Volltext Seite (XML)
Hchmstein-Ernsühaler TlgeblMMLMM Nr. 230 Freitag, den 2. Oktober 1925 2. Beilage AN Wkll KMt! Humoreske von Jacques Burg In der Gegend von Hannover und Bremen liegt ein freundliches Städtchen. Wir wollen es Virkenbostel nennen. Es wäre auf etwa 30 000 Seelen zu schützen. Die geschätzteste von diesen Seelen war die Apothekerswitwe Pöhlke: edel, hilfreich und gut — ungemein beliebt bei den Damen des Sonn abendkränzchens. Die Frau Pastor hatte schon unzählige Male von ihr behauptet: „Unsere Pöhlke ist doch ein leibhaftiger Engel!" Die Dienstmädchen der Frau Apotheker be haupteten das zwar nicht; aber manchmal hielt es doch eine fast ein halbes Jahr bei ihr aus. Alles in allem — eine schöne Frau! Innerlich schön; von der Außenseite braucht man daher nicht zu reden. Die innere Schönheit war weithin sichtbar; sie klebte an ihr, wie Stuckverzierung an der Zimmerdecke eines alten Hauses. Daß der Stuck abzubröckeln anfing, merkte niemand — ausge nommen höchstens die FraN Amtsrichter Voges, die sich eines unheimlich durchdringenden Krimi nalistenblickes erfreute. Immerhin wußte auch sie nur, daß etwas bröckelte. Wo und wie konnte sie nicht entdecken. Es war zunächst nur ein ganz geheimer Riß, und den hatte Cäcilie verschuldet; Cäcilie, Frau Pöhlkes Nichte, die mit ihren Eltern in München lebte. Die Tante hatte das Mädchen von Ange sicht zu Angesicht nur einmal gesehen — bei oer Taufe; in ihr schwarzes Herz geblickt hatte sie erst aus weiter Entfernung, nach Cäciliens Einsegnung. Im Dankbrief für das Konfir mationsgeschenk schrieb das Mädchen unter anderem: „... Und dann muß ich dir noch mitteilen, liebe Tante, daß die Eltern mir endlich meinen Willen lassen: Ich werde Tänzerin! Wenn du mal etwas von Cie Lie lesen wirst — das bin ich!"... Eine tanzende Nichte — und wenn's die heilige Cäcilie war — in Virkenbostel durfte das nicht ruchbar werden? Nach Ueberwindung des ersten Nervenchoks mußte sich Frau Apo theker deshalb entschließen, das Mädchen zu be seitigen — nach und nach — teelöffelweise. In allerhand Fortsetzungen eines selbster fundenen Romans hatte Frau Pöhlke schließlich den Schandfleck der Familie nach Argentinien geschafft, dort drüben verheiratet und dann nach Jahresfrist mit einem gesunden Töchterchen beschenkt. Um unter gesenkten Wimpern ihr böses Ge wissen verbergen zu können, machte Frau Pöhlke seit der Zeit andauernd Handarbeiten: Kknder- rleidchen, Wollschals und andere nützliche Dinge — für Wohltätigkeitsbazare. Als die Apo thekerin aber den Auftrag erhalten konnte, für drei Mark das Stück dreißig Strickwesten einem Hannoverschen Geschäft zu liefern (Diskretion war zugesichert), übernahm sie gern die Arbeit und gab die Wohltätigkeit auf. Nun sahen die verwunderten Birkenbost- lerinnen unter den Händen der fleißigen Frau Pöhlke unausgesetzt die gleichen, angeblich für den Kriegswitwen-Unterstützungsfonds bestimm ten Westenmuster entstehen — alle spinatgrün mit eidottergelber Einfassung. Und nach Ab lieferung der dreißig kam postwendend eine Nachbestellung der Firma Daniels L Co. in Hannover aus noch siebzig Westen vom gleichen Muster. Nach Eingang der ganzen Kollektion sollte Honorierung für alle hundert zusammen erfolgen. Hundert spinatgrüne mit Eidotiergelb! Nicht auszudenken! Geschweige denn, auszuhalten! Den Kränzchendamen wurde es vom bloßen Zu- schauen bereits grün und gelb vor den Augen, bis die Frau Amtsrichter fragte: „Liebe Frau Pöhlke — die Kriegswitwen sollen wohl uniformiert werden?" Dabei lag in ihrem halbzugekniffenen linken Auge ein Ausdruck, wie: „Ich traue den Frieden nicht! Dahinter steckt etwas!" „Die letzten fünfzig gehen nach Argentinien", parierte die Apothekerin mit rasch erfundener Ausrede den Hieb. „Nach Argentinien?" „Ja — meine Nichte Cäcilie steht dort an der Spitze von wohltätigen Vereinen. Sie bekleidet