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Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt und Anzeiger : 11.06.1927
- Erscheinungsdatum
- 1927-06-11
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1841112631-192706112
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1841112631-19270611
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1841112631-19270611
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Zeitung
Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1927
-
Monat
1927-06
- Tag 1927-06-11
-
Monat
1927-06
-
Jahr
1927
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Nr. 134 HohmsLin-GnHakr Tageblall unöLnseiger Sonnabend, den 11. Juni 1927 2. Dresdner Vlauderei 8» die festlose Zeit — Die neue Iahresschau — km Sarge v. Or. Költzschs — Ein Richard- Wagner-Eedenkstein in Freital — Die Drude- Eiche — Reisepläne — Eine intim« Modenschau (Nachdruck vrrbotc») Pfingsten, das liebliche Fest, wie der Dichter sagt, war gekommen und alles freute sich wieder einmal auf ein paar schöne Tage. In großen «nd kleinen Gastwirtschaften hatte man sich auf einen Fremdeneinfall eingerichtet, diverse Schweine und Hühner muhten ihr kostbares Leben hergeben, um vom Raubtier Mensch ver speist zu werden und einige Tage vorher waren gewichtige Bierfässer in die Keller hinabgerollt, damit die lieben Gäste nicht verdursteten. Trotz düster bewölkten Himmels ergoh sich ein nach Tausenden zählender Ausflüglerstrom in die nahe Sächsische Schweiz. Schon der Gedanke einmal gleich zwei voV' Tage fern der Straßen quetschender Enge mit lieblichen Autobeigaben entfliehen zu können, hatte etwas Beglückendes in sich und erzeugte frohe Gesichter. Aber der Wettergott machte eine böse Miene zum guten Spiele und weichte zuweilen die Wandersleute gründlich ein. Im vorigen Jahre war es genau jo und der Plauderer denkt noch mit wenig Freude an ein herrlich gelegenes Berggasthaus, in dem sich Pfingstfrischler und -Ausflügler zu einem zwangsweisen Dauerskat niedergelassen hatten. Die kirchliche Festzeit ist mit Pfingsten wie der einmal beendet und es folgen nun die vielen Sonntage nach Trinitatis, zwischen denen es, ab gesehen vom Berfassungstag im August, keine gesetzlich gebotene Unterbrechung gibt. Da heißt's also hübsch regelmäßig seinem Tagewerk nachgehen und von Mittvoch ab darf man sich schon auf den Sonnabend mit dem zuweilen früheren Arbeitsschluß freuen. Für den Groß städter und insbesondere den Dresdner, bedeutet aber die festlose Zeit keineswegs einen Verzicht auf Abwechslung und mancherlei Freuden. Will er innerhalb der Mauern seiner lieben Elbstadt bleiben, daun steht ihm jederzeit, und nicht min der den hierher kommenden Fremden, ein reiches Unterhaltungsprogramm zur Verfügung. Einer der Hauptanziehungspunkte ist wieder die vor kurzem eröffnete Jahresschau Deutscher Arbeit, die diesmal das Papier, seine Entstehung und Verwertung zum Gegenstand hat. Wer die prachtvolle Jubiläums-Gartenbau-Ausstellung im vergan genen Jahre besuchte und nun wieder das Aus- stellungsgelände betritt, kennt sich hier gar nicht mehr aus. Es ist eine vollkommene Umwand lung in der Verwendung des Areals eingctreten, viele neue große Hallen sind hinzugekommen und das unvermeidliche Vergnügungseck erwei tert und neu gestaltet, hat seinen Platz jenseits des Botanischen Gartens erhalten. Aber ganz abgesehen von ihm, die Ausstellung als solche ist eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges, eine hervorragende Kulturtat, und birgt ein Anschauungsmaterial, das eigentlich jedermann wenigstens einmal gesehen haben muß. Und weil diese Ausstellung so trefflich zeigt, was deutscher Geist und deutsche Tatkraft hervorzubringen vermögen, deshalb sei gern für sie geworben. Ueber Einzelheiten mag gelegentlich noch ekwas bemerkt werden. Das Pfingstläuten unserer altehrwürdigen Kreuzkirche hatte diesmal einen recht ernsten Beiklang. Wenige Tage vor dem Feste war nach nur kurzem Kranksein der weit über die Grenzen Sachsens hinaus bekannte erste Geistliche der Landeshauptstadt, Oberkirchenrat, Stadtsuper intendent v. Or. Franz Költzsch, im 66. Jahre seines reichgesegneten Lebens aus dieser Welt ge schieden. Was die evangelisch-lutherische Lan deskirche in diesem Mann verloren hat, ist mit wenigen Worten gar nicht zu sagen. Er war einer ihrer besten Vorkämpfer, erfüllt von hohem Idealismus und ausgestattet mit einer hin reißenden Beredsamkeit. Diese war auch die Ur sache, daß sich die riesige Kreuzkirche jedes Mal bis auf den letzten Platz füllte, wenn der Heim gegangene als Kanzelredner angesagt war. Költzsch reden zu hören, war ein astethischer Genuß. In bilderreicher flüssiger Sprache er läuterte er seine Texte, wozu ihm ein pracht volles modulationsfähiges Organ zur Verfügung stand. Und dann war es nicht zuletzt seine mar kante Persönlichkeit, die alle in seinen Bann zwang; fast einem Luther gleichend, stand er wie oft aus der Kreuzkanzel und man beneidete die Gemeinde um solch einen Oberhirten. Seine Beliebtheit und Volkstümlichkeit war fast bei spiellos. Das hatte sich erst vor wenigen Wochen wieder gezeigt, als er das 40jährige Jubiläum seiner seelsorgerischen Tätigkeit unter sinnigsten Ehrungen begehen konnte. An die Stelle der Mitfreude von damals waren nun an Altar und Kanzel der Kreuzkirche die Zeichen der Trauer getreten. Am Pfingstsonnabend, an dem sonst nach altem Brauch der weltberühmte Kreuzchor seine jubelnden Frühlingsweisen über den Kirch platz schallen läßt, hat er O. Or. Költzsch den Scheidegruß gesungen. Wiederuin füllten und diesmal zu ungewohnter Stunde Tausende das Gotteshaus bis in die höchsten Emporen und er hoben sich ehrfurchtsvoll, als der schlichte Sarg hereingetragcn und auf dem Altarplatze nieder gesetzt wurde. Aus tiefstem Herzen kommende Worte der Trauer sind hier gesprochen worden und manche Träne ist um diesen trefflichen Mann geflossen. Ein langer Trauerzug bewegte sich dann durch die innere Stadt nach dem Trmitatisfriedhof, wo man den Entschlafenen zur letzten Ruhe bettete. Trotz regnerischen Wetters harrten in den Straßen Tausende stundenlang geduldig aus, um den Kondukt vorüberziehen zu sehen. Zu kostbaren Palmen- und Blumengewinden gesellten sich auch viele bescheidene Sträußchen, die von schlichten Leu ten, denen der Verewigte viel Trost im Leid ge geben hatte, nun an seiner Gruft niedergelegt wurden. Rasch tritt der Tod den Menschen an. — Wieder einmal hatte sich dieses Dichterwort erfüllt. Hatte man hier einen eben erst aus dem Leben Geschiedenen verdiente Ehre erwiesen, so verzeichnet der Chronist nun ein neues erfreu liches Beispiel dafür, wie der Deutsche das Ge denken seiner größten Toten wachzuhalten weiß. Da ist draußen in der ehemaligen Landgemeinde Potschappel, heute zum aufbliihenden Stadtge- meindewefen Freital gehörig, der alte Gast hof ,,Zum Steiger". Sein Name erinnert an