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unternommen und das letzte halbe Jahr herrlich und in Freuden gelebt. Als dem Reichert hier der Boden zu heiß wurde, verschwand er, nachdem er sich vorher noch ein Billet nach Amerika und einen Aus landspaß versorgt hatte. Der Polizei gelang eS, den Ausreißer in Dresden festzunehmen. Ihren Angehörigen und Bekannten gegenüber gaben die beiden Bürschchen, wenn man sich über ihren Aufwand wunderte, mit Vor liebe an, sie hätten bedeutende Summe» gewonnen. Die Untersuchung wird wesentlich dadurch erleichtert, daß Reichert die Postauweisungs-Abschnitte der Exemplare, auf denen er die Fälschungen ausgesührt, fein säuberlich in seinem Pult in dem Geschäft aufbewahrt hat. — Zu der Betrugsassaire, die hier viel besprochen wird, kann das „Wochenblatt" neuerdings berichten, daß am Sonnabend nachmittag die Entlassung des unter dem Verdachte der Mitwissenschaft bezw. Hehlerei gefänglich eingezogenen Sinns erfolgt ist. Wie er der Redaktion des genannten Blattes gegenüber persönlich angab, hat er von dein unredlichen Erwerb der bezüg lichen Gelder des Reichert absolut nichts gewußt, sonder» ebenfalls der Meinung gewesen, daß Reichert die Summen, wie er ihm sagte, in der Gothaer Lotterie gewonnen habe. Hohenmölsen, 6. Sept. Der Kriegerverein zu Zetzsch ist behördlicherseits aufgelöst worden, weil er gegen 8 In seines Statius „Liebe und Treue für Kaiser und Reich, Landesfürst und Vaterland zu pflegen, zu be- thätige» und zu stärken", verstoßen hat. Gaschwitz, 6. Sept. Nach beendeter Manöver übung ging ein Vorspannpferd der Ziegelei Zehmen durch und raunte in rasendem Galopp die Straße nach Gohren zu, direkt au dem Wagen Sr. König!. Hoheit des Prinzen Georg vorbei Das scheue Thier stürmte iu die abmarschirende Coloune der 2. und 3. Compagnie des 107. Regiments hinein, woselbst von der 2. Com pagnie ein Mann erheblich, von der 3. Compagnie einer erheblich und einer leicht verwundet wurde. Die verletzten Soldaten wurden nach Leipzig mittels eines in Gohren regnirirten Wagens geschafft. Vorher hatte sich der Prinz persönlich nach ihrem Befinden erkundigt. Zittau, 6. September. Infolge falscher Weichen stellung fuhr der gestern Abend 6 Uhr 35 Min. auf der Haltestelle „Zittau Vorstadt" von Oybin fällige Personen zug auf ei» Nebengleis, wobei 4 Güterwagen zur Ent gleisung kamen. Weder Reisende noch Zugspersonal erlitten bei dem Unfall Verletzungen, nur trat eine zeit weilige Sperrung des Zugsvcrkehrs zwischen Vorstadt und Bahnhof ein. Löbau, 5. Sept. Im benachbarten Kittlitz trank am Sonnabend Abend der Arbeiter Biebas in ein Re stauration innerhalb 13 Minuten einen Liter Schnaps aus reinen: Uebermuth aus und begab sich dann nach Hause, ivo er sich auf einem Stuhl niederließ. Dort saß er auch noch am Sonntag früh, aber — als Leiche. Ein Schlaganfall scheint seinem Leben ein Ende bereitet zu haben. B ermischte s. * Eine Audienz beim Kaiser suchte am Sonntag Mittag cine elegant gekleidete Dame bei einem Sicher heitsposten des Neuen Palais in Park Sansouci zu er halten. Tie Frau erklärte, von Gott beauftragt worden zu sein, dem Kaiser einen heiligen Halm des Himmels zu zeigen. Als der Poste» ungläubig lächelte, erwiderte die Frau: „Sie glauben das nicht? Hier sehen Sie." Dabei schlug sie ihre» Mantel zurück und zeigte dem Posten eine» auf ihrem linken Arm sitzenden prachtvollen Hahn, der beim Erblicken des Tageslichts ein munteres „Kickiericki" ertönen ließ. Hören Sie die Stimme Gottes. Er singt: „Lobe de» Herrn". Das soll ich den Kaiser hören lassen." Der Posten erwiderte, der Kaiser sei verreist, nur die Prinzen seien anwesend. „Dann bringen Sie mich zn den Prinze», die sollen den heilige» Gesang hören." Der Posten wies schließ lich die offenbar von einer fixe» Idee befallene