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I Schluß sagte er sich, als wäre es das Selbstverständlichste « von der Welt: „Wenn ich zu ihr komme — wird sie mein!" ! Diese Überzeugung war das Glück für ihn während I der traurigen zwei Jahre. Als er aber dann zum erstenmal f wieder mit seiner Schwester sprach, als ihm Einzelheiten > bekannt wurden über die Ehe Annettes, als er hörte, daß > die alternde Frau die Seligkeit ihres Lebens in ihrer Ver- I bindung mit dem jungen Freiherrn gefunden — da brach > er zusammen. Und als er nach und nach wieder klarer » denken konnte, als ihm alles, was Lydia ihm mitgeteilt, , als etwas Mögliches erschien, erfaßte ihn eine wilde Wut. t Nein, nein, nein — das Spiel kann nicht zu Ende fein! Was halfen der Schwester alle Vernunftgründe, mit > denen sie ihm beizukommen sich bemühte! Zum Schlüsse > schrie er doch wieder: „Nein, das Spiel ist nicht zu Ende!" I Und als Lydia in ihrer Sorge um ihn sich bereit erklärt I hatte, zu Annette zu reisen, und als sie dann heimkam und » ihm sagte: „Ja, du hattest ganz recht, Felix, du mußt sie » Wiedersehen, denn entweder sie wird die Deine oder du t verläßt sie als ein Geheilter," da hörte er nicht den leisen f Spott, sondern nur die Botschaft kommenden Glückes. Daß ' er zu ihr kommen durfte, erschien ihm nur als ein Beweis » ihrer Liebe. Wieder einmal tönte Stundenschlag herüber von der I nahen roten Kirche. Wessel hielt in seiner ungestümen » Wanderung inne und zählte: eins, zwei — und zog gleich- ' zeitig seine Taschenuhr: halb sechs! Wenn im Laufe der I nächsten halben Stunde nicht noch ein Telegramm eintraf, I durste er Annette heute' noch sehen. Er trat vor den ; großen Waschtisch und betrachtete sich in dem darüber be- » findlichen Spiegel, zwirbelte mit nervösen Fingern den I Schnurrbart und wandte im nächsten Augenblick dem I Spiegel den Rücken. Es schüttelte ihn. Wie er aussah! ; Ein Gespenst, eine Vogelscheuche! Wenn Annette ihn auch » so beurteilte, wenn ihre Liebe nicht stark genug war, daß I sie in der Ruine jenen Wessel sah, der vor zwei Jahren ß ohne Abschied von ihr gegangen? Er stöhnte laut auf. « Dann lehnte er sich aus dem Fenster und starrte auf die « Straße hinab. Aber nur einen Augenblick. Hastig riß l er den Kleiderschrank auf und fuhr in den Überrock, den j er herausgezerrt hatte, setzte seinen Hut auf und lauerte > auf den nächsten Glockenschlag. Aber es dauerte ihm zu > lange, er verließ sein Zimmer und stellte sich vor die Tür. l Diese letzte Viertelstunde, die ablaufen mußte, erschien ihm j in dem Augenblick fürchterlicher als die letzten drei » Monate seiner Festungshaft. — Endlich! Eins, zwei, drei, . vier, fünf — sechs Schläge! In atemloser Spannung I zählte er und blieb, als die Uhr ausgeschlagen hatte, noch ß eine Weile stehen, als wollte er jetzt die Wonne auskosten. » überstanden! Nun war er seltsam ruhig geworden. , Langsam schritt er die Treppe hinunter, langsam schritt I er gegen die Bahnhofstraße zu. Plötzlich aber überfiel ihn ß die Angst, er könnte den Zug versäumen, der ihn zu der » Station von Stramitz bringen sollte. Er setzte sich in eine » Droschke und fuhr zur Bahn. Richtig, er hatte nicht lange I auf den Zug zu warten, wie ihm ein Blick auf den Fahr- j plan bewies. Eine Viertelstunde Bahnfahrt, Lie er als der einzige , Passagier zweiter Klasse stehend an dem Coupsfenster I verbrachte. Ein Schauer nach dem anderen durchrieselte I Wessel, als er aus dem Wagen stirg und den Weg ein- » schlug, Len er kannte und den Lydia ihm überflüssiger- » weise noch genau beschrieben hatte. Er reckte sich in die I Höhe, zog seinen Überrock sester zusammen, als fröre ihn. I Wenige Augenblicke später war er im Dickicht ver- » schwunden. Als er in jene kleine Waldlichtung kam, wo der Weg- I weiser gegen den schmalen Waldpfad deutele, der nach I Stramitz führte, blieb er stehen und atmete tiefer. Ein ; Gefühl feiger Zaghaftigkeit kroch in ihm auf und schnürte » ihn am Halse. — Umkehren? Sich's damit genügen lassen, I daß es in seinem Belieben gestanden hatte, Annette I wiederzusehen? Aber gleich darauf erschrak er vor dieser ; Schwäche, und etwas