Volltext Seite (XML)
zu Die Rettung öer Nachbarin. Ein heiteres Begebnis von Peter Michel. (Nachdruck verboten.) Nun war es mit den Erwartungen von Herminchen Lieblich doch nichts geworden. Ihr Schwarm »nd Jugendgcspiele, der Schneidermeister Nadelgrob, hatte alle ihre zarten und weniger zarten Winke nicht beachtet, mit denen sie dem nun 51jährigen, aber immerhin recht stattlichen Meister ibre Bereitwilligkeit, seine Frau zu werden, unzählige Male angedeutet hatte. Aber dieser Tor hatte darauf nicht nur nicht reagiert, sondern sogar die Keckheit besessen, eine andere, seinem Alter ent sprechende Fran zu ehelichen. Und trotzdem Herminchen jeden, der es hören wollte, versicherte, daß diese Ehe nie mals glücklich werden könne, herrschte, wie man allgemein anerkannte, Harmonie und Fröhlichkeit im Schneider hause. Der Meister Radelgrob besaß ein nettes Haus, dazu hatte ihm sein Weibchen einen Sparpfennig in die Ehe gebracht und eine wunderschöne, braungcschcckte Ziege, von deren Perstand und Anhänglichkeit man die wunder lichsten Dinge erzählte. Die beiden Leutchen mochten vier Wochen verheiratet sein, da verbreitete sich das Gerücht, daß die Schwester der jungen Frau schwer krank daniederliege. Und dann hörte man, daß Fran Radelgrob zur Pflege zu ihr gereist sei. Und dann sah man, daß der Meister, allein gelassen, allmählich wieder sein verschlossenes Wesen annahm. Er saß auf seinem ^chncidertisch und nähte wie wild drauf los, aber er pfiff und sang nicht mehr dazu wie im An fang seiner Ehe. Die Nachbarn lachten und neckten ihn, daß er sich die Sehnsucht nach seiner jungen Frau allzusehr merken lasse. Darauf zog er denn ein süßsaures Gesicht und erwiderte: »Jawohl, ich sehne mich auch!" Die Tage verflossen, die Frau Meisterin kam nicht heim und der Meister erzählte, daß sich die Krankheit in die Länge ziehe. Herminchen Lieblich aber erzählte etwas ganz anderes, nämlich, daß Frau Radelgrob über haupt nicht abgcreist sei. Sie sei vielmehr daheim und werde von ihrem Ehemann verborgen gehalten. „Was? was?" wurde gefragt. Ja, die Meisterin sei daheim. Wer sie sehen wolle, brauche nur morgens beim Zwielicht oder gegen Abend im Dämmerschein in Herminchens Wohnung zu kommen. Dann schlüpfe Frau Nadcigroü über den Hof, um die Ziege zu melken. Zur Dämmerzeit stellten sich auch ein paar Frauen ein und berichteten nachher ihren Männern, daß sie die Nadelgrob gesehen hätten, und nach und nach wanderte das ganze weibliche Stadtviertel zu Herminchen hinauf. Alle möglichen Gerüchte singen an, nmzulaufcn, von einem langsamen Giftmord und dergleichen. Fragte man den Meister nach seiner Frau, so ant wortete er verdrossen, cs sei noch gar nicht abzusehcn, wann sein Lieschen heimkommcn werde. Endlich war die Sache so weit gediehen, daß sich die Männer ins Mittel legten. Ein Tuchwarcuhändler, bei dem Nadclgrob früher gekauft hatte, als er noch gute Tuche führte, und der Schneidermeister Lemke von der Ecke, dessen gefährlichster Konkurrent der Meister Nadel grob war, beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen und stellten sich eines Nachmittags bei Herminchen ein. Herminchen bewohnte das Giebelstübchen im Nachbar grundstück und konnte von ihren Fenstern aus beinahe Nadelgrobs ganzen Hof übersehen. Es war zu Beginn des Monats März, wo die Tage noch nicht allzulang sind. Die Männer lagen schon eine ganze Weile auf der Lauer, als sich im Schneidcrhause ein frenetisches Gebell erhob. Nadelgrobs Teckel jubelte in allen Tönen, wie er es nach Herminchens Angabe immer tat, wenn die Frau zum Vorschein kam. Und es verging auch kaum eine Minute, so eilte die Nadclgrob über den Hof und ver schwand im Zicgenstall. Die Männer hatten sic ganz genau gesehen — den großblumigen Rock, den Lieschen bei der Arbeit trug, die bunte Jacke und dann das rot gemusterte Tuch um den Kopf, das sie