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Pulsnitzer Mckendlatt Donnerstag 20. AKLoöer L910. Beilage zu Ar. 124. 62. Jahrgang. OertUcbes unv SScdftscbes. — Die Einnahmen deS Reiches aus Zöl len und Steuern betrugen in der ersten Hälfte des laufenden ElatSjahreS 701 Millionen Mark; sie sollen im ganzen Jahre 2441 Millionen Mark erreichen. Die Dis. serenz ist also nicht mehr groß, sodaß der volle Ertrag in hoffentlich nicht ferner Zeit erzielt werden wird. — (Auszeichnungen von Arbeitern.) Die StaatSeilenbahn hat im vergangenen dritten Viertel jahre wieder einer größeren Anzahl von Arbeitern für längere befriedigende Dienstzeit ansehnliche Geldbelohnun gen bewilligt, und zwar drei Arbeitern nach 45 jähriger Dienstzeit je 200 Mk., 11 Arbeitern nach 40 jähriger Dienstzeit je 100 Mk., 47 Arbeitern nach 35 jähriger Dienstzeit je 80 Mk., 29 Arbeitern nach 30 jähriger Dienst zeit je 60 Mk. und 36 Arbeitern nach 26 jähriger Dienst zeit je 50 Mk. — Eine Ladenschluß-Ueberwachung for dert der deutschnattonäle HandlungSgehilfen-Verband von seinen Mitgliedern. Diese sollen auspassen, ob nach der vorgeschriebenen Schlußzeit noch Käufer eingelassen und bedient werden. Die Aufpasser sollen diese Firmen zwecks eventueller Anzeige notieren. Schön wäre das Verfahren aber nicht, und das Vertrauens-Verhältnis zwischen Ches und Angestellten würde dadurch auch nicht gefördert. 8. Dresden, 18. Oktober. (DerdeutscheStädte- tag und die Fleischteuerunp.) Der Rat zu Dresden hat gemeinsam mit den Stadtverordneten eine Petition wegen Erzreifung von Maßnahmen zur Be hebung der Fleischieuerung an die Königliche StaatSre- gterung abgehen lasten und den Vorstand des deutschen Städtetages ersucht, die Angelegenheit und ihre weitere Behandlung in einer alsbald einzuberufenden Sitzung zu beraten. Diese Sitzung hat am 17. Oktober in Ber- lin stattgefunden. Der Vorstand des deutschen Städte- tagcS hat beschlosten, eine Petition, welche sich im we sentlichen in der Richtung der von den Dresdner Kör perschaften an die Königliche Staatsregierung eingereich- ten Petition betagen wird, an den Reichskanzler, den Bundesrat und den Reichstag zu richten, und mit der Ausarbeitung dieser Petition eine engere Kommission beauftragt. 8. Dresden, 18. Oktober. (Die Bücherdieb stähle in den Königlichen Bibliotheken.) Der wegen der bekannten Bücherentwendungen in der König lichen Bibliothek und im Albertinium verhaftete prak tische Arzt und medizinische Schriftsteller vr. Weindler hat durch seinen Rechtsbetstand eine Kaution von 50 000 Mark angeboten, um vorläufig aus der Unter suchungshaft entlasten zu werden. Das Gericht hat je doch die angebotene Sicherheitskaution abgelehnt, vr. Weind ler, dessen Ehe mit der Tochter des berühmten Dresdner Frauenklinikers Professor vr. Leipold vor kurzem aus anderen Gründen geschieden worden ist, wird wahrschein lich auf seinen Geisteszustand untersucht und zur Beob achtung der Irrenanstalt Sonnenstein überwiesen werden. Gegen die Beamten der König!. Bibliothek hat von vorn herein irgend welcher Verdacht nicht vorgelegen. Diesel ben sind lediglich befragt worden, ob sie gegen einen der Bücherentleiher Verdacht hegten. Es stand von vorn herein fest daß nur ein wissenschaftlich Gebildeter als Täter tn Frage kommen konnte. 8. Dresden, 18. Oktober. (Ernennung.) Der Prioatdozent an der technischen Hochschule zu Dresden, Baurat Ernst Kühn, wurde zum etatsmäßigen Honorar- Die Lessing-Schute zu Kamenz (Realschule mit Progymmsim»), welche am 18. Oktober 1910 feierlichst eingeweiht wurde. Erbauer: Architekten Gebr. Kießling, Kötzschenbroda. Professor für Konstruktion landwirtschaftlicher Bauten ernannt. Bischofswerda, 18. Oktober. Ueber den Vertragsschluß mit dem Elektrizitätswerk Großröhrsdorf, G. m. b. H., ist zu bemerken, daß ein definitiver Abschluß noch nicht er folgt ist. Die Verhandlungen sind noch im Gange, doch dürften sie, wie von kompetenter Seite mitgeteilt wird, in den nächsten Tagen zu den für unsere Stadt denkbar günstigsten Bedingungen zum Abschluß gelangen. Der ElektrtzitätSauSschuß hat sich mit der bisherigen klugen Durchführung der Sache