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HohensleinEmstthaler Tageblaü «n-LuMK Nr. 94 Sonnabend, den 21. April 1928 1. Beilage Grohe Bezirkssahrt des Sächsisch insbundes Bezirk Glauchau, (1 len Mili — Glauchau, 20. April. Die älteste Eiw Iren 102. Geburtstag feiern. 19. April 1827 in Freiberg Frau Hönig ist am geboren. — Zwenkau, 20. April. In jeder neu er bauten Wohnung sollen künftig hier Trocken aborte mit 50 und Wasserspülanlagen mit 50 bis 400 Mark jährlich versteuert werden. Die Gemeinde will dadurch die erforderlichen Mittel zum Bau einer Kläranlage aufbringen. Ob die Steuer sehr hygienisch wirken wird, bleibe wohnerin unserer Stadt, Frau Christiane Auguste verw.Hönia, vollendete das 101.Lebens jahr, sie kann also ihren 102. Geburtstag feiern. paßt. Es sollte sich daher niemand durch einige warme Tage abhalten lassen, sein Pflanz- vorhaben jetzt im Frühjahr noch auszuführen. Ob die Tage golden kommen,' Oder eisenhart die Pflicht, Ob das Glück dir karg bemessen, Deinen Sonntag kümmert's nicht. Nauher Felsen starre Fessel Birgt des Demants hehre Pracht. So kann auch dein Sonntag leuchten, Wenn dein Herz in Sorgen zagt. Sächsisches Hodenstein-Ernfttbal, 21. April 1928 FrühltogSfröfte Nachdem der Winter recht lange seine Herr schaft behauptet hatte, zog diesmal ganz plötz lich der Frühling ein und bescherte uns eine Neihe von sommerartig warmen Tagen, so daß sich die Natur schnell entfaltete und man fast „das Gras wachsen" hören konnte. Nunmehr zeigt der wetterwendische April sein wahres Gesicht, und ein scharfer Ostwind bringt namentlich in der Nacht unangenehme Kühle heran. Seufzend müssen die Heizutensilien, die schon in den hintersten Winkel des Hauses ver staut waren, wieder hervorgesucht und in Ge brauch genommen werden, die leichte Frühjahrs kleidung wieder mit den warmen Wintersachen vertauscht werden. Auf der Strasse sieht man wieder hochgeschlagene Kragen und tief in Pelz mäntel gesteckte Nasenspitzen. Und besonders die zarten Kinder Floras mit ihrer Blütenpracht scheinen zu früh erwacht zu sein. Zu früh!... Der Winter, den wir längst in der Ferne glaubten, beginnt plötzlich sein Abschiedsfest zu feiern. Ein kalter frostiger Hauch weht durch das Land. Es ist, als ob gleich bösen Geistern die so gefürchteten „drei gestrengen Herren", die sich sonst erst Mitte Mai einstellen, schon einen Vorbesuch machen wollen. Im Garten neigen die zarten Frühlings blumen ihr Haupt, trauern, als ginge es zum Sterben. Betrübt gehen wir durch den Garten und betrachten wehmütig das eisige Schweigen. Verstummt ist der liebliche Vogelgesang in den Baumgipfeln, verrauscht der Kinder fröhliches Spiel auf grüner Flur. Wir sind dem Winter gemeinschaftlichen Essen, Uebernachtungen, Auto rundfahrt und alle Eintrittsgelder bei Besich tigungen bezahlt werden. Alle Trinkgelder sind einbegriffen. Der Fahrpreis für die zirka 800 Tarifkilometer lange Eisenbahnfahrt be trägt 19,60 Rm. Hierzu kommen noch zirka 25 Rm. für die Gutscheine. Eine Ausgabe von Fahrscheinheften ohne Bons kann nicht erfolgen. Alle Getränke (der Frühkaffee wird durch Gut scheine bezahlt) sind besonders zu zahlen. Der Teilnehmerpreis für eine Person für die Fahrt und die aufgezählten Leistungen wird also 45 Nm. betragen. Er iit erst oberflächlich errechnet und kann noch unbedeutenden Schwankungen unterliegen, da zwar der Fahrpreis feststeht, aber alle anderen Preise durch Verhandlungen erst genau festzustellen sind. Die Vereine sind gebeten worden, spätestens bis zum 28. Apnl dem Bezirksvorsteher, Studienrat Kaiser, Glau chau, Wasserstrasse 9, l., zu melden, n) wieviel Ehepaare, b) wieviel ausserdem einzelne Kame raden