Frau an seine» Nebevposten, der die Wetterführung zum Hof- marschallamt veranlasse» werde. Natürlich wurde dort die sonderbare Dame in höflichster Form abgewiese». * Ein sehr bedeutender Nachlaß ist der Stadt Berlin durch Testament der am 28 vor. Mts. verstorbene» Wittwe C. Silber, geborene Voyö, die Nlexanderstraße 61 wohnte, zugefallem Es handelt sich um zwei Häuser in der Alexanderstraße sowie nm große Summe» in Schuldtiteln und baarem Gelde. Die Wittwe Silber ist 85 Jahre alt geworden und war in den letzten Jahre» so ängstlich und menschenscheu, daß sie kaum Jemand zu sich ließ. I» der Wohnung ist eine große Unordnung aiigetroffe» morden; das baare Geld lag an verschiedenen Orten herum. So sollen über 40,(XX) Mark in Goldstücke», i» altem Zeitungspapier einge- schlage», vorgesunden worden sein. Die alte Dame hatte unter Anderem verordnet, daß ihr Herz vor der Bestattung mit einer Nadel durchstochen werden solle. Dem Superintendenten Vorberg in Schöneberg hat die Erblasserin sür die Leichenrede die Kleinigkeit von 12,000 Mark baar vermacht. Die Beerdigung hat am Sonnabend vom Trauerhause aus mit deni von der Erblasserin vorgeschriebenen Pomp stattgefunden. Unter den reichen Legaten, welche Frau Silber ausgesetzt figuriren unter Anderem 30,000 Mark für die Schiller- Stiftung. Das Wirrsal in der Wohnung, die gut bürgerlich eingerichtet war, wird erst in mehreren Tagen gelichtet sein. Rührend muß die Liebe und das Ver trauen gewesen sein, welches sie zu dem ihr übrigens an sich ganz fern stehenden und fremden Berliner Ober bürgermeister Zelle hegte. Ihm öffnete sie ihr sonst sehr eingekapseltes Herz, und sie gerieth in nicht geringe Aufregung, als sie hörte, daß Herr Zelle zum 1. Ok tober ausscheide, und daß er Berlin bereits verlaffen habe. — Der Fall ist für gewisse alte Frauen in Berlin typisch. Das „Berliner Tageblatt" erinnert zum Bei spiel an die reiche, überaus mißtrauische und geizige, Wittwe Thomas, welche das jetzt abgebrochene Haus Sckloßsreiheit Nr. 1 besaß und in ihrer Menschenfeind lichkeit Niemand in das Haus hineinließ. Ein Mann hatte aber doch ihr Herz erobert, das war Papa Wrangel. Dieser alte Herr besuchte sie sogar und ihm wollte sie ihr ganzes Vermögen vermachen. Es ist aber bei dem Versprechen geblieben und die alte Frau darüber hingestorben. Die Polizei ließ schließlich das Haus er brechen, und da fand man die halbverwcste Leiche neben ihren Schätzen liegend. So schlimm ist mm die Wittwe Silber nicht gewesen, sie war vielmehr gegen ihre Miether nachsichtig und Mancher soll ihr den Miethzins im Laufe der Jahre schuldig geblieben sein. * Ein deutsches Schiff von Piraten überfalle». Der spanisch-amerikanische Krieg hat, wie es scheint, dem Piratemmwesen im karaibunsche» Meer zu einem neuen Aufschwung verhalfen. An der Küste von Venezuela ist vor Kurzem, wie aus Maracaibo gemeldet wird, wieder ein Schiff von Indianern überfalle» und ausgeraubt worden, während die aus wenigen Leuten bestehende Mannschaft gezwungen wurde über Bord zu springen und ans Land zu schwimmen. Das Schiff war die deutsche Bark „Hedwig", welche vom Sturm an die Küste von Gaojira verschlagen war, nur zehn Meile» entfernt von dem venezuelischen Fort Sa» Carlos bei Maracaiba. Die „Hedwig" war weder mit Schießwaffe» »och mit einer Signalkancme versehen, konnte daher den indianische» Seeräubern weder Widerstand leisten, noch dem Fort ei» Nothsignal geben. Dies ist seit etwa Jahresfrist der vierte Fall, daß fremde Segelschiffe in der Nähe Maracaibos von den indianischen Seeräuber» geplündert sind. Die venezuelischen Behörden sind ent weder nicht Willens oder außer Staude, dem Treibe» der Pirate» Einhalt zu thun. Handels-Nachrichten. Lvrlin, 6. September. (Wechsel-CourS). Vouk Disevick Mark Amsterdam § 8 T 169,10 G. pr. 100 Cl. fl. '' 2M 168,20 G. Brüssel und Antwerpen ., 8 T 80,60 G. pr. 100 Francs ' 3M 80,20 E Italienische Plätze 10 T 75,— G. pr. 100 Lire ' 2M — Schweiz. Pl. 100 Frc. 4 10 T 80,50 G. London 8 T pr. I Lstrl. " 3M 20,40 G. 20,29 G. Madrid und Barcelona . 