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I weiter. Was wir bis jetzt wiffen, gibt uns leider keine » Handhabe, um in irgendeiner Weise einschreiten oder gar ! die Hilfe des Gerichts in Anspruch nehmen zu können. I Aber wir müssen die Spur weiterverfolgen. Für die Zu- kunft heißt es die Augen offenhalten. Eines ist sicher, » der Brief, der dem Toten unzweifelhaft abgenommen ! worden sein muß, war derartig wichtig, daß der Mann, I den wir alle im Verdacht haben, an der Beseitigung dieses j Briefes ein Interesse haben mußte. Noch deutlicher ge- » sprachen: Der Brief, den der verstorbene Schloßherr an » mich durch Fedor geschickt hat, enthielt nichts Geringeres I als Lie Herrn Viktor von Poranski angedrohte Enterbung, j Und weiter: Der Brief ist dann durch Zufall oder durch » ein Verbrechen in die Hände einer oder mehrerer Per- ! sonen gekommen, die ihn vielleicht beseitigt oder ver- I nichtet haben." Der Arzt schüttelte wieder den Kopf. „Das sind doch nur Hypothesen, die gar nicht zu be- > weisen sind," meinte er ärgerlich. „Wollen abwarten," sagte der Notar lebhaft. „Du I weißt, daß ich kein Phantast bin, dazu ist mein Beruf zu i trocken, übrigens braucht hier nicht einmal, wie ich schon » sagte, ein Verbrechen vorzuliegen. Ist es denn nicht Lenk- I bar, daß der alte Fedor durch Drohung oder durch Be- j ftechung dahin gebracht wurde, Herrn Viktor von Poranski ; oder seinem Helfershelfer Len Brief auszuliefern? Und ' dann verunglückte er auf dem Heimwege. Vielleicht hat I das Gewissen ihm geschlagen und er hat auf den Weg I nicht geachtet?" „Und der Zwischenfall mit Lem Geldschrank?" fiel ! Jedlinski ein. „Messen Sie dem keine Bedeutung Lei?" Der Notar zuckte die Achseln. „Das Berschen ist allein I von mir in meiner Aufregung begangen worden. Und an , Ler vorzeitigen Öffnung des Schrankes hatte doch nie- ! mand ein Interesse." „Ihre Ansicht befremdet mich," entgegnete Jedlinski ' bitter. „Wie, wenn jemand in dem Schranke wichtige » Papiere, die meine Person betrafen, vermutete, oder ! wenn das Schloßfräulein auf Len Gedanken gekommen I wäre, nach Papieren zu suchen, die sich auf ihre Ver- > gangenheit beziehen?" Der Notar war aufgesprungen und ging mit hastigen i Schritten im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er vor l Jedlinski stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Mit all unserem Scharfsinn," bemerkte «r, „kommen I wir nicht weiter. Tatsachen müssen wir haben, Tatsachen! i Wir müssen zunächst feststellen, wo der Hund geblieben ist, I Ler Fedor begleitete. Wir müssen Zeugen ausbringen, ! die genau bekunden, ob Fedor einen Brief bei sich führte. I Und was Lie Angelegenheit mit dem Schranke betrifft, i so müssen wir uns vor allen Dingen darüber Gewißheit ! verschaffen, wie der neue Schloßherr und Fräulein An- ! nuschka miteinander stehen." „Wie sollen wir das ermitteln?" fragte Jedlinski l niedergeschlagen. „Lassen Sie das meine Sache sein!" sagte der Notar . aufmunternd. „Ich habe meinen Plan, den ich Ihnen I anvertrauen will. Ich bringe einen tüchtigen Detektiv l nach Chmilowo, der klug und geschickt genug ist, um unter I der Maske eines Schloßbeamten unerkannt sür uns zu > wirken. Das einfachste wäre es natürlich, Herr Jedlinski, ! wenn wir den letzten Bries Ihres Waters in die Hand be- I kommen könnten, in dem Sie wahrscheinlich zum Erben I eingesetzt wurden. Damit ist aber leider nicht zu rechnen, ' La dieser Brief, wenn er überhaupt je geschrieben wurde, I wohl längst vernichtet ist. Die Hauptaufgabe des Detektivs S wird es also sein müssen, die Papiere über Ihre legitime I Geburt zu beschaffen. Sollten sich diese Dokumente finden, i dann wären Sie wenigstens der rechtlich anerkannte Nach- ! folger Viktors im Majorat." „Wenn sich die Papiere im Schrank befanden, dann j sind sie längst vernichtet." „Das ist durchaus nicht anzunehmen," fiel Herrn Jed- « linfli Ler Notar ins Wort. „Falls der Gcldschrank wirklich I widerrechtlich geöffnet wurde, so könnte Loch, wie ich nun I glaube, nur Fräulein Annuschka als Täterin in Frage » kommen, und wie ich sie kenne, würde sie sich hüten, ein » so wichtiges Geheimnis