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Osterreis. Von W. Wiesen. Nachdruck verboten. Von der alten Domkirche tönen die Glocken. Es ist Ostersonntag. — In Festkleidern, mit frohfeierlichen Ge sichtern gehen die Menschen die Straßen entlang. Die Thüren der Gotteshäuser stehen weit offen, frische, sonnen durchleuchtete Frühlingsluft dringt in die dumpfen Mauern, und neues Hoffen, unbewußte Fröhlichkeit in die Herzen der Menschen. Ist es der Hauch des mild erquickenden Lenzwindes, der uns umfächelt, alle Kümmernis verweht, und dies leise prickelnde Glücksgesühl in uns erweckt, das zu sagen scheint: „Alle Trübsal wird jetzt schwinden und Freude auferstehn?" — Ostern ist die Zeit fröhlichen Hoffens, und so lange der Mensch hofft, so lange ist er glücklich. — Ueber die Hintertreppe des großen Hauses mit den Spiegelscheiben huscht ein kleines, etwa 6 jähriges Mädchen. Es trägt ein dunkelblaues Flanellmorgenröckchen und eine weiße Hängeschürze. Die blonden Haare sind noch in ein dickes Zöpfchen gebändigt, das mit seiner roten Schleife keck und lustig, wie ein Perpendikel, bei jeder lebhaften Bewegung des Köpfchens hin und her schwingt. Das Kind ist ungemein lieblich, mit seinen runden, weichen Formen, dem zartrosigen Teint, den großen, sprechenden Augen. Vorsichtig klopft es jetzt an eine niedrige Thür, auf deren blankem Messtngschild zu lesen steht: „Brückner, Schneidermeister." „Wer ist da?" fragt von innen eine freundliche Frauenstimme. Das kleine Mädchen drückt sein Näschen an die ge öffnete Thürspalte, während es etwas hinter dem Rücken verbirgt. Seine Augen blitzen vor Ungeduld und Erwartung. „Ist der Hermann zu Hause?" „Ja, Friedachen," antwortet die Frau, „komm nur herein, er schläft noch." Sie zieht das Kind in die Stube. — Weißgescheuerte Dielen, unzählige gehäkelte Deckchen auf Sopha und Tischen, grellbunte Papierblumen zu beiden Seiten der am Pfeiler unter dem Spiegel stehenden Komode, unschöne Nippes, vergoldete Tassen und die an den Wänden ausgestellten Familienphotographien zeigen auf den ersten Blick bescheidenen Wohlstand, Sauberkeit, Ordnungsliebe, aber auch den kleinbürgerlichen Stand der Bewohner. „Der arme Jung'," fährt die Frau mehr zu sich selbst redend, fort, „er hat sich die letzten Wochen so abgeplagt vor der Versetzung; immer die halben Nächte verstudiert. Darum laß ich ihn jetzt recht ausschlafen, er hat's verdient." Stolzes Glücksgefühl klingt aus der Stimme. „Nun aber ist es wirklich Zeit, ich werde ihn wecken." „Nein, ich will ihn selbst aufwecken," ruft die Kleine, voll schelmischer Freude, ihren Plan gelungen zu sehen. „Ich hab' Osterruten — da!" Sie zieht unter dem Schürzchen einige braune Birkenreiser hervor, mit zart grünen, durch künstliche Wärme zu früh getriebenen Blättchen. „Damit soll er was kriegen — tüchtig," flüstert sie geheimnisvoll. Die Frau lacht. Sie öffnet sacht die Thür zu der neben dem Zimmer gelegenen Kammer. Es ist ein kleiner, aber freundlicher Raum, der nach Hof und Garten hinaus geht. An dem einzigen Fenster steht ein viereckiger Arbeits tisch, zur Seite ein Gestell mit vielen arg zerlesenen Schul büchern. An der Langwand ein Kleiderspind, diesem gegenüber ein schmales Bett, in welchem ein etwa vierzehn jähriger Knabe schläft. Das kleine Mädchen schleicht leise kichernd heran, die weiße, runde Patschhand schließt sich fester um das grüne Birkenreis und schwingt es erbarmungslos über den friedlich Träumenden, und: „Ostern! Ostern!" jauchzt es mit Heller Stimme, nicht achtend, daß der braune, lockige Kopf des Knaben sich vergeblich unter der dünnen Decke zu bergen sucht, und seine Hand, die nach der ihren Haschen will, schon feuerrote Streifen zeigt. Frau Brückner muß endlich der kleinen Grausamen Einhalt thun. „Nun laß gut sein, Friedachen, der Hermann hat jetzt genug zum Osterfesttag; er muß endlich aufstehn. Sput' Dich nur, mein Jung'," ^wendet sie sich an diesen und