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Verstummung. Di« junge Hoffnung liebt zu kleiden In schöne Worte ihre Leiden: Die Einsicht schreitet silbenkarg Zum Sarg. Emil Claar. Daier und Gohn. Skizze von Paul Klag. (Nachdruck verboten.) Vier kurze Helle Schläge tat irgendwo im Hause eine Uhr. Dann Holte sie aus, und tief und voll tönte ein Klang durch die Nacht, der bebend die Luft erfüllte. Es war eins. Holger Baden saß noch immer über seinem Ceheimbuch, in dem die Zahlen mit dem Abschluß des Jahres seines Unternehmens standen Müde lag die blasse, nervenreiche Hand auf den breiten Seiten, noch den Blei stift zwischen den Fingern haltend, der eben die Zahlen kolonnen entlanggefahren war. Sein schön geformter Kopf mit dem silbrigen Haar beugte sich leicht vornüber. Es war ein guter Abschluß. Er zeigte, wie auch in den letzten Jahren, den steigenden Fortgang des Unternehmens und seinen gleichzeitig wachsenden Wohlstand. Und dennoch machte er Holger Baden keine Freude. Wozu? ging es ihm immer durch den Kopf. Was er jetzt besaß, genügte, um die Bedürfnisse für sich und seine Frau zu befriedigen. Ei« wünschten sich nicht mehr. Und der andere, für den er hätte arbeiten können — der andere — es war sein eigener Sohn. Wo mochte er sein, Egon, einst sein Elück und seine jubelnde Hoffnung? Wie schön könnte er es nun haben! Jetzt, da er das neue, weitauslaufende Haus er worben und mit großem Geschmack eingerichtet hatte, da es an Geld nicht fehlte, um ein geordnetes Leben zu führen. Ach ja! — er seufzte tief und schmerzlich. Ein geord netes Leben! Wie sehr hatte er sich bemüht, seinen Sohn in diese Bahnen zu führen. Seine Gedanken wanderten Jahre zurück. Kein Geld und keinen Aufwand hatte er gescheut, um dem Knaben eine gute Erziehung angedcihen zu lassen. Von Gymnasium zu Gymnasium hatte er ihn geschickt. Aber immer wieder hatte man ihn davongejagt. Mit seinen heimtückischen und oft gemeinen Streichen, die gar nichts jungenhaftes mehr an sich hatten, verdarb er die Mitschüler. Dann kam der Krieg. Auch Egon mußte bald hinaus. Anfangs ging es gut. Er war tapfer und kühn und geschickt, so daß man ihn sogar Offizier werden ließ. Aber dann kam der erste furchtbare Schlag. Egon fälschte und betrog. Er eignete sich mit allen Mitteln Gelder an, um seinen Leidenschaften nachgehen zu können. Der erhebliche Zuschuß des Vaters reichte nicht aus. Bis man ihn überführte, aus dem Heere stieß und ins Ge fängnis schickte. Jahrelang kämpfte Holger Baden um ven Sohn. Er kargte nicht mit den Mitteln, obwohl er es oft nur unter schweren Opfern geben konnte. Aber es schien, als sei Egon von einem bösen Geist besessen. Er betrog und schwindelte und kam so noch öfter in die Maschen des Gesetzes, die endlich kein Erbarmen mehr mit ihm kannten. Doch immer wieder nahm der Vater ihn auf. War es doch der einzige Sohn, hoffte er doch immer wieder, ihn zu einem ordentlichen Menschen machen zu können! Das letzte Mal. als er ihn ausgenommen, hatte Egon alles ihm bekannte Diebesgesindel mit ins Haus gebracht, mit ihnen Gelage abgehalten. Holger Baden duldete es in der Hoffnung, daß er endlich doch seinen Lebcnsirrtum einsähe. Bis endlich der Sohn begann, mit seinen Spieß gesellen die Wohnung zu plündern. Da kannte er sich selbst nicht mehr wieder, und im Zorn wies er ihm die Tür. Bald saß Egon wieder im Gefängnis. Holger Baden war tete auf den Tag der Entlassung. Aber als der Sohn die Pforten der Haft verließ, wandte er sich vom Vater ab und ging seiner Wege. Schon seit Jahren hatte er nichts mehr von ihm gehört. Alle Nachforschungen blieben ohne Ergebnis. Holger Baden sah auf die Zahlen. Alles, alles mochte er dahingeben, um nur seinen Sohn verändert wiederzu- sehen. War er nicht vor sich und Gott und der Welt ver antwortlich für seinen Sohn? Der Gedanke drückte ihn mit quälender Gewalt. Machtlos fühlte er sich dem Schick sal überliefert. Seine Hände ballten sich in unterdrücktem Schmerz. Jetzt schlug er das Buch zu. Es klatsch« dumpf, und der Laut durchbrach jäh oie Stille im Hause. Langsam