die in dieser Gegend befindlichen Kohlenberg werke. Früher — es ist schon lange her, etwa in den vierziger Jahren — bevorzugten die Künst ler des einstigen Dresdner Hoftheaters diesen Gasthof als Ausflugsziel. Am 9. Mai des stiirmereichen Jahres 1849 kam ein junger Mann plötzlich in die Küche jenes Gasthauses. Er be fand sich auf der Flucht, denn in Dresden war ihm der Boden zu beiß geworden und ihm drohte als Teilnehmer oes Aufstandes langjähr,ge Zuchthausstrafe. Die wackere Wirtin, eine Witwe Halm, versah den Flüchtling, der, wie viele Künstler, kein Geld gerade bei sich hatte, mit dem Nötigsten und ihr Sohn, ein frischer 13jähriger Junge gab ihm auf einsamen Wald wegen das Geleit bis Freiberg. Von dort ging dann die abenteuerliche Reise weiter. Der Flüchtling war aber kein Geringerer als der nachmals hochberühmte Komponist Richard Wagner, damals Kapellmeister der Dres dener Hofoper. Jetzt hat der Schwiegersohn der gegenwärtigen Grundstücksinhaberin im Gar ten des Gasthofes ein würdiges Denkmal er richtet. Ein Steinbruchsbesitzer stiftete dazu einen Symitblock, der das Vronzebild Wagners zeigt. Bei einem Abendkonzert, das ausschließ lich Kompositionen des Meisters brachte, ist das Denkmal enthüllt worden, Vereine legten Kränze nieder und während der Pilgerchor aus „Tannhäuser" erklang, zogen vom nahen Berg hang Fackelträger herab und huldigten den Manen des genialen Meisters. Hier ist Richard Wagners Mahnung „Ehret eure deutschen Mei- ster!"einmal in idealster Form in die Tat um gesetzt worden. Noch schöner ists ja, der Lebenden ehrend zu gedenken. In der Regel erkennt man den Wert eines Menschen erst nach seinem Tode und man chem Großen aus dem Reiche der Kunst flicht auch die Nachwelt keine Kränze. Vor allem gilt dies von den Mimen und Journalisten, also den Zeitungsschreibern. Aber es gibt erfreulicher--- weise auch rühmliche Ausnahmen. Da hat man jetzt mit einer hübsch aufgezogenen Feierlichkeit eine „Drude-Elche" gepflanzt. Wem gilt dieser Baum? Einem Gelehrten von hohem Ruf: dem Geheimen Nat Professor Dr. Oskar Drude in Dresden, der am 5. Juni seinen 75. Geburtstag feiern konnte. Er ist der Schöpfer des Dresdner Botanischen Gartens, den einmal anzuschauen, ich jedem Fremdling dringlichst empfehlen möchte. Auf dem Gebiete der Pflan zenforschung ist Drude eine in wissenschaftlichen Kreisen rühmlichst bekannte Autorität. Im Jahre 1889 ging er an die Neugestaltung unseres Staatlichen Botanischen Gartens und richtete ihn derart ein, daß die Anlage auch dem Laien Genüsse bietet. Nun hat man das greise, aber noch rüstige Geburtstagskind, das mit dem Ge lehrten einen gütigen, liebenswürdigen Men schen vereint, dadurch geehrt, daß inmitten seiner Neuschöpfung eine „Druoe-Eiche" gepflanzt wurde, deren Wipfelrauschen einst noch spätere Geschlechter an den verdienten Mann erinnern wird. In unserer materiell gerichteten Zeit ist es erfreulich, von einer solch sinnigen Ehrung Kunde geben zu können. Der Sommer naht — wenigstens dem Kalen der nach — und man geht an die Weiterentwick lung bereits gemachter Reisepläne. Ihre Ur anfänge lassen sich meist auf den letztjährigen Herbst zurückführen. Das Ziel aller Projekte be stimmt der Geldbeutel, resp. die Brieftasche de» Hausherrn. Prospekte, Reiseführer und Zei tungsartikel, bei deren Sicherung man zum Aer« ger der lieben Gattin den Roman des Blatte» zerschnitten hatte, werden immer wieder durch studiert, dann wird