fährt mit der arbeitsrauhen Hand zärtlich über sein ver wirrtes Haar, in dem noch die grünen Birkenblättchen hängen. „Dein Vater ist schon zur Kirche gegangen, ich bin bloß dageblieben, um Dir den Kaffee warm zu halten." „Ja, Mutter, ich bin gleich fertig. Aber laß doch Frieda «arten. Nimm Dir das Osterei vom Tisch, Frieda, das schenke ich Dir, es ist von Zucker." Die Kleine betrachtet ernsthaft das kleine, weiße, an blauem Seidenbändchen hängende Ei, auf dessen Vorder seite ein seltsam geformtes Lamm grast, während die Rück seite ein dickes, rotes Herz ziert. „Du, das ist aber häßlich; das werde ich meiner Puppe schenken. Ich hab' schon ein ganz großes Osterei von Mama bekommen, mit rosa Seidenschleifen und Zucker blumen, und oben ist ein Guckloch; wenn man da durch sieht, ist innen ein ganzes Schloß und Bäume und Menschen und Tiere. Du darfst auch mal durchsehen, Hermann, und Du sollst heute Nachmittag zu uns 'rüberkommen, mit mir spielen, hat Mama erlaubt, weil unser Fräulein ausgeht. Du, dann bauen wir wieder ein Haus von vielen Stühlen, so wie neulich, und dann wohnen wir Beide darin." Der Knabe nickt, seine dunklen Augen ruhen zärtlich auf dem lieblichen Geschöpfchen, dem der Eifer die runden Backen dunkelrot gefärbt hat. Frieda ist das jüngste Töchterchen des Geheimrats Marbach, welcher die Beletage des Vorderhauses bewohnt. In dem viel älteren Knaben hat die Kleine einen uner müdlichen Spielgefährten gefunden, der jeden freien Augen blick, den ihm die Anforderungen des Gymnasiums übrig lassen, ihrem kindlichen Vergnügen zur Verfügung stellt. Hermann klebt ihr Kästchen und Papierpuppen, er umzäunt das Blumenbeet, welches ihr im Garten gehört, er macht ihr eine kleine Laube und pflanzt geduldig immer von Neuem bunte Bohnen darum, welche die kleinen unnützen Hände so oft aufscharren, um nachzusehen, „ob sie schon wachsen." — Wenn Frieda in den Vormittagsstunden mit ihrer Bonne spazieren geht und Hermann, aus der Schule kommend, ihnen begegnet, stürzt die Kleine jubelnd auf ihn zu, daß die goldblonden, schön gepflegten Haare nur so fliegen. Und wie oft, wenn er gerade bei der griechischen Uebersetzung ist, hört er die Helle Kinderstimme vom Hof aus seinen Namen rufen: „Hermann, Herrrrr—mannn—, komm herunter, — spielen!" Er öffnet das Fenster. „Noch nicht, Friedchen, ich muß arbeiten. Noch ein Weilchen." Aber kaum zwei Minuten vergehen, da klingt es wieder, und diesmal in trotzig befehlendem Ton: „Hermann, — nun komm aber; jetzt ist's schon ein Weilchen!" Er klappt die Bücher zu und läuft die Treppe hinunter. — Was jetzt versäumt wird, kann er ja durch Nachtarbeit nachholen. Im Vorderhause gestattet man diese kindliche Freund schaft gern, denn der Knabe ist wohlerzogen, bescheiden und sehr begabt. Der Geheimrat klopft ihm oft freundlich aus die Schulter und sagt zu seiner Frau: „Aus dem Jungen wird mal ganz was Tüchtiges werden." Hermann will studieren; seine Eltern haben ihr gutes Auskommen, auch etwas gespart, und er ist ihr einziges Kind. So vergehen schnell ein paar Jahre. Das kamerad schaftliche Verhältnis der beiden Hausgenossen bleibt un verändert. Frieda ist jetzt ein großes, schlank aufgeschossenes Mädchen, das nicht mehr mit Puppen spielt, aber jeden deutschen Aufsatz mit dem Primaner bespricht und sich von ihm die schönsten Dramen unserer Klassiker und viele stimmungsvolle Gedichte vorlesen läßt. Daß er selbst, in heimlichster Stille, glühende Gedichte an sie verfaßt, ahnt sie nicht. Und als wieder Ostern herankommt, hat Hermann die Abiturienten-Prüfung glänzend bestanden. — Nur flüchtig umarmt er Vater und Mutter und eilt dann in das Vorderhaus, um sich bei Geheimrats vorzustellen. Man gratuliert herzlich, er wird sogar zu Tische geladen. Frieda findet, daß die feuerrote Studentenmütze zu seinen dunkeln Haaren prächtig steht. Da die Stadt eine gute Universität hat, so braucht Hermann fürs Erste den bisherigen Wohnort