes Opus ins Haus schickt, dann Pflegt der Buchhändler es ihm mit der Versiche rung zurückzugeben, daß ihn die Sammlung sehr interessiert habe, daß er aber wegen Materialanhäufung, oder weil das schätzenswerte Merkchen nicht recht in seine Verlagsrichtung Passe, oder was der liebenswürdigen Gründe mehr sind, doch darauf verzichten wolle, sich um den Verlag des Bandes zu be werben. Wäre hier — ich betone, daß ich von deutlicher, hoff nungsloser Dilettantenarbeit spreche, die man gemeinhin schon nach der Lektüre der ersten fünf oder sechs Worte erkennt — bei der Rücksendung nicht in klarer, nichtvcrletzender Form die Mitteilung am Platze, daß nach des Verlegers Meinung die Sammlung wertlos sei und ferneres Streben voraussichtlich von geringem Erfolg? Den Abweisungszcttcl der Redaktionen kennt man auch. Er führt in vielen Fällen die notgedrungene Refllsierung ebenfalls auf Überhäufung mit Beiträgen zurück und verfehlt dann selten, den Poeten um fernere gelegentliche Einsendungen zu bitten. Wie sehr fühlt sich die harmlose Seele geschmeichelt, wenn ihr die Post solche freundliche Auf forderung ins Haus bringt! Durch den Qualm der Selbstbe weihräucherung hindurch erkennt der junge Lyriker natürlich das Schema nicht. Aus einem Gelegenheitssünder wird er, durch das ominöse Zirkular verführt, zum unverbesserlichen Versverbrecher, der Redaktionen und Verlegern immer wieder seine Manuskripte auf den Tisch legt mit der ehrlichen Ver sicherung, das oder jenes einflußreiche Blatt wüßte sein Talent zu schätzen und hätte ihn zur Mitarbeit cingeladen. Auch auf den Redaktionen sollte man der Unfähigkeit gegenüber in deren eigenem Interesse und im Interesse des deutschen Schrift- tums etwas weniger rücksichtsvoll sein. Vielleicht könnte man zweierlei Rücksendungsformularc verwenden, eins mit der Einladung für die, von denen man sich wirklich etwas ver spricht, und ein anderes ohne die verführerischen Worte für alle Hoffnungslosen. Wollten die Stellen, die in Betracht kommen, so Verfahren, so könnte man ihnen wenigstens schwerlich noch den Vorwurf machen, der jetzt aus manchen Erörterungen der Dinge heraus klingt: daß sie cs nicht znm geringsten sind, die die dilettie- renden Versmachcr züchten !