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Jede Wiener Familie hat mindestens vierzig Mehlspeisen- I rezepte, die sie in besonders guter Qualität herstellt und » auf die jede Hausfrau stolz ist. ! Die Abwechslung und die Reichhaltigkeit der Gerichte I in der Wiener Mehlspeisküche bilden einen scharfen Gegen- ß satz zur Monotonie in den Fleischspeisen. Der „Strudel*, » auf dessen kunstgerechte Zubereitung die Wiener Köchin ! sich beinahe am meisten etwas einbildet, weist allein zwanzig I verschiedene Arten auf, unter denen die beliebtesten der j Apfelstrudel, derRahmstrudel,derTopfen(Milchkäse-)strudel, ; der Nuß-, der Kraut- und der Griesstrudel sind. Haupt- » fache dabei bleibt immer, daß der Teig so sein über einem > Tischtuch mit gewandten Fingern ausgezogen wird, daß ß man eine daruntergelegte Zeitung leicht durchlesen könnte. ; Das trifft nicht jede „perfekte" Köchin. Auch der Butter- » teig gehört zu den Meisterleistungen, und die feinen I Köchinnen lassen sich nicht gern bei dessen Zubereitung zu- > schauen; wer immer einen guten Butterteig zusammen- ; bringt, hat vor den andern etwas voraus. Mit Äpfeln » oder Eingesottenem gefüllt, als Strudel oder Kranz, I Kipfel oder Pastetchen, Stängeln oder Schnitten gehört der I Butterteig zum Auserlesensten, was die Wiener Küche ; aufweist. Wie leichten Herzens sich die Wiener Köchin (sie ist I meistens eine Böhmin) an die schwierigsten Aufgaben der I kulinarischen Kunst macht, beweisen die schlichten, fami- I liären Bezeichnungen, die man in Wien den Speisen gibt, ! die auf französischen „Menüs" mit den elegantesten Fach- I ausdrückcn belegt werden. So heißt das anerkannt schwer I herzustellende „Souffle" in Wien gut bürgerlich Koch. ! Nahmkoch, Cremekoch, Schaumkoch, Zitronen-, Vanille-, ! Mandel- und Marillen(Aprikosen-)koch, auch Auflauf ge- I nannt, sind Mehlspeisen, die dann gemacht werden, wenn » zu etwas Kompliziertem nicht genug Zeit vorhanden ist. ! Eine Ausnahme macht der „Schmankerlkoch", zu dem man ! ein Rindsmus (feingehacktes Rindfleisch) in der Röhre I backen muß, und der deshalb mehr Zeit erfordert als das » in einer Viertelstunde leicht hergestellte gewöhnliche Souffle. ! Zu den schnellen Mehlspeisen, die sozusagen im Handum- ! drehen gemacht sind, gehören die „Schmarren", die aus l den Almhütten ihren Weg nach Wien gefunden haben, und > die nichts weiter sind als in der Pfanne zerhackte Omeletts. » Der Kaiserschmarrn und Griesschmarrn werden in Wien ! am Waschtag gemacht, und es wird dazu verdünnter I Powidl (Pflaumenmus) serviert. Powidl gehört zu den » allerwichtigsten Erfordernissen der Wiener Mehlspeisküche. » Was in Wien aus Teigfleckerln und Nudeln bereitet i wird, ist schier unglaublich. Obenan stehen die berühmten I Schinkenfleckerln, eine der beliebtesten, aber auch sättigend- ; sten Wiener Speisen. Beinahe ebenso schmackhaft, aber ; noch schwerer verdaulich ist die aus Ungarn stammende » Haluschka. Dann gibt es Nudeln mit Mohn, mit Käse, I mit Gries, Krautfleckerln, Holzhackernockeln, Milchrahm- ' nockeln, Wasserspatzen, abgeschmalzene Fleckerln und die ' nützlichen, jedem Hunger gewachsenen Erdäpfelnudeln. Die aus Lem Schmalz gebackenen Mehlspeisen werden i bei den hohen Preisen des Fettes seltener gemacht als . früher und sind auch deshalb nicht sehr beliebt, weil es ! schwer ist, den Geruch des Backens von den Wohnräumen I fernzuhalten. Beim Krapfenbacken läßt man sich so etwas j schon gesallen, sonst aber wird höchstens eine Ausnahme . für „Spritzkrapfen" oder „Schneeballen" gemacht. Die ! „Polsterzipfln", „Hasenöhrln", „Mäuse" und „Schnürl- t krapsen" kommen allmählich ab. Damit sind die spezifischen j Wiener Mehlspeisen noch lange nicht erschöpft. Außerdem - hat sich aber die Wiener Küche auch Lie guten französischen ! und englischen Puddings zu eigen gemacht und bildet sich l sehr viel auf ihren großen Tortenreichtum ein, an dessen I Spitze sie die wett über ihr Verdienst gerühmte „Sacher- > torte" und die neuere, wirklich ausgezeichnete „Pischinger- ! torte" stellt. Das Rezept der letzteren gilt noch als Ge- I heimnis und sei deshalb hier mitgeteilt. Ein Achtel Kilo- ß gramm Butter und ebensoviel in der Osenröhre erweichte ; Schokolade werden genau vermengt und damit werden - sieben Karlsbader Oblaten wie Butterbrote bestrichen, I diese genau aufeinandergelcgt und die oberste mit einer I unbestrichenen Oblate