gerechnet und noch einmal ge rechnet, Sonntagsausflüge müssen „verbilligt" werden, und schließlich langts doch nicht. Für eine Fahrt an die See reichte nicht, so viel steht schon fest, aber für ein Mittelgebirge und billi gen Aufenthalt in einem entlegenen Teil wird'» schon genügen. Welche Freude, wenn nach ban gen Tagen von irgendwoher, unbeholfen auf ein« Postkarte geschrieben, die Antwort eintrifft: Di« Herrschaften können kämmen! Die Herrschaften! Ja, dann ist man doch auch mal was Besseres! Und Mutter braucht ein paar wonnenreiche Wo chen nicht den Kloßlöffel zu schwingen. Soll da» eine Seligkeit werden! Aber schon türmt sich ein« dunkle Wolke am Zukunftshimmcl auf. Mutter und „Fräulein Tochter" haben (selbstverständ lich!) nichts anzuziehen. Bei Vatern ist das nicht so schlimm. Dessen beide Anzüge werden nochmal» aufgebügelt und wenn er von beiden die einzel nen Stücke wechselweise anzieht, sieht er jeden Tag anders aus. Neue Entbehrungen winken dir, lieber Leidensgenosse, aber schließlich steigt doch der Tag einmal herauf, an dem du, wenn du da» Zeug dazu hast, mit deinem Arbeitsgewande auch den Alltagsmenschen ausziehst und nun, festlich , gestimmt, in die Ferne schweifst. Vorläufig wer den aber noch einige Pläne geschmiedet. Vielleicht reichts doch noch für eine Anzahl Kilometer wei ter. Auf jeden Fall: recht viel Vergnügen! Nun soll es in diesen schlechten Zeiten auch noch Leute geben, die es nicht gar zu nötig ha- ben, die Reisemärker erst drei mal umzudrehen, ehe sie sie ausgeben. Das sind — äußerlich we- nigstens — jene „besseren Leute", die „mit gro- ßen Rohrplattenkoffern" reisen und denen men< schenkundige Hotelportiers niemals ein Zimmer im zweiten Stock oder gat „rückwärts" anbieten Hat man sich für die See entschieden, so spielt die Badvbekleidung eine sehr wichtige Rolle. Für di« Herren Ler Schöpfung ist es nicht mit einer einfachen Schwimmhose abgetan, für sie kann im Familienbad nur ein solider Bade anzug in Frage kommen, aber nun erst die holde Weiblichkeit! Mann, tu Geld in deinen Beutel! Da hatte sich ein Dresdener Konfektionshaus ein« ganz eigenartige Modenschau ausgesonnen, zu der nur Vertreter des schönen Geschlechts Zutritt erlangten. Da wurden die neuesten Badekostüm« für Wasser und Strand vorgeführt und wenn man sich all das an „lebenden Modellen" Ge zeigt« zum Muster nimmt, dann wird es an d«r Nord- und Ostsee manch fesch ungezogene Bade- nixe zu sehen geben. Sollten die Moneten lan gen, so findet sich dort auch ein Emil. Vari letzte Gesicht Skizze von Alfred Manns In der ostfriesischen Küstengegcnd liegt das Dorf Warftdamm. Dort hatte ich zur Vollen dung eines Romans für einige Wochen beim Pastor Wohnung genommen. Abends saß ich mit dem freundlichen alten Herrn zusammen im anregenden Gespräch über die Geschichte dieser Gegend. Ich erfuhr, daß die Kirchenbücher den großen Zerstörer, den Drei ßigjährigen Krieg, überstanden hatten, da hier her kein reisig Volk gekommen war, es sei denn ein nicht allzu wüster Streiftrupp des hessischen Landgrafen. Um diese Zeit hatte in der Gemeinde ein Mann gelebt, über den die Kirchenbücher in dem «bgehaaten Stil alter Chroniken sehr, sehr selt same Dinge berichten. Der Hibbo Fimmcn war «in Mensch, der mehr sah, mehr sehen mußte als andere. Viele Uebergänge und Zusammenhänge fehlten in den alten Aufzeichnungen; die ver suchte ich zu ersetzen; freilich mußte hier und da die Phantasie mithelfen. Am