an der Berirksfahrt teilnehmen und c) wieviel Fahrscheinhefte insgesamt also der Verein benötigt. Der Meldetermin muss unbe dingt eingehalten werden, da die Reichsbahn die Teilnehmerzahl bis 30. April wissen will, um weiteres veranlassen zu können. —* Reinigen und Nack'vflanzen der Stau- d-n- und Nosenbcete. Im April findet gewöhn lich die grosse Eeneralrcinigung im Garten statt. Neue Beete und Pflanzungen werden angelegt, die alten Beete gereinigt und aufgelockert. Dies ist auch vor allem für die Stauden- und Nosenguartiere nötig. Der angebrachte Winter- i gram, dass er unsere Lieblinge bedroht, wir grollen ihm, weil er unsere Hoffnung zerstört. Nicht nur am Aprikosen- und Pfirsichbaum, sondern auch an den Kirschen-, Aepfel- und Birnbäumen sind teilweise die leuchtenden Blü ten erfroren, und kein Sonnenstrahl wird sie zu neuem Leben erwecken, keine Frucht uns mit ihrem süssen Wohlgeschmack erfreuen. Hoffen wir jedoch, dass unsere Befürchtungen übertrieben sind und der Winter als un gebetener East in dieser Blütenzeit bald wieder seinen Abschied nimmt. Wussten es die Bäume und Blumen in den wärmeren deutschen Gauen, dass ein böser Feind im Anzuge war? Sie haben sich beeilt, frühzeitig ihre Knospen zu entfalten, zu verblühen und bereits Frucht anzusetzen. In den norddeutschen Gefilden war und ist es teilweise jedoch noch nicht so weit, dass der Nachwinter mit seinem eisigen Hauche den zarten Kindern der buntblühenden Flora be sonderen Schaden zufllgen kann. Sem Sonntag Reiht das Wechselspiel der Tage Ring an Ring im Wochenlauf, Drückt dem letzten Glied der Kette Sonntag still sein Siegel auf. berg und Umgebung geplant, z. T. durch Auto rundfahrt. Am Sonntag morgen fährt der Sonderzug weiter nach Würzburg. Nach An kunft Aufsuchen der Quartiere, dann Besichti gung der Stadt und ihrer Sehenswürdigkeiten. Am Montag früh Besichtigung der Residenz, dann Abfahrt nach Kulmbach. Dann Rückfahrt nach Glauchau, hier Ankunft Montag am spä ten Abend. Für diesen Sonderzug werden von der Reichsbahn Fahrscheinhefte mit beigehef teten Gutscheinen herausgegeben, womit die dahingestellt. Zwickau, 20. April. Der seit dem 13 März vermisste Schulknabe Kurt Rolf Müller ist am Mittwoch nachmittag unter einer Eisenbahn» Überführung tot auigrsunden morden. Er ist allem Anschein nach erfroren und zeigte Spuren starker Verwesung — Limbach, 20. April. Hier konnte der Pri vatmann Reinhard Kühnert mit seiner Gemahlin, In Ober>robna wobuhast, da« seltene Fest der diamantenen Hochze t feiern Tas Jubelpaar beging diesen seinen Ehrentag trotz der 83 Jahre, dir beide zählen, in vollster (Hesundheit im Kreise von 7 Kindern, 15 Enkelkindern und 3 Urenkeln. — Borna, 20. April. Der Wirt von den .Drei Schwänen" ist mit seinem Kranwagen iu- »olge Icharitn Bren senil in« Rutschen gekommen und eine 1', Meter tirie Böschung hinabaemhren. Von den Insassen erlitt Ingenieur Müller au« Leipzig einen Wirbelsäulenbruch und Becken- guetichung, so dass er ins Leipziger Krankenhaus trauSvorticrt werden musste. Der Wirt Müller kam mit einer Aurkugelung dcs rechten Armes davon, ein dritter »sahraait blieb unveilek — Leipzig, 20. April. Hier wurden in der Hcinrichstrasse an der Ecke Täubchenweg zwei Kinder iin Alter von 3 und 5 Jahren in dem Augenblick, als sie die Strasse überqueren woll ten, von einem Eeschüftsauto überfahren. Sie wurden sofort nach dem Kinderkrankenhaus Nur die falschen Freuden meide, Die den Sonntag dir entweih'n. In der Kette deiner Tage Lass den Sonntag Perle sein! Hildegard Gruner tärvereinsbundes Bezirk Glauchau. (Vom 22. bis 25. Juni 1928.) Eine grosse, überaus günstige Fahrt veranstaltet der Bezirk Glauchau