den Dank aller Mitbürger er worben. Ungeachtet des Drängens, wie eS von verschie- denen Seiten beliebt wurde, ist diese für unser Gemein wesen so wichtige Frage nicht übereilt worden und nun mehr zu dem wünschenswerten günstigen Stadium gediehen. Vermischtes * Der Sturm der Frauen aus das Rat haus. Aus Rom wird berichtet: Das bescheidene Rat haus des kleinen römischen Vorortes Rocca Priora war der Schauplatz einer eigenartigen Szene. Die selbstbe wußten Stadtväter, die bei den letzten Gemeinderats- wählen den Sieg davongetragen hatten, erregten seit einiger Zeit das Mißfallen der Bevölkerung, denn sie widersetzten sich der Eröffnung einer neuen Straße. Die Unzufriedenheit der Bürger von Rocca Priora wuchs von Tag zu Tag, aber im Vollgefühl ihrer Machtvoll kommenheit trotzten die Stadtväter der öffentlichen Mei nung und gingen über alle Proteste und Demonstratio nen mit einem spöttischen Achselzucken zur Tagesordnung über. Die Einwohnerschaft mußte sich schließlich klar werden, daß sie bei den Männern ihres einstigen Ver trauens nie ein Ohr finden würde. Aber was sollte geschehen? Die Frauen waren es, die nun die Ange legenheit in die Hand nahmen. Ganz in der Stille kamen 300 Bürgerinnen von Rocca Priora überein, daß nur ein Gewaltstreich den Despotismus der trotzigen Herren mäßigen könne, und sie beschlossen, kurzweg das Rathaus zu stürmen. Der finstere Plan wurde tn allen Einzelheiten genau ausgearbeitet, und merkwürdiger weise ward das Geheimnis auch so meisterhaft gewahrt, daß nicht eine einzige Männerseele von Rocca Priora auch nur dunkel ahnte, welch bedeutsame Ereignisse sich vorbereiteten. Endlich war der festgesetzte Tag gekommen. Im Rathause tagten die verstockten Stadlväter, als plötz lich eine wohlgeordnete Schar von 300 Frauen tn den Sitzungssaal drang. Die Stadtgewaltiqen trauten kaum ihren Augen und noch weniger ihren Ohren, als die s Führerin der unerschrockenen Frauen ih- en erklärte, sie I hätten sofort das Rathaus zu verlaffen, da sie des öf fentlichen Vertrauens unwürdig geworden seien. In Anbetracht der zahlenmäßigen Uebermacht der Eindring linge konnten die paar Stadträte nichts anders tun als unter Protest das Feld zu räumen. Das Rathaus wurde verschlossen und der Schlüssel der Polizei übergeben mit dem Auftrage, ihn nur einem Regierungsbeamten aus- zuhändigen. Nachdem der kleine Staatsstreich so glück lich durchgeführt war, gingen die wackeren Retterinnen von Rocca Priora ruhig nach Hause, wo sie von ihren erstaunten Männern und Brüdern mit Jubel begrüßt und als Heldinnen der Baterstaot gebührend gefeiert wurden. Die ausgewiesenen Stadtväter aber sandten noch am selben Abend ein Telegramm an die Regierung ab, in dem sie ihre Demission mitteilten. Dev Urinz-HemcrHL. Roman von Henriette v. Meerheim b. 3 (Nachdruck verboten.) Frau v, Strchow saß bereits m ihrem Salon vor dem ge» deckten Teetisch. Ihre zierlichen Hände, von seidenen Halbhand- schuhen bedeckt, fuhren unruhig suchend zwischen den dünnen Porzellantaffen, den silbernen Kuchenkörben und Obstschalen hin und her. Da« Wirtschaftsfräulein Lydia Winter, die sonst Tee einzuschenken pflegte, machte Einkäufe in der Stadt, darum lag heute auf Frau Amely v. Stechow» schwachen Schultern die schwer, Last, Gatten und Sohn beim Abendbrot versorgen zu müssen. Li« war so eingenommen von der Größe und Wich tigkeit dieser Aufgabe, daß sie ihres Mannes wenig salonfähige« Kostüm garnicht beachtete, sonder» nur ihm und Georg halb verlegen, halb wichtig zunickte. »Setzt euch, bitte, Der Tee wird gleich fertig sein." »Hast du auch welchen in die Kanne getan, Mama?" e» kündigte sich Georg. «Meisten» läuft nur heiße« Wasser heraus, wenn du Tee erwartest." Frau von Stechos schlug mit ihrem kleinen Fächer, der stet« neben ihr lag, nach dem «naseweisen Jungen". Herr von Strchow goß vorsorglich seine Taffe halb voll Rum. Mit die sem bei ihm sehr beliebten Stoff verbefferte er gern den dünnen Tee. .Wo ist denn Fräulein Lydia, dein Schatten, Amely?" »Sie hat Besorgungen zu machen," seufzt« Frau v. Strchow. Mir fehlt« Leid« zu meiner Spitzenarbeit. Ich habe ein neue« Muster