Rande des Dorfes stand eine saubere, nicht allzu kleine Hütte, eben just ausreichend für «inen einsamen Mann wie Hibbo Fimmen. Er «ar zu der Zeit, als sich die nachstehenden Er eignisse zutrugen, ein Mann von achtzig Jahren. Einst ein reicher Bauernsohn, hatte er in seinem Leben nur bei anderen die Armut kennen ge lernt, die er zu lindern strebte, soweit es ihm möglich war. Alle Dorfleute liebten den Alten, und sie gingen zu ihm, wenn sie Rat oder Hilfe brauchten. Selten machte jemand den Weg zu Hibbo Fimmen, ohne leichteren Herzen» wieder wegzugehen. Doch nur in Ausnahmefällen betrat der Greis die Häuser seiner Dorfgenossen, und tat er es dennoch, jo erfaßte die ganze Familie ein namenloses Entsetzen, denn Hibbo Fimmen brachte den Tod. Er besaß die in Nordfricsland hier und da vorkommende Gabe des zweiten Gesichts, und ein innerer Zwang trieb ihn hinaus zum Hause der bedrohten Familie. Er sprach dann nichts von diesen furchtbaren Dingen; er blieb auch nicht lange, unterhielt sich vom Wetter, von der Ernte und ging wieder. Wenn er draußen war, fielen sich die der Zärtlichkeit ungewohnten Familienmitglieder in die Arme, sie sahen sich mit großen Augen an, in denen das Grauen lag: Gilt es dir oder gilt es mir? — Die Ruhe kehrte erst zurück, wenn das Los gefallen und der Sarg aus dem Hause ge tragen war. Aber die Friesen sind gerecht, sie trugen es Hibbo Fimmen nicht nach; sie wußten, daß er nie einen Menschen mit Wißen und Willen ge quält hatte. Er konnte nicht anders, er mußte kommen. An einem warmen Sommerak-ind saß der Hibbo in einem Altväter-Lehnstuhle vor dem er loschenen Feuer seines offenen Herdes. Seine stets ernsten Züge, auf denen seit einem halben Jahrhundert niemand ein Lächeln gesehen hatte, waren heute verzerrt und zeigten die fahle Blässe, wie sie ein übermenschlich grauenhaftes Erleben zu hinterlaßen pflegt. Still saß er und starrte mit weit aufge rißenen Augen ins Leere. Er sah dort nichts, aber vor einer Stunde hatte er etwas gesehen. Nun erhob er sich schwerfällig. Als er stand, sank er plötzlich in wahnsinniger Verzweiflung vor dem Stuhle in die Knie, legte den Kopf darauf und schrie: „Allbarmherziger, erspare mir dieses! Ich muß ja hin, wenn du mich nicht durch den Tod von diesem Gange be freist". Hibbo lag noch auf den Knien, als jemand von draußen roh gegen die Scheiben klopfte. Gleich darauf wurde die Tür aufgerißen, und ein verwegener hessischer Feldkornett stand auf der Schwelle. Er fuchtelte mit der Reitpeitsche wild herum und schlug nach dem alten Kater, der einen Buckel machte und das Fell sträubte, traf ihn aber nicht. „Achtung vor dem Landgrafen, du Vieh, und auch dir, Alter, möchte ich das raten!" Langsam erhob sich Hibbo. Er sah den Ein dringling an, und sein Gesicht verzog sich so grauenhaft, daß der wilde Kriegsmann einen Schritt zurückwich. Dann raffte er sich zusammen, und indem er den Blick des Greises mied, herrschte er ihn an: „Dein Ruhm ist bis in unser fernes Lager ge drungen. Beweise jetzt deine Kunst! Du wirst mir gleich meine Zukunft prophezeien! Und wenn du das nicht vermagst, dann bist du ein Hundsfott, und bei allen Teufeln, dein Alter soll dich nicht vor der Rute schützen!" Hibbo Fimmen reckte sich zu seiner ganzen gewaltigen Friesenhöhe empor, und sein Blick, der etwas Seherhaftes bekam, bewirkte ein aber maliges Zurückweichen des Kornetts. „Bei mir gibt es keine Kunst und keine Prophezeiungen. Bei mir gibt