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124 Amerikaner ist stolz auf seine Freiheit, auf die staats- gesellschaftlichen Vorzüge, die sein Land vor anderen voraus hat und doch lebt er in weit größerer Abhängig keit von den Meinungen Anderer, als ein Franzos oder Teustscher. Das ist allerdings Thatsache. Zum Theil mag diese Erscheinung aus dem Mangel an noch zur Zeit nicht hinlänglich vorgeschrittener geselliger Bildung zu erklären, aber zugleich mag doch auch ein Grund derselben sicherlich darin zu suchen sein, daß man unter einer demokratischen Verfassung ohne Vergleich mehk die Meinung seiner Mitbürger zu berücksichtigen hat,- als unter jeder anderen Verfassung. Indessen haben allezeit die Sitten einen bedeutenden Einfluß aus die Bildung der öffentlichen Meinung; verändern sich dieselben in geselliger Hinsicht, dann kann es nicht fehlen, daß auch die Ansichten über gesellige Freiheit einen Wechsel er fahren. Bei dem Amerikaner dürfte sich alsdann der Geschmack der Kleinstädterei, sich um das Thun und Treiben, die Lebensweise und die Gewohnheiten der Nachbarn vielfältig zu bekümmern, verlieren, und die öffentliche Meinung sich mehr darauf beschränken, von den Handlungen der Einzelnen vorzugsweise das in den Bereich ihrer Beurtheilung und Kritik zu ziehen, was mit dem öffentlichen Wesen in Beziehung steht. Solche krähwinkelartige Sitten, bei denen die Gesellschaft sich's zur eifrigsten Pflicht macht. Alle bis in den häuslichen Kreis des Familienlebens zu beaufsichtigen, paßten nur in die puritanischen Gemeinwesen der ersten Ansiedler, welche die kirchliche Zucht auf alle besondere Verhält nisse im Leben ausdehnten und dazu beigetragen haben, daß die Thätigkeit der öffentlichen Meinung in Amerika diese Richtung annahm. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß das mächtige Zensoramt, welches in den vereinigten Staaten das Publikum über das Thun und Lassen der Individuen übt, auch viele gute, dem Gemcinwohle ersprie-liche Seiten hat, wiewohl nicht zu leugnen ist, daß es häu fig zu weit geht. Viele werden unter diesen Umständen sicherlich Manches thun und unterlassen, was sie ge- than oder unterlassen haben würden, hätten sie die Mei nung ihrer Mitbürger nicht zu beachten gehabt. Die Machtmenschen in anderen Ländern insbesondere würden gewiß ganz anders sich betragen, könnten sie nicht ungestraft sich über die öffentliche Meinung hin wegsetzen. Ich für meinen Theil möchte es wenigstens immer vorziehen, in einer Gesellschaft zu leben, in wel cher Jeder sorgfältig zu vermeiden sucht, der Meinung seiner Mitbürger einen Anstoß oder ein Aergerniß zu, geben, als in einer solchen, wo Keiner bei seinen Hand lungen darauf Rücksicht zu nehmen braucht, was Andere von ihm denken und urtheilen. In einem republikani schen Gemeinwesen steht überdieß die Sittlichkeit seiner Glieder in so innigem Zusammenhänge mit dessen Wohle und Erhaltung, daß Gleichgültigkeit der Bürger in die ser Beziehung höchst verderblich werden könnte. Es wäre daher nichts weniger, als wünschenswerth, wenn in Amerika die öffentliche Meinung es völlig aufgäbe, auch die moralischen Handlungen der Bürger ihrem Richterstuhlc zu unterwerfen. Hier erscheint es nöthiger, als anderswo, daß die Stimme der öffentlichen Mei ¬ nung , selbst bei Beurtheilung der Handlungen von Pri vaten, als Korrectiv in Ansehen, Kraft und Wirksam keit verbleibe, weil da gar Vieles von Oben herab weder ge - noch verboten werden kann, wie in Staaten mit einem Volksbevormundungsregiment. Und jedenfalls ist eine Art Jnspekzion und Kontrole, welche die Gesell schaft über das Benehmen und Betragen ihrer Mitglie der führt, die selber Einfluß auf deren Meinungen und Ansichten üben können, sowohl dem Charakter als den Folgen und Wirkungen nach, doch etwas ganz anderes, als jene Aengstlichkeit, womit in China und Japan, den Musterreichen des Bevormundungsregime, über die strenge Beobachtung starrer, stabiler Gebräuche gewacht wird und jene polizeiliche Beaufsichtigung, welcher der Chinese und Japanese bei jedem seiner Schritte unab lässig unterworfen ist. In einer demokratischen Re publik, wie die amerikanische, ist es völlig in der Ord nung, daß Jeder die Volksstimme gehörig respectirt, und die öffentliche Meinung wird dort auch nie auf hören, ihre Herrschaft über viele Dinge zu erstrecken, die in anderen Ländern dem Gutdünken der Einzelnen überlassen sind. Und wenn der Volksmeinung in Amerika eine gute und verständige Richtung verliehen wird, was bei fort schreitender Volksbildung gewiß zu hoffen ist, dann wer den auch von selbst die Klagen sich mindern, die jetzt noch vielfältig über die übertriebene Einmischung des Volks in die Privathandlunaen der Individuen gehört werden. Mit Argusaugen, bemerkt Grund, wacht in den vereinigten Staaten die öffentliche Meinung über Worte und Handlungen, nicht blos öffentlicher, sondern auch Privatpersonen. Die Lasterhaftigkeit ist daher ge- nöthigt, sich wenigstens zu verstecken, und was auch die geheimen Sünden Einzelner sein mögen, öffentlich dürfen sie es nicht wagen, die Gesetze der Sittlichkeit zu verletzen. Da nur die öffentliche Uebertretung der Gesetze vor das Forum der Gerichte gehören kann, so ist es nützlich, daß eine andere Macht in der Gesell schaft vorhanden und wirksam ist, um die öffentliche Sittlichkeit gegen den verderblichen Einfluß des bösen Beispiels zu hüten, und dadurch, daß sie das Laster zwingt, sich zu verkriechen, die Gesellschaft vor der Ge fahr der Ansteckung bewahrt. Hierin besteht die eigent liche Gewalt und der segensreiche Einfluß der öffent lichen Meinung in Amerika. Sie wird zum mächtigen, wachsamen Polizeiagenten der Sittlichkeit und Religion, welcher nicht nur die Schuldigen vor Gericht führt, sondern auch das Verbrechen im Keime erstickt. Das ganze Volk der vereinigten Staaten ist versammelt zum permanenten Geschworengericht, um da sein „Schuldig" oder „Nichtschuldig" über die Handlungen der Bürger auszusprechen und von seinem Ausspruche gibt es keine Appellation. Die öffentliche Meinung kann allerdings manchmal ungerecht sein, aber nicht leicht bleibt sie eS immer und sie schlägt keine Wunden, die sie nicht wie« der zu heilen vermöchte. Eine überaus heilsame Wirkung der Macht der öffent lichen Meinung besteht in Amerika auch darin, daß die Furcht vor derselben hinreicht, gar viele Gesetze und Verordnungen, Ge - und Verbote der Behörden dort