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Lnvsrloren. Die Sehnsuchtsseufzer, die ich ausgehaucht. Und die Gedanken, die ich ausgesandt, Sind nicht für alle Zeit verweht, entflohn —> Cie fuchen und sie finden auch ein Heim. Gleich wie das Licht von längst erlofchnen Crernen Nach langen Jahren erst die Erde trifft, Co fallen meine Seufzer und Gedanken Nach langer Irrfahrt in ein Menfchenherz Und wecken dort die gleiche Sehnsucht wieder Und all die Träume, die auch ich geträumt. Wilhelm Kunze. Ich mschis Gsm Mann sem? Von Irrt Oehlmann. (Nachdruck verboten.) Als Gaby gegen acht Uhr abends aus der elterlichen Wohnung schlich, empfand sie klar und deutlich, daß sie zugleich mit den hochbehacktsn Lackschuhen, den Seiden- strümpfen und dem kurzen Kleidchen ihr eigenes Ich aus — und mit den breiten Tretern (Gröhe 43), der Hose, der Weste, dem Nock und dem Ulster ihres Bruders Leo einen anderen Menschen angezogcn hatte. Zwar bereitete ihr zuerst das Fehlen der hohen Absätze einiges Mißbehagen. Aber es verflog, als sie sich daran gewöhnte, nicht mit dem ganzen Fuß, sondern mit dein Hacken zuerst auf zutreten. So tauchte sie im Schein zischender Bogenlampen ins Gewühl der Großstadt. Tie Straßen waren übersät von rasselnden, klingenden, hupenden Wagen und auf den Fuß steigen keuchte der homo sapiens in hundertfältiger Gestalt, von den sich an den himmelhohen Häusern ringelnden Buchstabenschlangen gespenstisch beleuchtet. Eaby erschauerte."Es war ein süßes, ein wohliges Er schauern. Sie zog die Glocke fester in die Stirn und streckte die Hände der unergründlichen -Liefe der Ulstertaschen ent gegen. „Jetzt bin ich ein Mann!" dachte sie. Wie herrlich, wie göttlich schön das war! Es kam ibr zum Bewußtsein, daß sie diese Stunde eigentlich schon jahrelang herbeigesshnt hatte. Und sie vergaß plötzlich alles. Nicht nur ihren Groll auf das Schicksal, das sie als ein Mädchen zur Welt kommen ließ, sondern auch ihren Haß gegen die Männer, dis sie eben darum haßte, weil sie sie beneidete. Aber heute war sie ein Mann. Freilich nur für einen kurzen Abend, denn um elf waren ihre Eltern und Leo wieder vom Theater zurück. Bis dahin hatten alle diese Attribute männlicher Freiheit fein säuberlich über den Bügel im Kleiderschrank zu hängen, wenn ihre abendliche Exkursion ins Land männlicher Lebensweise unentdeckt bleiben sollte. Drei Stunden blieben ihr also. Drei Stunden, in denen sich die Beweise dafür, daß trotz aller Gleichberechtigungs- Phrasendrescherei nur der Mann allein alle Freiheiten ge noß, gewiß dutzendweise erbringen ließen. Nur einmal wissen, wie herrlich es sich als Mann leben ließ! Nur ein mal kosten dürfen von der süßen Freiheit, in Ler die mas- culine Welt schwelgte — und dann zurückkehren ins für sorglich temperierte Treibhaus, in dem sic, die Mädchen- knospe, unter dem illusorischen Schein einer künstlichen, weltfremden Lebenssonne zur Blüte gebracht werden sollte. Eaby bestieg die Untergrundbahn, die überfüllt war wie immer. Aber sie hatte dennoch Glück, weil es ihr ge lang, rechtzeitig genug und vor zwanzig anderen Anwärt- tern einen Sitzplatz zu ergattern. Um sie herum entstand ein Eemurmel. Ein Herr mit graumeliertem Spitzbart sagte:' „Das ist die Jugend von heute!" und eine Dame, die auch schon aus dem Schneider war. stellte beipflichtcnd die Behauptung auf, solche Lümmel könne man alle Tage antreffcn. und starrte dabei Eaby ins Gesicht. Eaby be unruhigte dieser Blick ein wenig: sie versuchte, das My stische dieser Worte zu ergründen, kam aber nicht Lazu, weil sie jemand anschrie: „Wollen Sie nicht gefälligst Lie Frau mit Lem Kinv sitzen lassen, Sie Flegel Sie!?!" Eaby taumelte hoch. Wie'' Was? Lümmel^ Flegel? Seit ihrer Kindheit fuhr sie schon mit der Untergrundbahn und im mer hatte sie sitzen dürfen. Und gerade heute, wo sie zum -rltenmal als Mann ? Zum Elück hielt der Zug. Verwirrt stieg sie aus und floh an die Oberwelt. Hinter ihr keuchte, bepackt wie ein Maulesel, eine stämmige Landfrau die Treppe herauf. „Ach, junger Mann," jagte sie, „Sie haben doch sicher 'n paar Minuten Zeit, was? Wollen Sie nicht mal mit an- fassen? Bloß bis rüber auf 'n Bahnhof!" Eaby faßte an. Zuerst zwar hatte sie mit eisiger Miene ablehnen und der Frau das Anrufen eines Dienstmannes empfehlen wollen, aber rechtzeitig genug war ihr Blick an sich selbst abwärts geglitten, wo sie zwei dunkle Röhren unter dem Ulster hervorragen sah. Und Hosen verpflich teten, wie es schien. So griff sie also zu, bekam in die linke Hand ein Körbchen mit drei aufgeregt gackernden Hühnern gedrückt und in die rechte einen schweren, dind- fadenverschnürten Pappkarton, der mit seinem leuchtend roten Aufdruck weithin für eine Margarinejorte prachtvoll Reklame machte. Nach getaner Arbeit hatte Eaby das Bedürfnis, sich von dieser Strapaze auszuruhen. Sie betrat eine Kon ditorei, sank in einen Korbsessel und machte ihre Bestel lung. Ob der Herr nicht ablegen wolle, erkundigte sich der befrackte Geist, und als Gaby mit einem gereizten „Nein!" antwortete, erklärte Ler unverschämte Patron mit einer Geste auf den Garderobenständer, es erfordere die Rücksicht auf andere Eäste, Laß die Herren wenigstens den Hut vom Kopfe . Ach so! Baby begriff, aber ihre freudige Stimmung sank beträchtlich. Das Mannspielen fing an, sie nervös zu machen. Sie nahm Spiegel, Puderdöschen und Quaste aus Ler Tasche ud restaurierte sich ein wenig, aber das Gelächter am Rebentisch und eine Damenstimme: „Nun kiek doch bloß den eitlen Affen da!" ließ sie nur allzu schnell erkennen, Laß sie La etwas als Mann tat, was nur der Frau großzügig gestaltet war . Es schlossen sich diesen unerfreulichen Ereignissen noch einige andere in rascher Folge an. Auf dem Autobus sagte ihr der Schaffner: „Gehn Se man rauf aufs Blumenbrett, junger Mann, und lassen Se det kleene Frollein hier uff die Plattform stehen!" Was blieb Eaby übrig? Eie wankte hinauf, sank auf die harte Bank, nachdem sie über ein halbes Dutzend ausgcstreckter Beine gestolpert, und fror jämmerlich. Damit nicht genug, flog ihr auch noch der Hut vom Kopf. Sie kletterte wieder hinunter, stieg ab und lief zurück. Da lag Leos schöne Elocke verbeult im Rinnstein. Als sie ihn vergebens zu säubern suchte, liefen ihr die Tränen über die Wangen. Ein Bengel im Dreß der Meßenger Boys blieb stehen und rief: „Wat wecnste denn um die olle Dohle, Paule!" und wollte sich Labei schief lachen. Dann kamen noch mehr Menschen und alle amüsierten sich königlich über Len jungen Mann, der da über seine ver bogene Elocke bittere Tränen vergoß. "Bis Eaby die Wut packte. Das war die mit dem Elo- rienschen des Glanzes umstrahlte männliche Freiheit? Das? O, bittere Enttäuschung! Da war es ja tausendmal besser, eine Frau zu sein. Da durfte sie weinen so viel sie wollte — und alle würden Mitleid mit ihr haben, da brauchte sie nicht auf das Omnibusdcck klettern, da konnte sie sich pu dern und im Spiegel betrachten, da war es ihr gestattet, den Hut aufzubehalten, da — da — da durfte sie über haupt tun und lassen, was sie wollte! Und sie hatte ge glaubt, der Mann ?! Eaby fuhr nach Hause. Es war erst halb zehn, als sie die elterliche Wohnungstür hinter sich schloß. Andert halb Stunden nur hatte ihr Ausflug ins Reich männlicher Freiheit gedauert. Sie hatte trotzdem genug davon. Und zog alle Konsequenzen: Rock, Weste, Hose fort mit euch! An diesem Abend verwandelte sich Eabys Haß gegen die Männerwelt in tiefes Mitleid. — Cinnsprüche. Wenn der schwer Gedrückte klagt: Hilfe, Hoffnung sei versagt. Bleibet heilsam fort und fort Immer noch ein freundlich Wort. * Laßt uns lindernd Osl und Wein In Les Nächsten Wunden gießen; Helfer, Tröster ihm zu sein, Soll uns nie verdrießen.