zugedcckt. Tas Ganze wird dann ; mit einem Schokoladenguß überzogen. Die Torte hält sich » wochenlang, ohne von ihrem Wohlgeschmack einzubüßen. I I Wiener Mehlspeisen. ; Von Bettina Wirth. Ein weiter Begriff, ein Sammelname für all die guten I Dinge, die Wien den verschiedenen Völkerschaften abgeguckt ; hat, die sich seit langer Zeit in seinen Mauern ein Stell- » dichein geben, die dem Wiener aber so sehr zum Bedürfnis I geworden sind, daß er unter allen Großstädtern derjenige ist, I dem die heimische Kost am meisten abgeht, wenn er ins ; Ausland muß. Daß der Wiener an der fremden Kost » wirklich erkranken kann, ist eine oft beobachtete Tatsache. I Ein hoher Beamter, der im Auftrag feiner Regierung vor I ein paar Jahren nach Paris zu einem Kongreß reisen i mußte, kehrte in bedauerswertem Zustand nach Wien » zurück; alles deutete auf einen im Anzug begriffenen I Typhus hin — der Mann fieberte, war tief deprimiert I und so schwach, daß er sich kaum vom Eisenbahnabteil zum I Wagen schleppen konnte. Man rief den Arzt, einen echten, " alten Wiener, den kürzlich verstorbenen Andreas von I Hüttenbrenner. Er untersuchte den Patienten gründlich, I ließ sich ausführlich berichten und faßte dann die Diagnose ! in die Worte zusammen: „Gönnen Sie sich etwas Ruhe; ! unterdessen soll man Ihnen Rindfleisch, Knödel und Dülln- I sauce kochen und noch eine leichte, süße Mehlspeis'. Ver- I hungert sind Sie bei der feinen französischen Küche —, das ! kennen wir schon. Es geht vielen Wienern so." Tie ! Diagnose war richtig. Schon bei den vertrauten Lauten I „Knödel und Düllnsauce" leuchteten die Augen des Pa- I tienten, und nachdem das Rezept ausgeführt und ange- ! wendet worden war, setzte die Besserung ein und nahm ! ihren normalen Lauf. Ja, die Wiener Mehlspeisen! Sie ermöglichen es der » Wiener Hausfrau, jahraus, jahrein für den Mittagstisch ! mit einem kleinen Stück Rindfleisch für die ganze Familie ! ihr Auskommen zu finden. Dadurch kann sie eine kräftige l Suppe Herstellen, die immer eine gute Einleitung zur > Hauptmahlzeit des Tages ist. Weder Erwachsene noch » Kinder bekunden ein großes Interesse an Fleisch und ! „Zuspeis". Dagegen ist immer schon heimlich gefragt I worden: „Was gibt's für eine Mchlspeis'?", und wenn die > Antwort befriedigend lautete, dann wurde der Appetit » dafür aufgespart. Ten unbestritten ersten Rang unter all den appetit- I lichen Gerichten, deren Aussehen noch durch den Dust über- ' troffen wird, den sie verbreiten, nehmen die „Faschings- ; krapsen" ein. Sie kommen nur in Len zwei Hauptwinter- > monaten Januar und Februar auf den Tisch und bewahren I sich vielleicht durch die Seltenheit ihres Erscheinens ihr ; außerordentliches Prestige. Wenn auch nur die Haus- ; srau und die Köchin in die Geheimnisse ihrer Zubereitung > eingeweiht sind, ein Urteil über das „Gcrarenseiu" traut sich I jedes Familienmitglied zu. Nicht zu groß, nicht zu braun, ! aber ja nicht zu blaß müssen sie sein, und jeder muß um ; seine Mitte das berühmte weiße „Nanftl" haben, womit I er den Nachweis liefert, daß er nicht schwer und nicht bis I zur Hälfte ins siedendheiße Schmalz eingesunken ist. Der Sommcrregent, der Liesen Winterkönig ablöst, ist ; der Zwetschenknödel, der, solange frische Zwetschcn auf i Lem Markl erscheinen, in ungeheuren Mengen verzehrt I wird. Der Fremde gewöhnt sich nur langsam an diese ! Nationalspeise, die aus Kartosfclteig und Semmelbrüseln ; bereitet und reichlich mit zerlassener Butter übergossen unv i mit Zucker bestreut wird. Weil es die Wiener im Sommer I kauni erwarten können, bis die ersten Pflaumen reif ! werden, behelfen sie sich mit Kirschen- und Aprikosen- i knödeln, die auch mit Appetit verzehrt werden; aber das i Richtige ist es nicht — erst der Zwetschenknödel befriedigt I vollständig. ! Von lieblichstem Duft und herzerhebendem Anblick ! sind die eigentlichen Germ(Bärme-)speisen. Der über- > zuckerte, gut aufgcgangene Gugelhupf (Napfkuchen), der I den hübsch gedeckten Jauscntisch ziert oder an Namens- , tagen sogar schon beim Frühstück erscheint, die eben aus i der Rein (Pfanne) gestürzten, ausrinandergebrochenen t „Buchtln" mit ihrer knusprig braunen Rinde, der j „Striezel" mit seinen geflochtenenZöpfen, das Erdäpsel- » brot, das seine Vollkommenheit nur erreicht, wenn es zum » Bäcker geschickt wird, das find alles Speisen, deren Erinne- I rung das Heimweh des Wieners in der Fremde vermehrt.