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ihren Weg ins Zimmer gefunden hatte, aber die größere Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß jemand aus der Nähe mit Absicht auf ihn geschossen hatte. Und dann die Stimme auf dem Seel Sie konnte keinesfalls einem Landmädchen gehören und nächtliche Kahnfahrten zu einer Jahreszeit, die den Menschen ans Kaminfeuer lockt, sind bei Frauen zumindest ungewöhnlich. Insbesondere der letzte Nus, der über den See kam, klang wieder in Johns Ohren. Es lag etwas Spukhaftes in jener wesenlosen weiblichen Stimme, aus der Geist und Bildung sprachen. Johns unfruchtbare Gedanken wurden durch den un erschütterlichen Bate gestört. »Verzeihung, Herr, ich wollte nur sagen, daß Ihr Zimmer bereit ist." Damit wollte sich Date zurückziehcn, aber John winkte ihm zu bleiben. „Bate," sagte er, den Diener scharf fixierend, „wer hat den Schuß abgefeuert? Sie oder ein anderer? Ant worten Sie!" „Sehr gern, Herr. Ich war es nicht und wer sonst es gewesen sein kann, weiß ich nicht." Aus seiner Stimme sprach die gewöhnliche Ehrerbie tung, auch hielt er dem forschenden Blick des jungen Mannes stand, ohne mit einer Wimper zu zucken. „Nein, Herr, ich war es bestimmt nicht." fuhr er nach einer kleinen Pause fort. „Als der Schuß fiel, war ich in der Küche, und die Kugel ist von außerhalb gekommen." John konnte diese Angaben nicht widerlegen, auch hatte er keinen Anlaß, an der Ehrlichkeit des Mannes zu zweifeln. Er vermutete jedoch, daß Bate weit mehr von der Sache wußte, als er wahr haben wollte. Darum schlug er eine andere Taktik ein. „Selbstverständlich, Bate, ich habe auch nur gescherzt. Was ist Ihre eigene Meinung über die Sache?" „Ich habe keine eigene Meinung, Herr. Mr. Glenarm duldete es nicht. Er sagte mir immer, daß sie doch zu nichts gut sein würde." John war von Anfang an eine Eigenheit in der Sprache des Dieners ausgefallen; nun wüßte er, worin sie bestand: es war ein leichter irischer Akzent, aber nicht der der dienenden Klasse, sondern eher der eines Mannes der gebildeten Stände. Donovan pflegte manchmal spaßeshalber in breitem irischen Dialekt zu sprechen, was ganz anders klang als die Aussprache Bates. Es lag in dem Mann etwas Rätselhaftes. „Und wer mag die Dame im Kahn gewesen sein? Können Sie mir das vielleicht sagen?" „Ich weiß es nicht, Herr, wir haben keine Damen auf dem Grundstück." „Aber es gibt doch sicherlich Nachbarn, Farmer oder andere Leute, die am Seeufer wohnen?" „Jawohl, Herr, ein paar. Unsere nächsten Nachbarn sind die Bewohner der Schule." „Sehr richtig, Mr. Pickering erzählte mir davon. Es ist aber kaum anzunehmcn, daß die kleinen Mädchen nachts auf den See hinausrudern und — nach Enten schießen." „Gewiß nicht, Mr. Glenarm. Sie werden sehr streng I gehalten, wie ich hörte." „Und die Lehrer, sind es Männer oder Frauen?" „Die Schwestern von St. Agatha, so glaube ich, > heißen sie, stellen das Lehrpersonal. Der junge Kaplan, I dem die Kapelle, die Sie hinter der Mauer sehen können, > untersteht, und der Gärtner sind die einzigen Männer, > die auf dem Schulgrundstück wohnen." John fühlte allmählich Müdigkeit durch seine Glieder I schleichen und fand das Bedürfnis, sich zu Bett zu begeben. » „Führen Sie mich in meine Zelle," sagte er, sich er- » hebend, „ich möchte schlafen gehen." > Von irgendwoher brachte Bate einen großen, viel- I armigen Kcrzenleuchter und bemerkte dazu erklärend: „Es ist der Leuchter, den Mr. Glenarm stets benutzte. ; Ich dachte mir, daß Sie ihn gern haben würden." - „Wie lange waren Sie bei meinem Großvater, Bate?" I fragte John, als er dem Diener in die Halle solgtc. „Vier Jahre, Herr. Ich kam zu ihm ein Jähr, nach- ' dem Sie außer Landes gingen. Ich erinnere mich noch » ganz deutlich, daß er oft davon sprach. Er war Ihnen I sehr