nicht zu ver laffen. Er studiert mit rastlosem Eifer. — In der zulässig kürzesten Zeit macht er das Referendar-Examen. Jetzt ist auch Frieda erwachsen, sie besucht Bälle und Gesellschaften und wird als bildhübsches Mädchen, sowie als Tochter ihres mittlerweile zum Präsidialrat beförderten Vaters sehr gefeiert. Mit dem Jugendfreunde trifft sie häufig zusammen, und wenn sie auch „Herr Referendar" und „gnädiges Fräulein" zu einander sagen, so klingt doch ein Ton warmer Vertraulichkeit durch ihr Gespräch. Ob Frieda es ahnt, daß das Herz des jungen Mannes mit glühendem Sehnen an ihr hängt, daß all sein Denken und Hoffen, sein Streben und Schaffen nur ein einziges Ziel hat: — ihren Besitz?! Schwerlich, sonst könnte sie nicht so harmlos unbefangen mit dem Jugendfreunde ver kehren. Ganz wie in der Kinderzeit hat sie ihn auch jetzt gern aus jeden Wink in ihrer Nähe. Es plaudert sich so gut mit ihm, er ist geistreich, rücksichtsvoll, zuvorkommend, und zarteste Verehrung leuchtet aus seinen dunkeln Augen. — Das Alles ist angenehm und macht dem schönen Mädchen Freude. Aber es kommt ihr dabei nie in den Sinn, daß Hermann noch andere Wünsche hegen könne, als einen Tanz mit ihr oder ein lustiges Ballgespräch. Stehen sie auch geistig und gesellschaftlich jetzt auf gleicher Stufe. Frieda vergißt es doch nie, daß er in der kleinen Wohnung des Hinterhauses seine Jugendzeit verlebt hat. Wie könnte sie den alten, grauhaarigen Mann mit der Brille und dem Fingerhut jemals „Vater" nennen, die Frau im buntbedruckten Kattunrock und der breiten Küchenschürze, als „Schwiegermama" bei sich empfangen, sie, die sie so oft eigenhändig die Kartoffeln zum Mittagbrot hat schälen sehen. — Der Winter ist in diesem Jahre ungewöhnlich lang gewesen. Es schien, als wollte Eis und Schnee gar kein Ende nehmen. Noch bis in den März hinein tobten die Schneestürme, Weg und Steg verschüttend und die Not der Armen täglich steigernd. Aber jetzt ist über Nacht der Frühling ins Land ge kommen. Schon spürt man in der Luft jenen wunderbar belebenden Hauch kommenden Lenzes, den Atem der noch schlummernden Natur. Das Osterfest ist nahe. Auf dem Dache des großen Eckhauses mit den Spiegel fenstern sitzen die Spatzen, putzen sich im Hellen Sonnen schein und machen einen tollen Lärm. — Im Hinterhause, in der Wohnung des Meisters Brückner, wird auch geputzt und gescheuert; alle Fenster stehen offen, und es riecht nach frischem Kuchen. Man erwartet den Sohn, der nach längerer Abwesenheit als Doktor juri8 zum Besuch der Seinen eintreffen soll. Die Mutter hat soeben sein Knabenstübchen für ihn hergerichtet: das einfache Bett frisch bezogen, den alten Schultisch gescheuert und die Bücher abgestäubt. Sie wischt mit der groben Küchenschürze abwechselnd über Stühle, Augen und Nase. So ist ihr noch keinmal im Leben zu Mute gewesen, — noch nicht einmal an ihrem Hochzeits tage, — so selig froh und doch so beklommen. „Ach Gott, Vater, unser Jung', unser lieber, lieber Jung'," sagt sie jetzt, die Hände über der Schürze faltend, zu dem alten, gebückten Manne, der am Fenster an einer Weste näht, „wenn ich mir denke, was er nun für ein kluger, feiner Herr ist — ein Herr Doktor! Es ist fast zu viel Freude, die wir an dem Hermann erleben, und da habe ich immer solche Angst, ob er uns jetzt auch noch so gut sein wird wie früher, und sich auch nicht schämen thut wegen seiner Eltern, weil wir doch nur einfache Leute sind. Dann wollt' ich aber viel lieber, er wär' kein Studierter geworden, wenn irgend wer von den Vornehmen ihn mir sollt' abspenstig machen und er seine alte Mutter vergäße." Die Frau schluchzte bitterlich. Aber sie hatte sich umsonst gesorgt. Unverändert im Herzen, nur männlicher und stattlicher von Gestalt, war der junge Doktor heimgekehrt. Er hatte die Eltern auf das zärtlichste begrüßt, sich über jedes Stück des alten Hausrats gefreut, in seinen Schulbüchern lächelnd ge blättert und sogar