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Eie, die sonst nie oder nur höchst selten die Iniative ergriff, hielt nun doch einmal den Moment für gekommen, selbständig handelnd einzugreisen. An eine Verbindung mit Werlinger hatte sie bisher nie ernstlich gedacht; nun aber regte sich plötzlich das hei ligste, edelste Gefühl: die Mutterliebe, so allgewaltig pak- kend, daß andere, egoistische Empfindungen dadurch völlig zurückgedrängt wurden und nur der Wunsch, dem geliebten Kinde hilfreich beizustehen und es glücklich zu sehen, sie ganz erfüllte. Vivian aber war wie von schwerer Seelenlast befreit, der Mutter um den Hals gefallen und wieder fröhlich ge worden. Jener Moment, in welchem sie bereit gewesen, ihr junges Leben hinzugeben für dasjenige, das ihr teurer schien, als alles in der Welt, dieser Moment sollte auch für Werlinger entscheidend werden. Bald nach ihrer Ankunft in San Remo erhielt Vivian einen Brief von ihm, dessen Zeilen manchen bangen Zwei fel und die Scheu vor etwas Unmöglichem in ihrer Brust löste. Es waren durchaus keine überschwenglichen Dankes- worte, denen Werlinger darin Ausdruck verlieh. Nur wie jemand, der das Recht und die Pflicht hat, heilige Emp findungen preiszugeben, sein ganzes moralisches Sein in voller Klarheit zu durchleuchten, so sprach er über die Vergangenheit. Auch bezüglich seiner einstigen Beziehungen zu Bianka Behring und seiner früheren Ansichten über Ehe und Ehe glück entrollte sich ihr plötzlich ein völlig anderes Bild. Aber gerade jene Wandlung mit all den durchkosteten Bitterkeiten, schrieb er, sei ihm heilsam gewesen. Das ominöse Wort: „Der Rattenfänger", das ihn überall ver folgt und fast die Freude am Beruf genommen, es habe seinen Stachel nun verloren. „Jene geheimnisvolle Macht", fuhr Winfried Werlin ger in rückhaltloser Offenheit fort, „die mir von meinen Gegnern als etwas Sinnbetörendes, Gefährliches ange dichtet wurde, sie besteht ja wohl einzig nur in dem mein ganzes Sein erfüllenden Interesse, welches ich dem Ein zelnen entgegenzubringen vermag, in der Liebe zur lei denden Menschheit und in der, vielleicht zu sehr an Opti mismus streisenden Zuversicht: du wirst und du mußt hel fen! Auch Ihnen gegenüber, Komtesse, fühle ich mich von einer wahren Seelenlast befreit. Das düstere Rätsel, das ich nie zu ergründen vermochte, eine schwere, aber gott gesegnete Stunde hat es gelöst." Auf Vivians ganzes Denken und Empfinden hatten diese Mitteilungen den denkbar tiessten Eindruck gemacht. Allein inzwischen waren Monate vergangen, ohne die Erfüllung jener sehnsuchtsvollen Zukunftsträume näher zu rücken. * Es war ein prächtiger, doch schon ziemlich warmer Märztag gewesen und man hatte sich während Ler An wesenheit der Baronin Lortzing meist auf der nach dem Meere zu gelegenen Terrasse aufgehalten. Es schlug die fünfte Nachmittagsstunde, als die Ba ronin sich zum Aufbruch und zur Heimkehr nach Nizza rüstete. „Willst du mich nach dem Bahnhof begleiten, Vivy?" fragte sie in ihrer mehr befehlenden als bittenden Art. „Wir gehen natürlich bei diesem Prachtwetter zu Fuß," fügte sie hinzu, als Vivy mit allen Anzeichen einer gewißen Verlegenheit zögerte. Aber dann siegte rasch die alte Liebenswürdigkeit in dem jungen Herzen, und sie sagte gern und freundlich zu. (Schluß folgt.) Wachsen und Reisen Niemand weiß soviel Schlechtes von uns, wie wir selbst — und trotzdem denkt niemand so gut von uns, wie wir selbst. Franz v. Schönthan. Wer in den alten Zeiten Eriechenlannds nach Delphi kam, um vielleicht das berühmte Orakel zu befragen, der kam auch zu dem Tempel des griechischen Gottes Apoll und las dort über dem Eingang die Inschrift „Erkenne