14 T pr. 100 Pesetas 2M — — Paris 8 T 80,80 G. pr. 100 Francs " 3M 80,40 G. Petersburg 8 T pr. 100 Silber-Rubelo3M — — Warschau 100 Silb.-R. 8 T — Wien , 8 T pr. 100 kl. Oe. W. 3M 169,85 G. 168,50 G. Neichsbank 4»/», Lomb.-Z.-F. 5"/». Norlin, 6. September. Spiritus 70er loco 54,20, Umsatz: 40,000 Liter. I-rostan, 6. September. (Spiritus! per 100 Liter lOOproz. excl. 50 Mk. Verbrauchsabgaben per September 73,20 Br., do. 70 MI. Verbrauchsabgaben per September 53,20 Br. Wetter: Schön. Riixäetznrrr, 6. Sept. (Zucker.) Kornzucker excl. 88"/o Rendement 10,30—10,55. Nachprodulte excl. 75",„ Rendement 8,10—8,55. Tendenz: Fest. — Brodraffinade I. 24,25. Brodraffinadc II. 24,00. Gem. Raffinade mit Faß 23,870z bis 24,25. Gem. Melis I. mit Faß 23,25. Tendenz: Fest. Rohzucker I. Produkt Transito f. a. B. Hamburg per Sept. 9,55 Gd., 9,65 Br., per Okt. 9,70 Gd/j 9,72'/, Br., per Nov.-Dez. 9,70 Gd., 9,75 Br., per Jan.-März 9,87'/, Gd., 9,92'/, Br., per April-Mai 10,02'/, Gd., 10,07'/, Br. Tendenz: Besser. Itamtmrx, 5. Sept. (Getreidemarkt.) Weizen loco matt, Holstein, loco 158—164. — Roggen matt, meckl. loco neuer 132—138, russischer loco ruhig, 96. — Mais 94. — Hafer ruhig. — Gerste ruhig. — Rüböl ruhig, loco 51. Wetter: Schön. Ikremen, 5. Sept. (Baumwolle.) Tendenz: Ruhig. Up- land middl. loco 31 Pfg. Liverpool, 6. Septbr. (Baumwolle.) Mnthmaßlicher Um satz: 8000 Ballen. Stimmung: Ruhig. Import: 2000 Ballen. — Umsatz: 10,000 Ballen, davon für Speculalion und Export 500 Ballen verkauft. Tendenz: Amerikaner ruhig, middling shares '/^s niedriger, Ostindische träge. Middling amerikanische Lieferungen. Sept.-Okt. 3°/»« Käufer, Nov.-Dez. 3",, Werth, Jan.-Febr. 3°/«« Käufer, März-April 3°/,« do. Zahlungseinstellungen. Kaufmann Richard Naschke, i. Fa.: B. Naschke und Söhne, Frankenstein i. Schles. Kaufm. Carl Goeters, Inh. einer Kalklöscherei, Köln. Schnittwaren- handler Ernst Wilhelm Vogel, Krakau-Königsbrück. .Kaufm. Paul Busch, Cottbus, «ägewerksbesitzer Franz Hermann Steiniger, Schleifcrsmühlc-Passau. Pechvogel oder Glückspilz ? Humoristischer Roman von Agnes Meyer. (Original.) (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) „Joseph", schrie cr dann mit Stentorstimme, als gälte es den Befähigungsnachweis als Posaunenbläser zum jüngsten Gericht zu erbringen. '„Ordnung schaffen!" herrschte er den Eintretenden an. Der murmelte etwas zwischen den Zähnen, was man bei sehr viel guten Willen wohl sür „zu Befehl Herr Lieutenant" hätte halten können, was aber im Urtext „is sich ä schecne Schweinerei" lautete. „Der neue Säbel is sich aber —" „Maul halten!" schrie der Lieutenant, der noch immer wie ein gefangener Löwe im Käfig im Zimmer auf und ab rannte. Joseph begann jetzt die Scherben des Apollo zu sammen zu lesen und hielt sie dann seinem Herrn mit fragender Gcberde hin. „Donnerwetter, Kerl, bist Du denn so schwer von Koppe? Nausschmeißen sollst Du das, aber schnell — schnell, sonst fliegst Du gleich hinterdrein." Endlich hatte das Zimmer wieder seine gewohnte Physiognomie. Joseph zog sich in seine Kammer zurück und der Leutnant „belegte" das Sopha im wahren Sinne des Wortes. Es war doch eigentlich lächerlich, sich so aufzuregen, dachte er. Und warmu? — Weil er den Zug versäumt hatte! Na — 's war ja ani Ende nicht gerade an- genehm, aber immerhin war's doch eine Lappalie. Es war doch wahrhaftig das erste Mal, daß er den Zug versäumte; er wußte doch, daß er zu den Pechvögeln gehörte. Er hätte es sich ja heute Morgen schon sagen könne», als die Sonne so prächtig