aus den Händen zu geben. Sie I ist klug genug, um zu erfassen, Laß der Besitz der Papiere eine surchtbare Waffe ist, mit der sich das ehrgeizige Mäd- j chen die dauernde Herrschaft über Viktor von Poranski » sichern kann. Wissen Sie denn nicht, daß zwei Menschen, ! die durch eine Schuld aneinandergekettet sind, sich innerlich I als Feinde gegenüberstehen? Aus diesem längst erprobten z Erfahrungssatz ziehe ich als Jurist den Schluß, daß An- > nuschka die Papiere weder vernichtet noch an Viktor von » Poranski ausgeliefert hat — vorausgesetzt natürlich, daß j unsere Annahme von der heimlichen Öffnung des j Schrankes und der Entwendung der Dokuments über- » Haupt zutrifft." Stanislaw Jedlinski sah den Notar mit dankbarem l Blick an. „Der heutige Tag hat mir eine bittere Enttäuschung » gebracht," sagte er, indem er sich erhob. „Nun aber be- ' ginne ich wieder Mut zu fassen." „Sie haben keinen Grund zum Verzweifeln," er- j widerte der Notar warm, indem ex dem jungen Mann > freundlich die Hand schüttelte. „Morgen fahren wir nach ! Bninki zur Übergabe des Gutes. Sie werden in dem Ver- i Walter einen erfahrenen Mann kennenlernen, der Ihnen j in mancher Beziehung von Nutzen sein kann. Alles übrige » überlassen Sie getrost der Zukunft und Ihren, klaren ! Blick. Und du, lieber Dubois," wandte sich der Notar an I den Arzt, der sich gleichfalls erhoben hatte, „laß dir unsere j heutige Erörterung noch einmal durch den Kopf gehen, > denn wir müssen alles noch einmal genau besprechen, ehe ! ich meinen Detektiv in unsere Dienste stelle." Achtes Kapitel. In Chmilowo war das Leben wieder in die alten ! Gleise zurückgekehrt. Viktor von Poranski hatte seine > Mutter gebeten, ihre Wohnung in Lemberg aufzugeben j und mit feiner Schwester ganz nach Chmilowo überzu- > siedeln. 'Sie hatte es abgelehnt, sich aber entschlossen, ! wenigstens einige Wochen mit ihrer Tochter auf Lem Gute « zu verbringen. Frau von Poranska stand ihrem einzigen Sohne fast . fremd gegenüber. Er war nicht nur äußerlich seinem ! Vater ähnlich, der in das Leben dieser seelisch tief veran- l lagten Frau ein Übermaß von Bitterkeit gebracht hatte, > sondern auch in seinem ganzen Charakter glich er feinem l leichtfertigen Vater. Eine durchaus oberflächliche Natur, ! die jeder ernsteren Beschäftigung abgeneigt war, be- ! trachtete er das Leben nur als eine Kette ständig wechseln- j der Vergnügungen. » Wiederholt hatte Fran von Poranska versucht, Vckwr l von seiner unseligen Leidenschaft für das Spiel, die schon > seinen Vater zugrunde gerichtet hatte, zu heilen. Aber j ihre ebenso eindringlichen wie herzlichen Vorstellungen > hatten niemals auch nur den geringsten Eindruck auf ihn ! gemacht. So sah sie auch jetzt voraus, wie sich Lie Dinge i auf Chmilowo in einiger Zeit entwickeln würden: jeden j Tag Jagdgäste, abends ein Trinkgelage und dann Lie > Karten. Nein — diese Art von Leben wollte sie durch ! ihre Anweseicheit nicht noch decken. Sie verstand es sehr i gut, daß ihr verstorbener Schwager Vorsorge getroffen § hatte, daß der Besitz und das Kapital, das er hinterlassen - hatte, nicht angeiastet werden konnten. So war wenigstens i der Möglichkeit vorgebeugt, daß das Majorat durch den l Leichtsinn Viktors zugrunde gerichtet werden konnte. , * » * Fran von Poranska und ihre Tochter lebten auf dem . Schloß sehr zurückgezogen und waren fast den ganzen Tag I sich selbst überlassen. Nur die Hauptmahlzeiten nahmen j sie mit Viktor gemeinsam ein. s Gleich am ersten Tage nach Lern Begräbnis war es » Frau von Poranska ausgefallen, daß zum Diner vier Ge- i decke aufgelegt wurden. Sie nahm an, daß der Propst j oder der Oberinspektor zum Essen hinzugezogen werden » sollte, und war überrascht, als Annuschka an Ler Tafel » Platz nahm. Die alte Dame beobachtete ihren Sohn und das junge f Mädchen mit dem scharfen Auge Ler sorgenden Mutter. « Sie hatte nichts herausgesunden, was den in ihr auf- « tauchenden Verdacht bestätigt hätte. Aber mit dem feinen j Instinkt der Frau fühlte sie doch, Laß es nicht richtig war, wenn dieses Mädchen, das durch die Erbschaft unabhängig » geworden war, weiter im Hause blieb. (Fortsetzung folgt.)