schrie in ihm auf: „Sie sehnt sich » vielleicht nach dir, sie wartet auf den Augenblick, der dich I ihr wiederbringtI" Und er begann zu laufen, ihm war, I als flöge er dahin, weil er sein eigenes Stampfen auf dem » weichen, moosigen Waldboden nicht hörte. Nun stand er an der kleinen Gartentür; durch das I Buschwerk sah er es, trotz der Dämmerung, hell schimmern. Das mußte der Pavillon sein. Während Wessel den Schlüssel in das verrostete Schloß einschob, stieg blitzschnell das Bild jenes Abends vor seinen Augen auf, an dem er diesen Pavillon zuletzt verlassen. Er schüttelte wild den Kopf, um das Bild zu zerstören. Ah, wie das quietschte, als er den Schlüssel mit einigem Kraftaufwand im Schlosse drehte! — Jetzt war die Pforte offen, sein Fuß betrat den Par! von Stramitz. Er lehnte die Tür nur an und ließ den Schlüssel stecken. Dann lauschte er und sah spähend nach allen Seiten, wie einer, der auf Schleichwegen geht. Drang durch die Büsche nicht ein Lichtschimmer aus dem Pavillon? Behutsam auftretend näherte er sich — schon stand er an den Stufen, die zu der Eingangstür führten — in der nächsten Minute trat Wessel in den erleuchteten Vorraum. Wieder lauschte er. Die Tür gerade vor ihm mußte zu dem Mittelraum führen — er legte die Hand auf die Klinke — die Tür war offen. Er stand und starrte nach dem massigen Mittel» tische, auf dem ein schwerer, schmiedeeiserner Leuchter mit vier Kerzen stand — und wo, die Rechte gegen die Tisch platte gestützt, hochaufgerichtet, das Gesicht gegen ihn ge wandt, Annette stand. — Er starrte und starrte, den Kopf langsam vorschiebend, mit irren Augen, dann kam es in einem Tone, in dem sich Zärtlichkeit und staunende Be wunderung und die Gier des Verschmachtenden seltsam und unheimlich mischten, über seine Lippen: „Annette!" Und dann stand er wieder bewegungslos und starrte, tief und schwer atmend. Seine Blicke weideten sich an dem Anblick dieser Frau, die in der raffinierten Inszenierung, von dem ruhigen, milden Lichte der Kerzen umflossen, nichts von der Schönheit eingebüßt zu haben schien, die ihn so toll gemacht. Das Kleid, das sie so enge umfloß, und dessen Schleppe wie ein fliederfarbener Hauch auf dem Teppich lag, ließ sie größer und schlanker erscheinen. Auf die Wangen hatte die Erregung natürliche Röte gezaubert, sie hätten der Nachhilfe nicht bedurft, die Augen glühten ihm so tief und dunkel entgegen — und das aschblonde Haar, das ihr Stirn und Schläfe wie ein Heiligenschein umrahmte — Schritt für Schritt schob Wessel sich vor, und als er ganz in ihrer Nähe war, faßte er wild nach ihren Händen, die er mit heißen, langen Küssen bedeckte, immer, immer zu —, dann preßte er, die Worte zerreißend, hervor: „Wie — schön du bist! — du — du — du —!" und drückte seine Stirn gegen ihre leise bebenden Hände. Annette sah aus den Mann herab, der so in heißer Anbetung vor ihren Füßen lag. Arme, eitle Frau! Das Stärkste in ihr war in diesem Augenblick das Gefühl der Genugtuung: sie wirkte noch! Und sie hatte den ganz klaren Gedanken: „Jetzt solltest du ihn sehen, Lydia, ihn sehen und mich!" Aber als der Mann ihre Hände gegen seine Brust preßte, unfähig, ein Wort zu sagen, überfiel sie herzliches Mitleid. „Herr von Wessel —!" sagte sic gutmütig und fast bittend. Da begann es in seinem Gesichte zu zucken, der Blick wurde drohend, sein Atem keuchte, und endlich lösten sich die Worte los: „Annette, so — so fremd!" Dann sprang er auf, riß sie an sich und schlang die Arme fest um sie. „Du, du!" Annette lehnte sich zurück, um seinem Gesichte aus zuweichen, und suchte sich aus seinen Armen zu winden. „Herr von Wessel!" rief sie dabei unwillig. „Das ist —" Er ließ die Atemlose, die nun erschöpft auf einen Stuhl sank, aus seinen Armen und trat von ihr zurück. „Das ist mein Recht, Annette," sagte er dann langsam, mit einem Blick, der deutlicher als seine Worte ausdrückte, wie es um ihn stand. Die Frau, die noch immer schwer atmend an dem Tische saß, sah zu Boden, sie tonnte diesem Blick nicht standhalten. „Herr von Wessel —" sagte sie, doch er fiel ihr ins Wort. „Um Gottes willen, Annette, nicht diesen kalten, fremden Ton!" (Fortsetzung folgt.)