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.« «tL 8 r: hast richtete sich auf. „Ich wollte, ich hätte vor 22 Jahren auf meine Ellern gehört, die sehr gegen meine Heirat mit einem Deutschen waren. In Frankreich ist es üblich, daß die Ellern ihre Kinder verheiraten. Eine Mutter weiß meist bester, welche Partie den Wünschen und Neigungen ihrer Töchter entspricht, als diese selbst." Ivonne blickte traumverloren aus den Genfer See, den man vom Fenster aus sah. „Muß ich denn überhaupt heiraten?" „Was willst du sonst machen? Du bist die Tochter eines Arztes, der zwar eine gute Praxis, aber weiter nichts hat. Wenn Papa einmal stirbt, bist du mittellos; denn mein Vermögen reicht nur für meine eigenen Bedürfnisse." „Wir könnten uns einschränken, Mama." Die elegante Frau lachte. „Du würdest sicher zuerst den Luxus vermissen, in dem ich dich erzogen habe." „Könnte ich nicht einen Beruf ergreifen?" „Willst du vielleicht unartige Kinder unterrichten oder auf der Schreibmaschine klappern?" Sie wurde unge duldig. „Du machst mich mit deinen Einwänden nervös. Fritz Borchert ist eine glänzende Partie. Du wirst keine bessere finden. Heute früh warst du bereits einverstanden. Warum kommst du mir jetzt mit solchen Albernheiten?" Ivonne schwieg. Sie kannte ihre Mutter. Trotz aller Liebe zu ihr hatte sie sich stets mehr zu ihrem Vater hin gezogen gefühlt; denn in ihren Adern floß germanisches Blut, nur den romanischen Schnitt des Gesichtes hatte sie von der Mutter geerbt. Ihr vielbeschäftigter Vater hatte aber für Frau und Kind wenig Zeit. So war allmählich eine Entfremdung zwischen den Eltern eingetreten. Die vergnügungssüchtige Mutter suchte ihre Zerstreuung auf Reisen. Stets nahm sie die Tochter mit, um sie dem Einfluß des Vatres zu entziehen. Ivonne hatte darunter gelitten. Freundinnen fand sie nicht, mit denen sie hätte kindlich bleiben können. So war sie über ihre Jahre hinaus gereift. „Darf ich jetzt gehen, Mama?" „Ja, komm aber bald wieder!" Ivonne verließ das große Hotel, in dem sie fünf Wochen mit ihrer Mutter zur Traubenkur geweilt hatte. Langsam ging sie zum Quai hinab. Ihr Blick streifte die bewaldeten Abhänge von Glion. Wie bunt und schön alles aussah in der klaren Luft. In der deutschen Heimat Wehlen jetzt die Herbstwinde. Hier in Montreux war es noch warm und sonnig. Ivonne setzte sich auf eine Bank am Ufer. Sie fühlte sich müde. Trübe blickte sie vor sich hin. In zwei Stunden sollte sie der Schnellzug nach Norddeutschland führen, und Fritz Borchert würde mit ihnen reisen, um bei ihrem Vater um sie anzuhalten. Warum sträubte sie sich noch dagegen? Ja, wenn der andere ein entscheidendes Wort gesagt hätte! Oh, wie energisch hätte sie dann nein gesagt. Aber so hatte Zn letzter Stunde. Novelletts von Jlse-Charlotte Noack. „Brauchst du mich noch, Mama? Nein? Dann darf ich Wohl noch eine Stunde an den See gehen?" Frau Dr. Gerler legte sorgsam ein Samtkleid in den Koffer. „Meinetwegen! Wo ist dein Bräutigam?" Ivonne warf das feine Köpfchen in den Nacken. „Ver mutlich packt er seinen Koffer, übrigens bin ich noch nicht verlobt." „In einigen Tagen wirst du es sein." Ivonne setzte seufzend den Hut auf die schwarzen Haare. „Ja, leider." Ihre Mutter drehte sich mit der Lebhaftigkeit, die sie als geborene Französin bewahrt hatte, um. „Ich finde, du bist undankbar. Seit zwei Jahren reise ich mit dir in der Welt umher, um eine Partie für dich zu finden. Jetzt ist das Ziel erreicht, und nun seufzt du, anstatt dich zu freuen. Was hast du gegen Fritz Borchert?" „Nichts, als daß ich ihn nicht liebe." „Der Grund ist lächerlich Du warst zuerst sehr ent zückt von den beiden Borcherts; außerdem ist Liebe zum Heiraten nicht nötig." Ivonne streifte die langen Handschuhe an. „Du k ' doch selbst aus Liebe geheiratet, Mama, hast sogar dein Vaterland um Papas willen verlassen." Frau Gerler schloß den großen Nohrplattenkoffer und ihre Mutter recht. Es war gleich, wen sie heiratete, wenn I - der eine sie nicht wollte. „In Träume versunken, Fräulein Ivonne?