dich selbst". Es ist wahrscheinlich, daß dieses Wort nicht ohne tieferen Grund an Lieser Stätte stand und sicher hat es schon damals vielen zu denken gegeben, denn dieser kurze Satz kehrt in den Büchern Ler damaligen Zeit recht häufig wieder und gab den Philosophen zu vielen, gedankenrei chen Betrachtungen vielfältigen Anlaß. Es hat Weis« ge geben und es gibt sie wohl auch heute noch, die die Er füllung dieser Forderung mit der Erkenntnis aller Welt rätsel gleichsetzten, die sagten, daß, wer sich selbst vollends durchschaue in die ungeheuren Tiefen seines körperlichen und geistigen Lebens bewußt hinunter blicke, dem lösten sich alle Geheimnisse, die das ganze Dasein birgt. Doch das mag Sache der Philosophen sein. Sicher ist jedenfalls, daß wohl noch kein Mensch sich selbst vollkom men erkannt hat, und für jeden beweist es jeder Tag, daß sich ihm immer stets neue Seiten in seinem Wesen ent hüllen, Charaktereigenschaften, die er vordem vielleicht nie für möglich gehalten hätte. Man kann sagen, daß die Be schäftigung mit solchen Entdeckungen und Enthüllungen in der eigenen Brust die schönste und wertvollste Beschäfti gung sei, wenn das Leben mit seinem ständigen Kampf uns die Muße dazu gewährte. Aber das tut es nicht. Täg lich stellt es uns vor neue Aufgaben und läßt uns wenig Zeit, darüber oder gar über uns selbst nachzudenken. Und so kennen wir uns nur halb, jedoch trotzdem genauer als irgend ein anderer Mensch in der Welt. Es gibt keine Schattenseite, die sich jemals zeigte, an die wir uns nicht erinnern könnten, ja eigentlick sind uns gerade diese be sonders stark bewußt, weil jede von ihnen eine Nieder- lgge bedeutete, die unser besseres, höherstrebendes Ich ein mal erlitt. Dennoch rechnen wir vor uns selbst durchaus nicht zu den schlechtesten Menschen. Im Gegenteil, wir sind immer noch edle Charaktere, zwar behastet mit mensch lichen Schwächen — aber wer hat denn keine Schwächen? Damit tröstet man sich. Doch gerade hierin liegt der große Irrtum. Betrachtet dan einmal das Leben der Großen in der Geschichte, so finden wir darin den allen ge meinsamen Zug, daß sie ständig an sich selbst gearbeitet hatten. Wirkliche Größe ist nämlich kein angeborenes Ta lent, kein Erbgut, das einem in den Schoß geworfen wird, sondern es ist, mag auch eine überragende geistige Ver anlagung stets vorhanden sein, immer nur das Ergebnis einer zähen Arbeit an sich selcht. Die Begabung ist ja an fänglich immer nur ein unförmiges, ungestaltenes Etwas, aus dem der unbezwingliche Wille des Menschen, gleich dem Bildhauer, erst die vollkommene Form herausmeißelt. Wie aber soll einer den Meißel an seiner eigenen Per sönlichkeit führen können, wenn er seine Schwächen und Fehler nicht erkennt und nicht als solch« anerkennt? Wenn er sich bei seiner eigenen geistigen Unförmigkeit damit tröstet, daß andere auch nicht bester seien? Wer reifen, wachsen, sich zur Persönlichkeit vervoll kommnen will, Ler darf sich vor seinen eigenen Mängeln nicht fürchten. Er muß sie zu erkennen suchen und dann den Kampf mit ihnen aufnehmen, bis der stärkere Wille sie bezwungen hat. Darin liegt das Geheimnis jenes mehrtausendjährigen Satzes „Erkenne dich selbst." Darin ist seine ganze Weisheit beschlosten. Wer das einmal be griff, der braucht nicht erst nach Orakeln zu lausen und die Zukunft deuten zu wollen, ob ihre Schicksale auch zu er tragen seien. Denn dann gibt es keine Aufgabe und kein Schicksal, denen man nicht gewachsen wäre, weil man das Misten und die Erfahrung in sich trägt, daß die Kräfte bei erhöhten Anforderungen wachsen und kein Berg zu hoch ist, als daß ihn der höher gespannte Wille nicht über steigen könnte.