sehr weit vorzu binden Pflegte, so daß es einen spitzen Giebel bildete. Schauerlich war nur eines — sie trug auch ein breites wieder ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Die Macht der Töne. Wer kann des Sängers Zauber lösen, Wer seinen Tönen widersteh'n? Wie mit dem Stab des Götterboten Beherrscht er das bewegte Herz; Er taucht es in das Reich der Toten, Er hebt es staunend himmelwärts Und wiegt es zwischen Ernst und Spiels Auf schwanker Leiter der Gefühle. Schiller. Tuch um den Mund gebunden. Wahrscheinlich sei sie darunter geknebelt, sagte der Tuchhändler. Nadelgrob habe ihr jedenfalls einen ordentlichen Kloß in den Mund gesteckt, damit sie sich mit niemandem verständigen könne. Nun nahmen die beiden Männer handfeste Knüttel und zogen unter Herminchens Vortritt los, denn die war ein tapferes Blut uns wollte ihr Teil Gefahr auf ihre Schultern nehmen. Sie schlüpften durch die nachbarliche Hoftür und kamen unbemerkt in den Ziegcnstall, wo Lieschen neben der Braunscheckigcn hockte, den Kopf zärtlich in deren Weiche gedrückt. Die Ziege aber meckerte leise und schnupperte hin und wieder nach der Melkerin hin. Und das sah unaussprechlich rührend aus; es sah aus, als wolle sie ihr Trost zuschnuppern. Herminchen räusperte sich leise, legte vorsichtig ihre Hand auf die bunte Jacke und flüsterte: „Ich bin es, Lieschen, erschrecke dich nicht! Schulze ist auch noch da und der Tuchhändlcr von der Ecke. Du bist in treuer Freunde Hut, Lieschen schluchzte sie. Und weiter kam sie nicht. Lieschen hatte zuerst unruhig ein wenig gewackelt und im schnellsten Tempo weiter gemolken. Sodann hatte sic plötzlich ihre Faust nach dem Hinterhaupt herum, gestreckt und das Tuch aufgeknotet, das über ihren Mund gebunden war. Jetzt kehrte sie'ihr Gesicht herum und das sah grauenhaft unter dem rot gemusterten Tuch her vor: denn es war bis unter die Augen mit einem dicken fuchsigen Bart bewachsen. Zugleich richtete sie sich zu voller Größe empor und schrie: „Seid ihr denn aber in drei Deubels Namen alle samt verrückt geworden?!" Und nun hörten die Ver schworenen, die laut kreischend zurückgeprallt waren, an der wilden Stimme, daß es Meister Nadelgrob selbst war, der in Lieschens Kleidung steckte, weil sich die Ziege nur von der Meisterin melken ließ. Der Tumult, der dadurch entstand, daß die Ver schworenen zum Ausgang drängten, den ihnen der Meister Nadelgrob versperrte, und daß sich immer einer dem anderen die Ehre des Vortritts zuzuschieben suchte, war so groß, daß die Ziege sich losriß und auf die fremden Menschen eindrang, die mit Gewalt die Flucht erzwangen. Aber mit nachschleifendem Strick setzte die Braun scheckige hinterher und schnitt ihnen den Weg zur Hoftür ab. Und dann fing eine Jagd um die Pumpe an, die immerhin ein wenig Deckung gewährte. Als der Hof von den Eindringlingen gesäubert war, trug die Ziege auf ihrem Gehörn verschiedene Kleidungs- fctzcn, die ehemals den Gewändern der drei Verschwore nen angehört hatten. Und sie schritt nun mit kriegerisch erhobenem Haupte herzu und musterte die Gestalt im großblumigen Nock mit der bunten Jacke und dem rot gemusterten Giebeltuch und dem Tuch, das wieder vor den Mund gebunden war. Die Gestalt aber winkte ibr sacht mit ihrem Zeige finger und warf der Braunscheckigen schmelzende Blicke zu. Und als diese eine Weile gezögert und geschnuppert hatte, ließ sie sich ruhig wieder an die Krippe binden. Während sie dann kaute und wieder kaute, tauchte ein Bild vor ihrer Seele auf — wie sie den Meister Nadel grob gelehrt hatte, daß sie sich von keinem anderen als von ihrer Herrin melken lasse. Sie war gesprungen und hatte ausgefeuert und ihre Hörner gebraucht, daß der Meister das Wiederkommen vergessen hatte. Daher eben hatte der Meister zu der List der Verkleidung gegriffen. Herminchen Lieblich aber hatte sich geschworen, nie