unter anderem mittellose eingewanderte' Frauen. Damit keine bevorzugt wird, bekommen sie alle das gleiche Muster." Gegen die Logik war nichts einzuwenden. — Etwa zwei Wochen später hatte Frau Pöhlke Geburtstag. Sie feierte ihn ohne Handarbeit; denn Daniels L Co. waren glücklich beliefert worden. Die Gratulantinnen füllten das blumengeschmückte Wohnzimmer, als der Post bote erschien. „Ein schönes Geschenk, Frau Apotheker", sagt er freudestrahlend, „eine Postanweisung über dreihundert Mark!" Frau Pöhlke erblaßte. Daniels L Co. hatten ihre Zusage, das Geld diskret zu überweisen, vergessen! „Von Wem? Woher?" schwirrten die Fragen der Damen durcheinander. „Ach — gewiß — gewiß — aus Argentinien", stotterte die Apothekerin verwirrt. Aber der Postbote verbesserte: „Nein — von Daniels L Co. aus Hannover." Frau Pöhlke nahm rasch den Postabschnitt und sagte mit Nachdruck: Ja, von einem Bankier aus Hannover — aus Argentinien überwiesen! Meine Nichte schrieb mir schon, die Argentinier ließen sich nichts schenken; das wären noch richtige Spanier — und die Spanier sind bekanntlich sehr stolz. Nun honorieren sie meine Handarbeiten so anständig." Frau Amtsrichter Vogel kniff abermals das linke Auge zu: „Pränumerando?! Merkwürdig. Vor Weihnachten können Ihre Westen doch gar nicht da sein!" „Nicht wahr? Merkwürdig", antwortete die Frau Pöhlke scheinbar unbefangen. „Amerika ist eben das Land der Wunder." „Lassen Sie sich jedenfalls von diesen Aus ländern nicht beschämen", schlug die Frau Pastor vor, „spenden Sie die dreihundert Mark für unsere Armenspeisung oder für das Säuglings heim." Das überhörte Frau Pöhlke und führte lieber den Postboten, der eine Flasche Bier und ein Butterbrot bekommen sollte, persönlich in die Küche. — Gewiß hätten jetzt die Damen, ganz unter sich, mancherlei getuschelt, wäre nicht ihre Aufmerksamkeit abgelenkt worden: Durch die nur angelehnte Tür des Vorplatzes war nämlich eine fremde junge Dame im Neisekostüm einge treten, und dieser Ankömmling eilte sofort mit ausgebreiteten Armen auf die Frau Amtsrichter los, indem sie laut beteuerte: „Du bist dem Papa wie aus dem Gesicht ge schnitten! Unter Tausenden würde ich dich er kennen!" „Mein Gott — mein Gott — wer sind Sie denn?!" keuchte Frau Voges, von den Umar mungen fast erstickt. „Ich? — Cäcilie!" „Cäcilie?" „Ja — deine Nichte!" „Sie verwechseln mich — ich habe keine Nichte." „Ach, so — dann kannst nur du es sein!" (Nun wurde die Pastorin zum Gegenstand der Umarmungen). „Natürlich — du siehst ja dem Papa auch noch viel ähnlicher! — Na, was sagst du zu der Ueberraschung? Weil ich so in der Nähe war, wollte ich dich aufsuch > Ich geh« nämlich auf meine erste Tanz-Touruee." ;,Tanz-Tournee?!" „Morgen fahre ich über Bremen nach Argen tinien." „Ar—gen—tinien?!" Alle Damen rissen die Augen weit auf; nur die Amtsrichterin kniff ihr linkes erst recht „Sie kommen eben erst von drüben — und wollen gleich wieder zurück?" „Bis jetzt bin ich noch nie dagewesen." „Ja — haben Sie denn hier Ihrem Km..);n nicht das Leben geschenkt?" „Ich habe auch kein Kind!" „Sie irren sich!" „Ja — wenn Sie's besser wigen", lachte Cäcilie. „Aber das Geburtstagsgeschenk will ich darüber nicht vergessen. Das habe ich gestern auf der Durchreise in Hannover erstanden." Aus einer Seidenpapierumhüllung brachte sie etwas zum Vorschein — etwas Spinatgrüne» mit eidottergelber Einfassung — eine von oen Hundert! „Die — kann man — kaufen!" entrang sichs der bis dahin sprachlosen Pastorin. „Gewiß. Bei Daniels L Co. Der hatte ge rade siebzig Stück davon erhalten. Es werden noch genug da sein." Nun ging allen Damen ein Licht auf, und nachdem die Frau Amtsrichter — jetzt als Frau Untersuchungsrichter — einige weitere spitz findige Fragen an Cäcilie gerichtet, war jeder Winkel der Frau Pöhlkeschen Geheimnisse durch leuchtet, und die Tante für Virkenbostel