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Druck und Verlag von I. Ruhr Nachf. Dr. Alban Frisch, Hohenstein-Ernstthal. Unterhaltungs - Beilage Mill Liebe Sorgen Roman Sie schlug die Augen auf, blinzelte in die Lichtstreifen hinein, die durch die Spalten der Herabgelaffenen Läden durchs Fenster kamen, und sah nach der kleinen, goldenen Uhr auf dem Nachttisch. Zehn Uhr vorüber! Ob man da noch weiterschlief? Vielleicht, daß der köstliche Traum, den sie soeben gehabt, dann weiterginge und sie in jene feffellose Welt führte, nach der sie sich so lange gesehnt. Frau Sigrid schloß die Augen und versuchte, den ver lorenen Faden zu ihrem Traumbild wieder in ihre Ge danken einzuspinnen. Es gelang ihr nicht. Von draußen, aus den anderen Räumen der Wohnung, kamen zu viel ablenkende Ge räusche. Schritte hallten, Türen gingen, und im Speise zimmer klirrte Porzellan und Silber. Wie laut es doch in so einer Berliner Mietwohnung war! Durch die Wände glaubte Sigrid sogar das Plät schern des Wassers im Badezimmer zu hören, wo Richard wohl gerade war. „Richard —" Da hatte Sigrid die Augen auch schon wieder weit geöffnet. Was war das gestern abend doch für ein langes Gespräch gewesen zwischen ihm und ihr? Der Traum ging ganz und gar verloren. „Ich darf jetzt nicht weiterschlafen," durchfuhr es die junge Frau. „Ich wollte ja heute vormittag zu Margot gehen und dann zum Rechtsanwalt. Und dieser Rechts anwalt Hai nur bis ein Uhr Sprechstunde, und mau muß doch endlich Schritte Mn, um dem haltlosen und peinlichen Verhältnis zwischen Richard und mir ein Ende zu machen." Mit einem Ruck erhob sich Sigrid. Ihr Hand suchte die elektrische Glocke. Als das Zimmermädchen kam und mit dem üblichen geflüsterten „Guten Morgen" die Jalousie in die Höhe zog, floß grell und gelb die Wintersonne in den eleganten Naum. Da lächelte Frau Sigrid. Es gab so viel Licht in der Welt und so viel Erfüllung! Sie wäre eine Törin gewesen, wenn sie da kleinlichen Vor stellungen spießbürgerlicher Verwandter nachgeben und in dem goldenen Käfig bei Richard bleiben wollte. Über haupt, wo alles so leicht und glatt war! Richard würde nach der Scheidung sofort die längst geplante Reise ins Ausland machen, und wenn er wiederkam, die Kinder in den Ferien und auch sonst bei sich sehen dürfen, so' ost er danach verlangte. Tu lieber Gott — allzu häufig würde die Sehnsucht dem nervösen Vater wohl nicht kommen. „Nein — das nicht!" sagte Sigrid aus ihren tiefen Gedanken heraus, als das Mädchen ein lichtblaues, spitzen- besetztes Morgenkleid über den Sessel vor dem Bett aus breitete. „Ich fahre gleich nach dem Frühstück aus. Das graue Tnchkostüm legen Sie heraus. — Ist die Friseuse da? Gut. Dann gehe ich erst ins Ankleidezimmer. Sagen E. Stramm. Nachdruck verboten. Sie der Köchin, daß sie in spätestens zwanzig Minuten das Frühstück bereit hält." Als Sigrid in das Ankleidezimmer trat, stand das Kinderfräulein neben der Friseurin am Fenster, und das Helle Lachen der beiden jungen Mädchen schallte durch das ganze Zimmer. Darüber ärgerte sich die junge Frau. „Das ist ja gerade, als ob Sie im Theater wären!" meinte sie tadelnd. „Haben Sie beide Kinder heute zur Schule gebracht, Fräulein?" „Ja — bereits um neun Uhr, gnädige Frau." „Und im Salon Staub gewischt?" Das Kinderfräulein preßte mit leisem Kopfschütteln die Lippen aufeinander. „Also, bitte!" sagte Frau Sigrid kurz. „Um zwölf Uhr wird's sonst wieder eine Hetzjagd mit dem Abholen der Kinder." Das junge Mädchen ging rasch aus der Tür, während die Friseurin zu Kamm und Bürste griff. — Als Sigrid nach kurzer Zeit fertig angezogen in das Speisezimmer trat, saß ihr Mann bereits am Tisch und frühstückte. „Guten Morgen," sagte sie ironisch. Er blickte flüchtig auf, löffelte sein Ei, und sagte ebenso ironisch: „Guten Morgen." Dann aßen und tranken beide Ehegatten eine Zeit lang, ohne sich umeinander zu kümmern. Sie hatten sich ja schon lange nicht mehr viel zu erzählen. Ihre Inter essen gingen zu weit auseinander. Nur in dem einen Punkt stimmte alles Tun beider überein: die Zinsen des großen Vermögens, das beide mit in die Ehe gebracht, auf die amüsanteste Art und Weise zu verbrauchen. Es fiel nicht schwer in Berlin, wahrhaftig nicht, vor allem verstand Richard Hallinger es gut, sich das Leberr so an genehm wie möglich zu machen. Er fragte gar nicht mehr, ob Sigrid dieses oder jenes auch für richtig fand, er tat es einfach. Sie hätte ja auch alles tun können, was ihr gefiel, ohne ihn zu fragen. Sie war ihr freier Herr, wie Richard ihr jederzeit erklärt hatte. Aber sie achtete diese Freiheit nicht als solche, solange das Gesetz sic noch an ihren Mann und sein Haus band. Ihre Sehnsucht lief schon lange, lange den Weg voraus, den sie nun gehen würde. Was hinderte denn sie und ihn an der Scheidung, wenn beide ihren eigenen Weg gehen wollten, um glück lich zu sein? „Hast du Doktor Sprenger angeklingelt?" fragte Sigrid endlich. Er sah gar nicht auf von seiner Zeitung. „Ja," sagte er. „Er erwartet uns zwischen zwölf und ein Uhr." Die Brust der schönen Frau hob sich mit einem tiefen Atemzuge. In dem Gefühl, vor Ser Pforte eines neuen, interessanteren Lebensabschnittes zu stehen, kam eine leichte Wärme in ihren Ton. „Ich bin dir sehr dankbar, Richard,