schien, daß noch etwas dazwischen kommen würde. Ja, wenn'S geregnet hätte, dann vielleicht — aber so. — Wie oft hatte er eigentlich schon Pech gehabt? Wie oft? Auch schon als Kind war er ei» ausgesprochener Pechvogel. Damals, als er ohne Stiesel nach Hause kam, hatte cs schon angefangen Die Dorfjimgen meinte» nämlich, auf seine schönen SLnlpstiefsl zeigend, ohne diese könne man viel besser laufen und springen. Er mar so ei» sechsjähriger Knirps, der die großen Jungen voll Bewunderung betrachtete. Hei, wie konnten die klettern auf Baume und über Mauern und Hecken, und wie sprangen sie über den breiten Bach! Was die sagten, das war doch sicher wahr, dis mußten es wissen. Er ließ sich deshalb die Stiefel ausziehen und die Strümpfe dazu — er wußte es »och so genau und lächelte m der Erümermig — der schwarze Kaspar wars gewesen, der größte Taugenichts im ganzen Dorfe. Tie Füße thaten ihm wohl etwas weh, aber es ging doch prächtig. Wie er aber später die Sachen wieder anlegen wollte, da waren sie trotz eifrigen Suchens nicht zu finden. Da mußte er denn barfuß nach Hause gehen, begleitet von der johlende» und schreiende» Dorfjugend. Es war doch gar zu spaßig gewesen! Maina hatte gescholten und Papa gelacht, imd die Dienerschaft war zusammeuge- lausen und hatte sich gewundert. Das war der Anfang gewesen und so wars fortgegangen. Früher waren diese kleinen Zwischenfälle mehr komischer Art gewesen, später wurden sie aber doch manchmal unangenehm, ja mit unter sogar sehr unangenehm. Aber Pech hatte er doch gehabt, so lange er sich erinnern konnte, das stand fest. Daß er im vorigen Jahre bei einer Landpartie unter de» Trümmern seines umgestürzten Wagens noch lebend hervorgezogm wurde, könnte man ja allenfalls als Glück bezeichnen, ivenns bei einem solche» Pechvogel nicht gar zu absurd gewesen wäre, so wirds wohl nur ein bischen weniger Pech gewesen sein. Das einzige Glück bei der Sache war, wenigstens sagte Soden so, daß er der einzige Insasse des Wagens gewesen. Noch manches ging ihm durch de» Kopf an jenem Sonntagnachmittag, Ernstes und Heiters, komische und heitere Episoden. Er merkte es gar nicht, daß der Zeiger der Uhr immer weiter vorrückte und war ganz erstaunt, als sein Bursche den Unteroffizier vom Dienst meldete, der den Dienstzettel für den folgenden Tag brachte. „Es ist doch sonderbar wie die Zeit vergeht," dachte der Lieutenani, „ich glaubte erst, der Nachmittag würde gar kein Ende nehmen und nun ist schon sechs Uhr." Er nahm den Dienstzettel in Empfang und ver abschiedete den Mann. „6'/, bis 9'/, Uhr Eskadron Felddienst," las er, „10 bis 11 Uhr junge Remonlen unter Premierlieute nant Graf Soden —" Der Lieutenant nickte und setzte hinzu „Von elf bis unbestimmt Verlobungsfrühstück im „luftdichten Schneider." * * * Es war kurz nach balb zehn Uhr vormittags, als die Husaren, vom Felddienst kommend, in ihre Quartiere eiiigerückt waren. Vor der Reitbahn hielten noch einige Offiziere im Gespräch beieinander. „Du bleibst also hier, Soden?" fragte Lieutenant von Dierwald. „Ja," erwiderte dieser, „ich möchte pünktlich schließen, mnß demnach auch pünktlich anfangen." „Bitte ja nicht zu spät, Utz," warf jetzt der Gast geber, ein älterer Premier mit vollem Schnauzbart ein, „es wäre jammerschade, wenn Perkers Kunst nicht voll gewürdigt würde. Du wirst staunen, was der geleistet hat. Ich habe ihm vollständig freie Hand gelassen — unter der Bedingung hat er nämlich das Arrangement nur übernommen." Soden lachte: „O, ich habe ihn immer für einen ,Hans in allen Taschen' gehalten und bin so leicht nicht aus der Fassung zu bringen. Ich glaube, ich wäre nicht mal überrascht, wenn er indische Vogelnester serviren ließ." „Eh — da sieht man gleich, was der davon ver steht," rief ganz entsetzt Perker, höre mal, Verehrtester,