ebenso unmöglich wie die tanzende Nichte! Als die Frau Apotheker aus der Küche zu rückkehrte, ergriff die Pastorin das Wort, indem sie auf Cäcilie deutete: „Sie haben lieben Besuch bekommen. Ich darf Sie wohl mit Ihrer Nichte Cäcilie bekannt machen, über die Sie scheinbar nicht ganz richtig informiert waren: Sie hat bis jetzt weder in Argentinien gelebt noch ist sie dort verheiratet, noch einem Töchterchen das Leben geschenkt! Sie tritt erst morgen eine Reise dorthin an; und der Zweck dieser Reise ist — eine Tanz-Tournre! Bei Daniels L Co. in Hannover, wo kürzlich siebzig spinatgrüne Westen eingetroffen sind, hat sie Ihnen — zur Erinnerung an Ihre Arbeit zu wohltätigem Zweck — eine von jenen Westen gekauft! — Wir können das Muster nicht mehr sehen und werden daher Ihr Haus künftig meiden!" Atte Damen verschwanden im Vorplatz. Frau Pöhlke, total gebrochen, hatte nicht die Der Herr im Hanfe Humoristischer Roman § von Heinrich Vollrath Schumacher Copyright 1916 by Greinex L Comp., Berlin W. 80 2s (Nachdruck verboten). „Aber was hast du denn, Junge?" rief der Alte erstaunt. Werners Augen blitzten und seine Stimme zitterte. „Ich bitte dich, Vater," stieß er heraus, „sprich in meiner Gegenwart überhaupt nicht mehr von dem Freiherrn! Es regt mich jedes Mal so auf, da ich . .. Er vollendete nicht, sondern stürmte hinaus. Gleich darauf sah Josias ihn mit großen Schrit ten und gestikulierenden Händen über den Hof nach der Mühle eilen. Vor Abend würde er nicht mehr zum Vorschein kommen. „Merkwürdig!" brummte der Alte vor sich hin. „Wie er den da drüben haßt! Und soviel ich weiß, hat der ihm doch gar nichts zu Leide getan! Na, ja, mein Junge!" Doch die Agitation! Hm! Wiedas anfangen? In den großen Zeitungen hatte wohl einmal bei Gelegenheit derartiges gestanden, aber das hatte nur von Städtern gehandelt. Und Bauern- struwelköpfe mutzten anders bearbeitet werden, wie Städterglatzen. Grübelnd legte er sich in ein Fenster und schaute auf den Dorfplatz hinaus. Eine heillose Wirtschaft! Vor vier Tagen hatte es geregnet, und nun stand das Wasser noch immer in den tiefen Löchern. Schuhmacher Bolzes Gänse schnatterten auf dem Brunnen, und Bauer Kerstens Schweine schnupperten um den brennenden Ge- meindebackosen. Und natürlich! Um ein Haar wäre die eben um die Ecke biegende Postkutsche in Schankwirt Rucks frischgescheuerte Wirtschafts bänke gefahren, die zum Trocknen mieten auf der Straße standen. Wer trug Schuld an dieser Verwahrlosung? Einzig und allein Rochus, Freiherr von Nohnsdorff, mit seiner guten, alten Zeit! Und wer hatte die Verantwortung dafür, daß Schneider Mertens wieder wie gewöhnlich durch die weitgeöffneten Fenster seiner Werkstatt das entsetzliche, blutige Lied auf den Platz hin ausschmetterte? Dieses Lied der ersten franzö sischen Revolution, die Marseillaise! „Alphons sang: Fang', Ellamarie Die Schuh'. Doch Clara rief: Oh weh!" Die Verantwortung lag bei Rochus, Frei herrn von Rohnsdorff! Hatte er Schneider Mer tens in einer Cemeinderatssitzung nicht das Wort entzogen, obwohl dieser in seiner mit der Schöpfung der Welt beginnenden Rede über die Neuanschaffung einer Schützenfahne erst bis zur Entdeckung Amerikas gelangt war? Schneider Mertens hatte vollkommen Recht gehabt, infolgedessen Sozialdemokrat zu werden, und sich von Litte Rohnsdorff die Marseillaise vorbuchstabieren zu lassen, bis er sie auswendig wußte. Redefreiheit für alle! Oh, wenn Josias Lucknow erst Gemeindevor steher von Hohenbüch sein würde! Doch die Agitation — ein schwerer Gedanke! Brummend wollte er sich aus dem Fenster zurückziehen, als drüben aus der Schänke Rös chen Ruck trat, um die Bänke hereinzuholen. Mit kräftigem Schwünge hob sie die größte derselben hoch über ihr Haupt. „Ein Kernmädel!" schmunzelte Josias. „Wer die einmal bekommt, — natürlich! Da ist er schon, der Windhund!" Der Wkndhund kam