des Sächsischen Militäroereinsbundes nach Süd deutschland. Gefahren wird ein Verwaltungs- sonderzug (entweder Einheitswagen oder grosse Wagen 3. Klasse) von Dresden aus, der gegen 22 Uhr am Freitag, dem 22. Juni von Glauchau wegfährt und am frühen Morgen des Sonn abend Nürnberg erreicht. Nach Aufsuchen der Quartiere (keine Massenquartiere) ist dann Be- ichtigung der Sehenswürdigkeiten von Nürn- Kann man letzt noch Odflböume, 3iee« fteäuchee und Rosen pflanzen? Unvermittelt ist einem späten Nachwinter wärmeres Frühlingswetter gefolgt. Der Nasen ist in den letzten Tagen zusehends grün gewor den; viele Bäume und Sträucher strecken ihre Knospen oder blühen bereits. Nun wird es sicher schon zu spät sein, die noch fehlenden Bäume usw. zu pflanzen, wird mancher Gar tenbesitzer denken; er wird die Pflanzung bis zum Herbst zurückstellen wollen, wodurch er ein ganzes Jahr verliert. Diese Auffassung ist un zutreffend. Es ist noch keineswegs zu spät. Bis Anfang Mai ist es möglich, Obstbäume, Zier sträucher, Rosen usw. erfolgreich zu pflanzen; denn der strenge späte Nachwinter hat die jun gen Baumschulbäume in ihrer Lebenstätigkeit zurllckgehalten. Um den starken Anforderungen des Frühjahrsversandes gerecht werden zu können, haben die Baumschulen im Laufe des Winters bei günstigem Wetter vorgearbeitet, die vcrkaufsfähige Ware sorgfältig hcraus- genommen und an schattigen Stellen oder in fi ostfreien Ueberwinterungsräumen eingeschl-r- gen, wo sie beim Versand oder Verkauf sofort greifbar ist. Auch dadurch tritt eine Unter brechung der Lebenstätigkeit ein. Pflanzen aus dem Einschlag treiben später aus und können immer noch gepflanzt werden, wenn ältere Bäume und Sträucher schon längst grün ge worden sind. Ja, manche hartholzigen Ge wächse wachsen nur dann gut, wenn die Knos pen zu treiben anfangen: Nadelhölzer z. V. sollten erst dann gepflanzt werden, wenn sie durchzutreiben beginnen. Die beste Gewähr für gutes An- und Weiterwachsen bietet eine fachgemäss herangezogene Pflanze, die nor allem über ein gutes Wurzelvermögen verfügt und ' durch ihre inneren Eigenschaften in die Gegend ' schütz wird entfernt und hie Pflanzen von allen fauligen oder vergilbten Teilen gereinigt. Zu grosse Stauden können geteilt werden, und ist hier und da noch ein freies Plätzchen, so schaffe inan sich neue Ctaudensorten an, denn keine Pflanzengattung ist bei so verhältnismässig geringen Ansprüchen an Pflege und Boden so dankbar wie die immerwährenden Stauden gewächse. Es gibt solche für alle Plätze im Garten, für sonnige oder schattige, für freie Rabatten, Felsgärten, Trockenmauern usw. in den verschiedenartigsten, herrlichsten Farben spielen. mit einer Blütendauer vom zeitigsten Frühjahr bis zum spätesten Herbst. Auch dis Nosenbeete sind jetzt aufzudecken, die Kronen oder Büsche sind zurückzuschneiden und vor allem ist alles zurückgefrorene oder trockene Holz aus zulichten. Lücken, die durch Erfrieren oder Ein gehen der Pflanzen entstanden sind, müssen bal digst ausgefüllt werden, da die Nachfrage nach Rosen im Frühjahr besonders stark ist! Ma»; Skizze von Harry Wien Der Chef sass da und rührte den Stapel Briefe nicht an, den Sturre, der Lehrling, ihm aus dem Nebenzimmer gebracht. Er sass da, groß, schwer, breitschulterig, graues wildes Haar um den breiten Schädel, und starrte durch das Fenster. Seine Hand lag auf der Schreibtisch platte. Eine sonderbare Hand. Gar keine Hand, wie man sie an diesem massigen Körper erwartete, sondern eine gelöste, fremde Hand mit überraschend schmalen Fingern, die auch in der Tönung der Haut von der purpurnen Voll blütigkeit des Gesichtes abstach. Es sah so aus — selbst Sturre, dem