entworfen, Georg. Du mußt dir da» gleich einmal ansehen." «Da» hat Zeit bi» nachher," brummte der alte Etechow «in wenig überlaunig. Aber Georg, der die Passion seiner Mutter sür alte Spitzen- muster kannte, zog eine angefangene Arbeit au« ihrem Nähtisch hervor. Frau v. Stechow erklärte lebhaft die Unterschiede zwi schen Brabanter-, Richelieu» und Alenconspitzen und zeigte ihr« n«uen Entwürfe, die sie auSprobieren und einer Modezeitung einsendr» wollte, Georg verbefferte einige« an der Zeichnung. Mit seinen frauenhaft geschickten Händen entwirrt« «r auch di« auf dem Klöppelkissen seiner Mutter entstandene Unordnung und bewunderte zu ihrem Entzücken lebhaft ein alte« Spitzenrestchen von wunderbarer Feinheit, da« ihren Entwürfen al« Vorbild diente. .Die Viller« haben alle eine Marotte für Spitzen," plau derte Frau v. Stechow, die al« eingeborene Gräfin Viller» einer vornehmen, verarmter französischen Emigrantenfamilie entstammte. «Au» den Schrecken»zeiten der großen Revolution haben meine Vorfahren nicht« gerettet, wie ein paar alte, echte Spitzenärmel. Und wenn ich denke, welchen großen Besitz sie einst ihr Eigen nannten!" Mit einem leichten Seufzer sah sie sich in ihrem Salon um. Der Damast der zierlichen Rokokomöbel war freilich sehr verblaßt, an manchen Stellen sogar schon gestopft, aber der ganze Raum machte trotzdem mit den vielen blühenden Blumen, den Bildern und Kunstsachen einen ebenso behaglichen wie vornehmen Ein. druck. Die kleine zarte Frauengestalt in ihrem mattlila, mit Spitzen rrich besetzten Kleid, dem leicht ergrauten welligen Haar um da« feine Gesichtchen und den lebhaft dunkele» Augen gehörte, wie da« Brld in seinen Rahmen, in diese» Milieu. Bei ihrem lebhaften Geplauder stockt« da» Teeeingieße» immer wiedrr. Gatt« und Sohn bedienten sich schließlich allein. Herr von Stechow kaute mit vollen Backen und schlürft« seinen Tee geiäuschvoll hinunter. Seine Frau hob nur ab und zu ein Bröckchen halb- zerstückelten Kuchen in den Mund. «Nun hör aber endlich einmal von dem Firlefanz auf l" unterbrach der alte Stechow die atemlos- Beschreibung einer al- ten berühmten Kirchturmspitze. Wa» grhen un» di« Altardecken in Brüssel an, möchte ich wissen? Sag lieber Georg, daß auch du sein« Verlobung mit Anne Marie für da» größte Glück hälft." »Hat er «ingrwilligt?" Ein freudige« Rot lief übe« Frau v. Stechow» Gesicht. ,H«rzen»jung« I" Vie zog den hübschen braunen Kopf de« Sohne« mit ihren kinderkleinen Händen zu sich herunter und küßte ihn zärtlich. .Nur bedingt, Mama Der Vater ist etwa« zu eilig, Ich hab« gesagt: ich wollte mir« überlegen." .Georg, wenn du zu lange überlegst, nimmt sie vielleicht einen ander«» l" »Da« üb«rlrbe ich." «Aber wir nicht — wenigst««» nicht hier in Retter»hof I" Der alte Stechow schob sein« Taffe so heftig zurück, daß die braunen Tropfen auf die weiße Damastserviette spritzten. «Ver lobst du dich nicht mit Anne Marie, so können wir über kurz oder lang unser« Sach«» packen. Ich werd« Inspektor, Mama ttöbbelt Spitzen, und du pinselst Bilderbogen. — Feine» Leben — wa»k" Er lachte, aber da» Lachen klang erzwungen und garnicht lustig. .Wenn du mir Zeit ließest, Papa, ist «» sehr möglich, daß ich noch einmal mit dem Pinsel viel Geld verdiene." «Ach Kindl" Frau v. Stechow nahm die schlanke Hand de» Sohne» in ihre beiden Hände. .Wa» sprichst du da? Willst du ein Handwerk au» deiner Kunst machen, Brot verdiene», dich nach dem Geschmack, den Launen de» Publikum» richten, bei den Vorständen der Museen und Au»stellungen herumbetteln, daß sie deine Bilder aushängen und »»»stellen? — Du, wie lange dein Stolz da» wohl ertrüge? Jetzt bist du dein eigener Herr, kannst malen, schreiben, treiben, wa» du willst und wa» dir zusagt." »Recht hat deine Mutter!" pflichtet« d«r alt« Stechow ihr bei. Aber sein« Frau, di« bemrrkte, daß s«in« Bestimmung den Sohn nur reizte, winkt« ihm schnell mit den Augen zu und sagte: »Laß mich allein mit Georg reden, Alterchen." Stechow stand auf. .Meinetwegen wickle um den gesunden Menschenverstand, der ihm den Rat erteilt, Anne Marie zu hei. raten, rin bißchen Süßhol?, vielleicht.schmeckt» ihm dann besser."