mit zierlichen Schritten quer über den Platz. Keller, der Sohn des ver storbenen Gemeindevorstehers Ketter, das Genie von Hobenbüch. Schon von weitem hob er zum Gruß den hohen, weitzgrauen Filzzylinder von seinem sorgfältig frisierten Haupt, um sich dann mit der Hand wohlgefällig über die flachsblonden Bartkotelettes zu fahren, die ihm den Namen „Der Engländer' eingetragen hatten, während er Mit der Linken das Werkzeug seines Berufes, den ledernen Barbierkasten, voll Emphase gegen seine Brust drückte. „Ah, Mademoiselle Rose!" rief er. „Welch Glück, very beautiful, daß ich Sie treffe! Leider war ich gestern Abend verhindert, zu kommen, parole d'honneur!" Sie richtete sich zornig auf und machte eine Schwenkung mit der Bank gegen ihn, daß er er schreckt zur Seite sprang. „Sie verhindert? Man hat Sie wohl ge sehen! Bei Mertens Anne sind Sie gewesen!" „Bassa teremtete! Wer hat Ihnen das ge sagt. Eine Lüge, corpo di bacco! Glauben Sie mir, nie würde ich das Haus dieses Flickschnei des betreten, wenn er nicht mein Kunde wäre!" „Oder Sie der seine. Schon wieder eine neue Weste!" „Wie Sie das gleich sehen, Fräulein Röschen! Fein, nobel, was? Und nur Ihnen zu Ehren, mein Mädchen, sulla gracia di Dios! Wenn Sie wüßten, quel amore . . . ." „Amor hin, Amor her! Lassen Sie Ihr Kauderwelsch!: „Mein Gott, Sie wissen ja, das rührt noch von der Zeit her, da ich in Amerika war. Da giüt's so furchtbar viel Nationen auf einem Fleck zu sammen! Denkt man, man habe einen Russen vor sich, so fängt er italienisch an zu sprechen; fällt man ein, so wird's ein Spanier, und kommt man ihm spanisch, so ist es auf einmal ein Franzose oder ein Engländer oder ein Türke. Und als was entpuppt er sich schließlich? — Als ein Wiener Kellner! — Aber lassen wir ihn! Ich habe Ihnen Wichtigeres zu sagen. Nämlich, daß ich Sie liebe, Fräulein Röschen, liebe!" „Sie wollen mich lieben und lassen mich hier so mit der Bank stehen, anstatt. . . ." „Ich darf Ihnen helfen? Sie machen mich zum Glücklichsten der Sterblichen!" „Also, Sie haben wirklich nichts mit der Anna?" fragte Rose bei der letzten. Er machte ein entrüstetes Gesicht. „Aber ich bitte Sie! Die Anna ist ja häßlich wie die Nacht!" Sie seufzte mit lächelndem Munde und duldete es, daß er sie im Hausflur küßte. „Und wann sehen wir uns, Fräulein Rose?" „Nun denn, böser Mensch — heute nach dem Essen. Niemand ist dann in der Wirtsstube!" Sie verschwand. Er warf ihr Kußfinger nach. Gleich darauf fuhr er erschreckt herum. „Was machen Sie denn, Herr Keller?" war eine scharfe Stimme hinter ihm ertönt. „Endlich habe ich Sie auf frischer Tat ertappt!" Anna Mertens war aus dem Hause ihres Va ters getreten, um Brot zum Backofen zu bringen. Keller faßte sich schnell. Was nun folgte? Er hatte nichts mit Rose Ruck. Er half Anna Mertens das Brot in den Ofen schieben. Er ging nur deswegen so oft in den Krug, um in Annas Fenster blicken zu können. Rose Ruck war ja häßlich wie die Nacht. Er würde nach dem Essen, wenn Papa Mertens schlief, zu Annchen in den Garten kommen. Er mar der Glücklichste der Sterblichen. Und im Hausflur küßte er Annchens schwellende Lippen. „Ein verfluchter Schwerenöter!" schmunzelte Josias. Der wäre imstande, und " „Keller! Herr Keller! Haben Sie einen Augenblick Zeit?" Keller fuhr herum und lüfttte mit einem lie- benswürvigen Lächeln den Zylinder. „Für Sie, Herr Lucknow, zwei!" „Es ist seltsam;" sagte Josias, als Keller vor ihm stand. „Haben Sie es auch schon bemerkt? — Wir haben kein einziges hübsches Mädchen im Dorfe!" Edmund Keller sah verwundert zu ihm auf. „Kein hübsches Mädchen?" „Nein! Nehmen Sie nur beispielsweise Rös chen Ruck oder Annchen Mertens. Häßlich wie die Nacht; nicht wahr?" Der Barbier wurde plötzlich rot und dann blaß. „Sie wissen, Herr Lucknow?" stammelte er verwirrt. „Aber ich versichere Ihnen, es ist alles ganz, ganz harmlos!"