Lehrling, kam der Ge danke —, als wären der Chef und die Hand zweierlei und weder der Mensch noch die Hand wüssten im Grunde, was sie miteinander zu tun hätten. Der Chef starrte noch immer durchs Fenster. Sturre begriff das nicht. Was gab es nur an der Erde zu sehen, die hier grün war, dort braun, hier glatt, dort aufgerissen, mit ein wenig Wiese und Baumwuchs und einem krumm sich dahinschlüngelnden, trübe flimmernden Flüss chen in der Ferne? Hatte Sturre sich nicht ver hört? Er meinte, der Chef habe geseufzt. Das wurde ihm unheimlich. Da der Chef gar nichts sagte und sich nicht rührte, begab sich Sturre wie der an seinen Arbeitsplatz im Nebenzimmer. Aber mährend er die Briefe in den Ordnern registrierte, beobachtete er durch die Glastür, die der Chef hatte anbringen lassen, um die Ar beitsräume übersehen zu können, noch immer den Schweigsamen drinnen, und plötzlich fiel ihm auf, wie schnell der Chef in einer wahrhaft er schreckenden Weise gealtert war. Solche Vertie fungen, Einsenkungen waren sonst nicht in den Schläfen. So eisengrau nicht die Haare. Und so zerknittert sah die Haut nicht aus, die jetzt durchzogen erschien wie von Rissen und Sprüngen. Nur die sonderbare Hand war nicht gealtert. Sie erschien so hell und jung, als wären alle die Bisse, die Streiche, die finsteren Elemente des Lebens, die den Kopf und den mächtigen Körper dort angcfallen, schonend darüber hinweg ge gangen. Der Chef aber konnte das Auge nicht lösen von dem Lande draußen. Er erinnerte sich jetzt, dass er es anders gekannt hatte. Hoch stand das Gras. Vieh weidete in den saftig schimmernden Flüchen. Aecker waren da. Baumblüte. Strauchobst. Ueppig quoll die Natur. Sie war damals so unberührt und rein, als sei sie ge rade aus des Schöpfers Hand gekommen. Da brach das Gericht über sie herein, der Un- segcn, die Vernichtung. Er hatte sie geahnt. Ihm folgten die Holzhauer, die Handwerker, die In genieure, die Architekten. Das Gras wurde aus gerodet. Sie legten die Aecker brach, vertrie ben das Vieh und gruben den Boden um. Mauern wuchsen, Fabriken entstanden. Aus ihren vielen Schornsteinen zogen die schwarzen Rauchfahnen über den reinen Himmel. Die Vögel flüchteten. Blumen entfalteten sich nicht. Der Lärm, der Geruch, der Stein seiner Fabri ken hatte das blühende Land in Oedland ver wandelt. Gut, daß Sturre die Gedanken des Chefs nicht erraten konnte. „Was bin ich denn eigentlich anderes als ein Mörder? Wie konnte ich das Leben, das hier wuchs, atmete, prahlte, duftete, hinmorden um des Geldes willen, um meines Ehrgeizes willen? Wer gab mir das Recht da zu? Wie würde es mir gefallen, wenn ein anderer käme, um mir zu irgend welchen Zwecken, die ihm dienlich wären, Atem, Herz schlag, Emvfindung zu nehmen?" Gut, daß Sturre von diesen Gedanken nichts hörte. Was für eine Meinung Hütte er von sei nem Chef bekommen sollen? — Der Chef verließ die Fabrik und ging nach Hause. Sturre schüttelte den Kopf und starrte ihm nach; aber nicht nur Sturre, sondern alle Angestellten bis zum Port-er hinab, die es sahen, wie der Alte die Fabriken verließ, die noch im vollen Betrieb waren. Dies war nicht geschehen, so lange man zurückdenken konnte. Der Chef faß schon da, wenn man morgens kam; er war noch da, wenn man nachmittags ging. wenn in dem großen Hauptgebäude auch schon alle Fenster dunkel waren, schimmerte oft noch das Licht aus dem Arbeitszimmer des Chefs. „Er ist krank", flüsterten die Angestellten sich zu, und der Portier, selbst ein alter Mann, mur melte, als er dem Davongehenden nachfchaute: „Jeden packts einmal! Auch einen wie diesen, von dem mans nicht glaubt . . ." Irmgard, die Frau, schaute erschrocken auf, als