erhob er sich und sperrte es in den schweren eisernen Schrank. Mit schleppenden Schritten begab er sich in das Schlafzimmer, das im oberen Stockwerk lag. Aber die Sorgen folgten ihm bis in den Schlaf hinein. Lange lag er grübelnd wach, bis endlich ein erlösender Schlummer seine Gedanken einfing und sie entführte. Wie lange er geschlafen hatte, wußte er nicht. Er wurde durch ein Geräusch wach. Er lauschte. Jetzt war es still. Aber da — war es nicht ein Knacken an der Haustür? Brach nicht jemand mit einem Eisen daran? Wieder war es still. Täuschte er sich? Doch nein, nun hörte er flüsternde Stimmen. Nun probierte wieder jemand am Schloß. Es konnte kein Zweifel sein, Ein brecher waren am Hause! Leise erhob er sich, um seine im Nebenzimmer ruhende Frau nicht zu wecken. Aber diese mußte es auch vernom men haben. Kaum vernehmbar rief sie: „Holger, was ist dort an der Tür?" Ebenso flüsternd gab er Antwort: „Ich werde gleich nachschauen, verhalte dich nur ruhig!" Er entnahm seinem Nachttisch einen Revolver und eine Taschenlampe und begab sich leise auf den Gang hinaus an die Treppe, von wo aus man durch ein Fenster die Vorgänge an der Tür beobachten konnte. Mit Spannung und doch einer inneren Ruhe, wie sie der Augenblick der Gefahr oft gibt, beobachtete er, wie sich zwei halbvermummte Männer an dem Schloß zu schaffen machten. Blitzschnell überlegte er, daß er vom Fenster aus nichts ausrichten konnte. Er mußte warten, bis es den Verbrechern gelungen war, die Tür zu öffnen. Und wirk lich schienen sie nun Erfolg zu haben. Sie hatten wohl einen passenden Nachschlüssel gefunden. Der Riegel wurde zurückgeschoben, einmal, zweimal, dann öffnete sich lang sam und leise die Tür. Ein Mann trat behutsam ein, das Gesicht mit einem schwarzen Tuch verdeckt. In diesem Augenblick schaltete Holger Baden die Taschenlampe ein, daß die Eindringlinge voll davon beleuchtet wurden. Mit drohender, dröhnender Stimme rief er: „Halt oder ich schieße!" Die Männer waren im ersten Augenblick ver blüfft. Blitzschnell griff aber einer von ihnen, ohne daß es Holger Vaden bemerkte, in die Tasche, zog einen Re volver, und ehe Holgar Baden die Situation erfaßt hatte, war die elektrische Lampe durchschossen und erloschen. Da zögerte auch Holger Vaden nicht mehr. Zwei scharfe Schüsse gab er auf Len ihm am nächsten Stehenden ab. Fast gleichzeitig schrie dieser auf, taumelte, griff sich an die Brust und stürzte hintenüber auf die Treppe. Ter andere wandte sich zur Flucht, indem er noch ein paar Schüsse abgab. Holger Vaden schaltete nun das Licht ein und trat zu dem am Boden Liegenden, der mühsam stöhnte, während das Blut aus seinem Munde quoll. „Marie, hole Wasser und Verbandzeug!" rief Holger Baden geistesgegenwärtig, während er sich um den sich vor Schmerzen Wälzenden bemühte. Seine Hand streifte das Tuch vom Gesicht. In plötz lichem Erschrecken schauderte er zurück. Seine Finger taste ten über den Körper. Seine Zunge bewegte sich schwer, als sich der Brust der Name entrang: „Egon!" Alles grauenvolle Entsetzen, dessen ein Mensch fähig ist, prägte sich in diesem Worte aus. Aus den verzerrten, leidenschaftdurchfurchten Zügen sahen ein paar glasige Augen zu dem alten Mann empor. Wie sie des Vaters entsetztes Gesicht schauten, ging ein Zucken durch den Körper. Die Lippen bewegten sich. Müh sam kam es hervor: „Vater, ich ha—", aber da quoll das Blut flutender hervor und erstickte jeden Laut. Ein Strecken durchfuhr den Leib, und dann wurden die Augen starr. Egon war tot. Wie geistesabwesend erhob sich Holger Baden und wankte in sein Arbeitszimmer. Seine Frau kam mit der Schüssel Wasser. Doch als sie sah, daß ihr Mann neben dem Schreibtisch niedersank, da bemühte sie sich um ihn. Stammelnd brachte er hervor: „Ta, da liegt unser Sohn. Ich habe ihn erschossen." Krampfhaft zuckte die Brust des alten Mannes. Die Nacht wurde lebendig. Leute kamen, Polizei. Aber Holger Baden verstand nicht mehr, was man sagte. Lal lend kam es immer wieder aus seinem Munde: ,Zch habe ihn erschossen." Sein Geist hatte sich verwirrt.