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Adorler Wochenblatt. Mittheilungen über örtliche und vaterländische Angelegenheiten. Fünfzehnter Jahrgang. Prei« für den Jahrgang bei Bestellung von der Post: 1 Thaler, bei Bestellung des Blatte« durch BotengelegrnheNr rr Ngr. » Pf. 18. Mittwoch, 1. Mai 1850. Sagen aus Vsthland. Jedes Volk, jeder Volksstamm besitzt gleich dem einzelnen Menschen seine abgeschlossene Lebenszeit. Der sociale Verland von Millionen viele Generationen hindurch gibt im Allgemeinen wieder das Bild eines Menschenlebens. Ein Wachsen und Entwickeln der Lebenselemrnte und vielseitigsten Kräfte, eine reife und stolze Blulhenzeit derselben, und ein hinschwindender Beifall, dem endlich der Tod folgt. Häufiger tritt stait des letztem eine Mischung mit andern Völker- stammen ein, welche noch in frisch aufsteigender Le bensphase die müden Reste sinkender Generationen in sied aufnehmen, und beseelt und bereichert von dem geistigen Schatze ihres Alters neue große nationale Individualitäten in dem Völkerleben der Welt gestal ten. Jems vallige Absterben sinken wir bei Nationen und Stammen, welche die Natur durch ihre Ureigen- heil und durch die spröde Ursprünglichkeit ihres We sens zur Sonderung bestimmt zu haben scheint. Sie gleichen dann Menschen, welche in sich selbst zurückge zogen und ihren Erinnerungen hingegeben, isolirt und verlassen durch ein schmerzvoll absterbendes Dasein noch im Leben zum Grabdenkstein ihrer Vergangenheit wer den. Und wie die Poesie aus dem Schmerz ihr in nigstes Leben gewinnt, so ist sie'S auch, welche bei schwindenden Nolkern an die Stelle der Geschichte tritt, von welcher sie als hoffnungslos und alterS. schwach aufgegeben, und die letzten Alhemzüge ihrer Seele, die Sprache ihrer Empfindungen, die Uebcrlie- ferungen ihrer Gedanken und Sagenwelt empfängt und als unsterblicher- Theil des Menschengeistes be wahrt und rettet. Hinen dieser Völkerstämm« zum Beispiel finden wir in dem keltischen Küstenwinkel unter einem bun ten Völkcrgemisch, den früher mächtigen finnischen Stamm der Estheft (Aksti^, Ksch ßstW, welche einst als selbstständiges Volk in der Geschichte auftra ten, bestehen nur noch in den schwachen Ueberresten weniger Hunderltausende, und sind von des Höhe es- ner lebenskräftigen, bildungsfähigen Nation zu der niedrigsten Stufe der Knechtschaft herabgesunken. Eje gehören durch Abstammung und Sprache aufs unzwri- deutigste dem großen finnischen Völkergeschlcchte an, mit dem sie auch durch Religion, Sage und gemein schaftliche Erinnerung an eine frühere große Vergan genheit eng verbunden sind. Die ältesten Ueberliefer- ungen und Sagen nennen die Esthcn als alleinige und unumschränkte Herrscher des Landes, der Cha- racrer ihrer Sagen laßt unS in ihrem Leben behag liche Gemülhlicbkcit und harmlosen Frieden als über wiegend erkennen. Leider ist von der esthnischen Sa genwelt der frühern Jahrhunderte nur ein winziges Theil bekannt geworden, denn vor dem Fremden ver stummt das Lied der Esthen, Mißtrauen und Verach. tung haben sich tief in die Herzen des unterdrücktem Volkes eingeschlichen, und nur da, wo sich der Esthe allein und unbelauscht unter den Seinen weiß, wagt er jene ihm liebe Erinnerungen an die Vergangenheit auszufrischen. Um so interessanter scheint eS uns von dem Wenigen, welches autmerksamcn Forschern zu er- haichen gelungen ist, Einzelnes mirzutbeilen.-) ES genügt, um tief in das sinnige Gemulhsleben einxs Volkes rinzufuhren, waches dem ftgtesgange entge gen geht. Die Schaubühne dieser Sagen ist im Nordostrst des Esthenlandes, qn den Ufesg dss Ernmajöggi, de§ Embach, wo sich heute die Stadl Dorpat erhebt, dem damaligen Paradies des Sjordesss, in welchem Wanste« munne, der Orpheus dfS Pyrdeqß, post dfs Größe dp? Himmels, der Pracht der Erps, Pers, Glstckf unp yss' *) Livland re. von Kurd v. Schl-zer.