der Gatte zu so ungewohnter Stunde heim kam. Sie war reich gekleidet, wirkte aber schmal und verblüht in den kostbaren Gewändern. Ihre Hände, an denen die Ringe blitzten, waren müde, ohne wirklich die Arbeit zu kennen. Der Chef mußte die Frau immer ansehen, während er mit'ihr die Mahlzeit einnahm. Es kam ihm zum Bewusstsein, wie lange er sie nicht richtig angesthaut hatte. Und daß sie gar nicht glücklich aussah, sondern belastet, behängt, als wäre ihre eigentliche Natur umgebogen, die sich eigentlich auf ganz andere Weise entfalten wollte. Und er dachte: „Wie war sie blond, wie war sie jung, wie war sie leicht, beschwingt, beseelt, als ich sie kennen lernte! War sie nicht wie eine kleine Libelle? Wie ein Stückchen Sonnenstrahl? Wie eine Wolke, die so hoch, so leicht dahinzieht, als wolle sie die Erde niemals berühren? Aber ich habe sie hinabgestossen. Sie hat sich nach dem Bilde formen müssen, wie ich sie haben wollte. Nichts an ihr ist jener mehr ähnlich, die mir entgegentrat, als ich sie zum erstenmal in ihres Vaters Garten sah. „Warum höre ich dicht nie mehr singen, Irmgard?" fragte er plötzlich, als er nach der Mahlzeit seine Zigarre rauchte. Irmgard blickte verwundert auf. „Das ist im Laufe der Zeit so langsam ein- gcschlafen," sagte sie. „Man hat so viel ande res zu tun. Die vielköpfige Dienstbotenschar will regiert sein. Die Damen der Wohltätigkeits vereine kommen Tag für Tag mit ihren Anfor derungen. Großer Reichtum bringt eben viele Verpflichtungen. Aber wenn du gerade Lust hast, Gesang zu hören, kann ich ja ein Liedchen singen . . „Ich bitte dich darum, Irmgard," sagte er Sie ging zum Klavier, schlug die Tasten an und sang. Er senkte den Kopf ganz tief und rückte sich weiter ins Dunkel, daß man den Aus- oruck seiner Züge nicht sah. Du lieber Gott, diese eingerostete, halb gebrochene, ungepflegte Stimme! Und sie sang einst so rein, so hell, so voll Wohllaut, daß man die Nachtigall selbst zu hören meinte. Er dachte: „Dich habe ich erdrückt und hin geopfert wie das blühende Land, das jetzt Oed land ist . . ." Er hatte sich in sein Schlafzimmer zu rückgezogen und müde auf den Bettrand gesetzt. Ihm gegenüber hing der große Spiegel. Er schaute hinein. Da sah er auf seinem Knie, auf dem dunklen Stoff des Beinkleides seine rechte Hand liegen: zart, hell, schmächtig fast im Gegen satz zu der übrigen breiten Körperlichkeit. Er hob die Hand empor und führte sie dicht vor seine Augen. Und als er auf diese sensiblen Finger blickte, da fiel ihm ein, daß in seinen ersten Jllnglingsjahren diese Hand gezeichnet hatte, gemalt, daß sie beglückt war, das Oval eines Gesichts, den Umriß einer Landschaft, die Silhouette eines Tierkopfcs zu entwerfen. Aber über diese Hand herrschte das kluge Gehirn, das sagte: „Künstlerleben — Hungerjahre!" Und er stellte sich um. Langsam kam der Aufstieg, und schließlich bekamen seine Fabriken Weltruf. Aber in dieser Stunde dünkte es ihm: die Hand klage ihn an, und es war ihm, als habe er un ersetzlich Wertvolles verloren, weil er ihr das Leben nicht gab, das die Seele ihrer Finger spitzen verlangte. Er dachte: „Ich habe nicht nur das Laud gemordet, ich habe nicht nur die Frau hingeopfert — ich habe mich auch selbst betrogen und um mein Bestes gebracht . . ." Als Sturre am nächsten Tag den Chef durch die Glastür betrachtete, sah er ihn emsig wie sonst beschäftigt. Nein, nicht wie sonst. Sturre meinte: so habe er den da drinnen noch nie schaffen sehen: so intensiv, so verbissen in Werk und Tat. Und fortan blieb der Chef stets, wie man ihn seit jeher gekannt. Und niemand merkte, daß er es ängstlich vermied, den Blick zum Fenster hinauszusenden. Und, bedrückt.