« fragte eine tiefe Stimme. Das junge Mädchen schaute -"ötend auf. Dor ihr stand ein vornehm aussehender Mann, besten Haar an den Schläfen leicht ergraut war. „Sind die Koffer schon gepackt?" fragte er. Sie nickte. „Ich bin fortgelaufen, weil ich vom See Abschied nehmen wollte. Mama nennt das deutsche Senti mentalität.." „Ich werde morgen früh abreisen," sagte er. „Auch ich will noch eine letzte Stunde auf den bläulichen Fluten zubringen. Hätten Sie Lust, mit mir zu rudern?"- Sie schwankte. „Wird es nicht zu spät?" Er zeigte auf seine Uhr. „Sie werden znr rechten Zeit zurück sein. Wollen Sie?" Entschlossen stand sie auf und schritt neben ihm her zum Landeplatz. „Sie werden also nicht mit uns zusammen nach Deutschland fahren, Herr Borchert?" „Nein, Fräulein Ivonne, Sie werden sich auch ohne mich mit meinem Neffen verloben." „Allerdings!" sagte sie kühl. „Außerdem beginnt nächste Woche die Campagne in unserer Fabrik, zu der ich zurück ftin will." Sie nickte trübe. Ja, die große Zuckerfabrik, die Onkel und Neffe gemeinsam in der Provinz Sachsen besaßen, hatte ihre Mutter veranlaßt, sie zu der Verlobung zu be- reden. Sie nahmen ein Boot. Mit jungendlicher Gewandtheit sprang Borchert hinein und half ihr ritterlich beim Ein» steigen. Der Ruderer ergriff die Riemen und fragte: „0ü?" OKillon," sagte Ivonne hastig und errötete leicht. Langsam durchschnitt das Boot die blaue Flut. „Fritz wird hoffentlich nicht eifersüchtig auf seinen alten Onkel," scherzte er. „Sie haben ihm noch nie Grund dazu gegeben." Ihre Stimme klang wieder kühl. Sie schwiegen minutenlang. Dann sagte er: „Warum fahren wir nach Chillon? Weil Sie dort Fritz kennen gelernt haben?" „Vielleicht." „Sie sind heute sehr ungnädig. Vor vier Wochen, als ich Sie zum erstenmal in den Gewölben jenes Schlosses sah, glichen Sie einem lachenden Frühlingstage." „Wenige Stunden können ost einen Menschen ändern." Plötzlich verschwand der Ernst ihrer seinen Züge und machte einem Lächeln Platz. „Welche angenehme Erinnerung tauchte vor Ihnen auf?" fragte er. „Können Sie so gut in meinem Gesicht lesen?" „Manchmal. Als wir uns vor vier Wochen in Boni- vards ehemaligem Kerker trafen, sagte ich zu Fritz: „Sieh nur, die entzückende kleine Pariserin," denn Sie sprachen französisch mit Ihrer Frau Mutter. Da dichten Sie sich um, und aus Ihrem lachenden Antlitz erkannte ich sofort, daß Sie meine Worte verstanden hatten." „An jenen Augenblick dachte ich auch vor wenigen Minuten." „Es war der schönste Tag in Montreux." Sie vermied es, ihn anzusehen und blickte auf die Berge Savoyens, die in blauen Dunst gehüllt waren. Die Sonne -war im Untergehen begriffen. Sie zeich nete einen breiten, goldigen Streifen auf den See. über dem Rhonetal stand eine große Wolke. Düster ragten die Mauern Chillons aus dem Wasser. „Hinter uns liegt das Abendrot," sagte er gedanken voll, „und wir fahren ins Grau hinein. So sehen wir oft das Glück leuchten und müssen doch fern bleiben." „Sie wandte sich zu ihm. „Was ist Glück?"^fragte sie traurig. Er zuckte die Achseln. „Als ich mit meinem verstor benen Bruder die Fabrik gründete, erschien mir der Erfolg meiner Arbeit als höchstes Glück. Das habe ich längst er reicht, und doch war ich nicht glücklich. Ich verband einen anderen Begriff mit dem Wort; aber vor einiger Zeit er- fuhr ich, daß ich es nie erlangen werde." (Schluß folgt.)