den Porzellanschwan auf der Kommode wiedererkannt, der noch immer allerlei Schätze barg und mit ausgebreiteten Flügeln hütete: Stecknadeln, ein Stückchen Kreide, ein paar weiße Hemdenknöpfe, zwei Stahlfedern, eine Fünfpfennigmarke und dergl. nützliche Dinge mehr. Ja, es war noch alles ganz so wie früher. Hermann wurde es weich und wohl dabei zu Mute. Der erste Tag gehörte den Eltern: dem Fragen, Er zählen, Liebkosen und Erinnern, aber am nächsten Vor mittag, dem Ostersonntag, ging der junge Doktor ins Vorderhaus, dem Präsidialrat und dessen Familie seine Aufwartung zu machen. Hermanns Herz klopfte fast hörbar, als er den Salon betrat. Nur die Rätin kam ihm entgegen, nötigte ihn freundlich, Platz zu nehmen, und erkundigte sich nach seinem Ergehen. Er antwortete halb gedankenlos, sein Blick haftete auf dem nebenan gelegenen Boudoir, aus welchem er, leise flüsternd, Friedas Stimme zu vernehmen glaubte. Endlich teilt sich die Portiere und das Mädchen tritt herein, lieblicher denn je, die Augen schelmisch lachend, die Wangen leicht gerötet. Ihr folgt ein mittelgroßer Herr mit blondem Bart und goldenem Pincenez. „Willkommen daheim, und schönsten Glückwunsch, Herr Doktor." — Sie blickt den in hoher Erregung vor ihr Stehenden freundlich an, indem sie ihm die runde, weiche Hand bietet. „Den Glückwunsch können Sie mir aber gleich erwiedern: hier — mein Bräutigam, Regierungsrat von der Crone, — mein alter Jugendfreund, Doktor Brückner." Einen Augenblick ist lautlose Stille im Zimmer. Die beiden Herren verbeugen sich gegeneinander, — dann sagt Hermann seine Gratulation. Frieda lacht glockenhell: „Das war eine Ueberraschung! Nicht? — Sie sind ja noch ganz versteinert. — Ich hatte aber auch Ihrer Mutter eingeschärft, ja nichts zu verraten; das Vergnügen wollte ich selbst baben!" Er sollte nun durchaus zum Frühstück bleiben, lehnte aber dankend ab, da seine Eltern ihn erwarteten. Dann ging er die Hintertreppe hinauf, in sein Knabenstübchen. Da setzte er sich auf den Rand des schmalen Bettes und stützte den Kopf in die Hände. War es nicht ganz wie damals, — als ihn das kleine Mädchen .am Ostermorgen in unbewußter Grau samkeit aus süßem Traume geweckt?! War nicht auch heut jedes ihrer Worte wie ein Rutenschlag in sein Herz gedrungen und hatte all die zarten, hoffnungsgrünen Triebe abgestreift, die sich allzu früh hervorgewagt? — Wie die Blättchen am Birkenreis, durch künstliche Wärme getäuscht, sich entfalten, so hatte auch sein eigenes warmes Empfinden Hoffnungen sprießen lassen, die jetzt zertreten und verwelkt am Boden lagen. Lange, lange verharrte der junge Mann in tiefem Sinnen, dann raffte er sich auf, strich mit kräftiger Be wegung das dunkle Haar aus der schöngeformten Stirn, und ging ruhigen Schrittes in das Zimmer der Eltern. Der Vater saß wie immer am Fenster, hatte die Brille hoch auf die Stirn geschoben und rauchte behaglich seine Sonntagspfeife. Vor ihm auf dem Fensterbrett lag das aufgeschlagene Gesangbuch. Die Mutter deckte gerade den Mittagstisch; ihr vom Herdfeuer gerötetes Gesicht strahlte noch mehr, als der Sohn hereintrat. „Na, da bist Du ja, mein Jung', wir dachten schon, sie würden Dich bei Geheimrats wieder dabehalten, und wir Alten würden allein bleiben am ersten Feiertag. Nun bin ich so glücklich, daß Du mit uns ißt und ich doch nicht ganz umsonst Dein Leibgericht gekocht habe." Es überkam den Sohn wie leise Rührung, er legte liebevoll seinen Arm um die kleine, runzelige Gestalt. „Nein, liebste Eltern, ich bleibe jetzt alle Tage bei Euch, so lange mein Aufenthalt hier dauert, und wir wollen recht gemütlich das Fest mit einander feiern. Ihr wißt ja, ich habe Ostern immer so besonders gern gehabt. Es bringt nach langem Wintertraum ein endliches Er wachen, und ist auch anfangs noch alles kahl und öde in uns und um uns her, — wir wissen, der Sommer wird doch wieder kommen und Jedem sein Teil Sonnenschein und Blüten schenken."