wohlgesinnt, Herr." Die Halle im ersten Stockwerk, die die beiden Männer f danach durchquerten, war ebenfalls in weiten Ausmaßen » gehalten, aber noch kahler als die untere. Rohe Planken ' bildeten den Fußboden und jenseits des Kerzenlichtes > lagen dunkle Strecken, von denen die Tritte auf den losen I Brettern geisterhaft zurückhallten. „Ich hoffe, Sie werden nicht allzusehr enttäuscht ' sein, Herr," bemerkte Bate, als er an einer Tür stehen- l blieb. „Es ist alles so unfertig, aber soweit ganz be- I haglich." > Tie Tür führte in ein kleines Wohnzimmer, das eine I Miniatur der Bibliothek darstellte. Wie in dieser waren l die Wände vollständig mit Bücherregalen besetzt, durch- f brachen von einem kleinen Kamin, einem Wandschrank > und einem in die Wand eingebauten Tisch. In der Mitte ! des Zimmers stand ein langer Tisch, auf dem Schreib- > Materialien in pedantischer Ordnung ausgelegt waren. I In einer der Schubladen des Tisches fand John ein > Reißbrett und Zeichcngerät. ! „Tas Schlafzimmer ist nebenan, Herr; ich hoffe —" I Johns Reizbarkeit regte sich bei Bates letzten Worten aufs neue. Ter Mann benahm sich allzusehr als Gast- < gcbcr und nicht wie ein Diener. Darum schnitt John ! ihm brüsk das Wort ab. „Hoffen Sie, bitte, nichts und lassen Sie es meine Sache sein, ob ich enttäuscht bin oder nicht." „Sehr Wohl, Herr," antwortete Bate in einem Ton, ! der den jungen Mann beschämte. Das anliegende Schlafzimmer war klein und eher dürftig eingerichtet. Die kahlen Wände waren nur mit ! einigen Drucken englischer Kirchen und französischer Schlösser geschmückt. Ein Metallbett und ein paar andere Möbelstücke, bei deren Auswahl strengste Nützlichkeit be stimmend gewirkt haben mußte, bildeten die gesamte Ein richtung. Johns Reisegepäck stand sauber geschichtet in einer Ecke. Bate blieb, weitere Befehle erwartend, an der Tür stehen. „Kann ich sonst noch mit etwas dienen, Herr?" fragte Bate. „Mr. Glcnarm nahm sein Frühstück immer um acht Uhr, Herr, und wenn es Ihnen recht ist, dächte ich —" „Gewiß, es ist mir recht, und ich brauche Sie nicht mehr. Aber noch eins, Bate," sagte John, als der Diener die Tür bereits geöffnet hatte. „Jawohl, Mr. Glenarm?" „Daß ich Sie im Verdacht hatte, den Schuß abge feuert zu haben, war natürlich nicht ernst gemeint." „Bitte, sprechen Sie nicht mehr davon, Mr. Glcnarm." „Die Sache war jedoch zweifellos ungewöhnlich und wenn Sie etwas darüber erfahren, lassen Sie es mich wissen." Bate wünschte dem jungen Mann mit seiner düsteren Stimme eine gute Nacht. John folgte ihm noch bis zur Tür und sah seiner ver schwindenden Gestalt nach. Dann horchte er auf seine Schritte durch die Halle unterhalb, soweit er ihnen in dem unbekannten Haus zu folgen vermochte. Das letzte, was John hörte, war das Verschließen und Verriegeln von Türen in seinen Regionen. Zweifellos war sein Gefäng niswärter ein Mann von großer Sorgfalt. Fünftes Kapitel. Die rote Mütze. Als John am nächsten Morgen nach einer ungestörten Nacht erwachte und das Helle Tageslicht durch die Gar dinen schimmern sah, sprang er aus dem Bett und riß neugierig die Fenster auf. Sie waren von Bäumen um geben, von denen die Mehrzahl bereits die festlichen Farben des Spätherbstes trugen, Scharlach, Braun und Gold mit einigen immergrünen Gesellen dazwischen. John entnahm seinem Koffer einen alten Anzug und schwere Schuhe, kleidete sich an und ging hinunter. Im Tageslicht erschien ihm die Bibliothek noch größer als zur Nachtzeit. Er öffnete eine der hohen Glastüren und trat auf die steinerne Terrasse hinaus, von der aus er einen Blick auf das Außere des Hauses werfen konnte. Es war ein Bau mit Zinnen und Türmen. An verschie denen Stellen des Hauses standen noch die Gerüste der Maurer. Schutthaufen und Stöße von Bauholz lagen in größter Unordnung umher. (Fortsetzung folgt.)