es weit mehr: die Gewißheit. Willst du die hören?" „Zum Henker, ich verlange von dir, daß du mir sagst, was du glaubst!" Da trat Hibbo ganz nahe auf den Kriegs mann zu. „Du wilder du Menschlein, dir sitzt der Tod bereits im Nacken. Du wirst deine Heimat, ja dein Lager nicht wiedersehen, denn nur wenige Stunden hast du noch zu leben." Der Kornett stieß ein grimmiges Lachen aus. Aber jetzt gewahrte er etwas ganz Eigen artiges: Der Blick des alten Friesen zeigte weder Abwehr noch Zorn, nur Erbarmen. Da fuhr dem wüsten Krieger ein eisiger Schauder durch das Gebein. Wortlos wandte er sich ab, ging hinaus, bestieg sein Roß und trabte davon. Weit kam er nicht, denn unterwegs fiel er vom Pferde, und als ihn seine Reiter am Boden liegen sahen, da ließen sie ihren Kornett, wo er war, wühlien die Sporen in die Weichen der Tiere und hetzten dahin, als ob der Teufel ihnen auf den Hacken säße. Das Skelett des Kornetts fand man viel später. Nachdem die Reiter fort waren, zog Hibbo Fimmen sein bestes Zeug an. Ganz, ganz lang sam war sein Schritt, als er sein Haus verließ and gleich in das des Nachbarn trat. „Ich wollte euch nur guten Tag sagen. Es ist warm heute, und wenn es so bleibt, gibt's sine gute Heuernte. Besucht mich mal, ich habe cs heut eilig, muß noch Besuche macken bei Brinkamas, Aksnas, Arens, ich weiß nicht, wo ich nicht hin müßte. Auf Wiedersehen. Damit ging der Alte und trat ins Neben haus, und dann in das nächste, übernächste und folgende Haus. Immer schleppender, mühsamer wurde sein Gang, immer glanzloser blickten seine Augen. Schließlich wankte er nur mit halbg«. schlossenen Lidern weiter, und kaum ein Haus überging er. Zuletzt sagte er nur noch: „Ich komme, um euch gute Nacht zu wünschen/' Waren die ersten, bei denen Hibbo erschien, von Entsetzen geschüttelt, so nahmen die Nach barn, bei denen er dann eintrat, die Dinge um einiges ruhiger. Der Gang des Greises sprach sich herum, und je weiter er kam, desto gelaßener wurden die Besuchten. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Ge rücht: Hibbo Fimmen kann nicht mehr voraus sagen, er ist altersschwach geworden. Gelobt sei der Schöpfer, daß wir nicht an dem Fluche, der auf ihm ruht, teilzunehmen brauchen. Geht er zu allen, so sieht er nichts mehr, sondern er ist ein Mensch wie wir und nur noch ein schwacher Greis. Ein Tagelöhner, dem Hibbo geholfen hatte, begleitete und stützte den immer hinfälliger Werdenden bis zum letzten Hause, wo ein jung verheiratetes Paar wohnte. Das Haus sah sich der Alte prüfend an. Dann schüttelte er den Kopf und sagte:„Nein, hier hinein will ich nicht. Bringe mich jetzt nach Hause, wenn du willst." Schwer und immer schwerer stützte er sich auf den Arm des Tagelöhners, der ihn zuletzt Uber die Schwelle seiner Hütte trug, wo er ihn in den Lehnstuhl setzte. Da schlug Hibbo Fimmen noch einmal die Augen auf. „In deinem Hause bin ich nicht ge wesen, Bernt Visser, und wenn ich dir gute Nacht sage, dann hat das nichts zu bedeuten, du bist hier ja bei mir. Also gute Nacht, Bernt Visser," iliisterte er. Dann war er tot. Die Bauern von Warftdamm, die Hibbo trotz allem liebten, atmeten erleichert auf, denn ganz offensichtlich hatte er im Ereisenwahn zuletzt die unselige Sehergabe verloren. Drei Tage später kam die Pest ins Dorf. Kaum ein Haus wurde von ihr verschont; nur das des jung verheirateten Paares und Bernt Vissers.
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