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« (Schluß folgt.) schien sich in besonders mitteilsamer Laune zu befinden, denn er sagte, als Stuart Milner den Namen des Kranken genannt hatte, mit einem gewissen Bedauern: „Ein tra gischer Fall — so recht was für eine rührsame Reporter- notiz. Ein Bruder, dem an der Leiche seiner Schwester ein Blutgefäß in der Brust zerspringt- Der arme Mensch hat aber auch wirklich ausgesuchtes Pech gehabt. Gestern abend erhält er in Berlin den Abschiedsbrief, worin ihm seine Schwester mitteilt, daß sie ins Wasser gehen werde. Er hat gerade noch Zeit, den Zug zu erreichen, aber im Bahtthossgedränge stößt ihm ein Gepäckträger mit der scharfen Kante seines Koffers derart vor die Brust, daß der Bedauernswerte schon während der Fahrt anfängt Blut zu speien. Trotzdem fährt er gleich nach der Ankunft zur Polizei, und als man ihm sagt, daß in der Morgenfrühe draußen bei der Villenvorstadt eine weibliche Leiche ange- schwcmmt worden sei, auf die seine Beschreibung paßt, ge radeswegs zum Schauhaus. Es war richtig seine Schwester, die er fand, und die Erschütterung bei ihrem Anblick gab ihm den letzten Rest. Ich sah es, als sie ihn vorhin hierherbrachten, und ich möchte nicht fünf Pfennige für sein Leben geben. — Aber was ist Ihnen denn, Herr? Sind Sie vielleicht auch krank?" Stuart Milner, der sich während der Erzählung des Beamten mit beiden Händen an der Barre hatte festklam mern müssen, verneinte. Aber es klang wie ein Ächzen und seine Zähne schlugen hörbar aufeinander. Der Schreiber streifte mit einem mißtrauischen Blick über ihn hin, dann sagte er, um ihn loszuwerden» ziemlich kurz: „Saal vier! — Sie können sich ja bei einem der Wärter erkun digen, wenn Sie es nicht gleich finden." Stuart Milner brauchte in der Tat eine lange Zeit, bis er sein Ziel erreicht hatte. Aber es geschah weniger des halb, weil er die rechte Tür nicht finden konnte, als weil die Füße ihm bei jedem Schritt den Dienst zu versagen drohten. Endlich tat sich der langgestreckte, Helle Krankenfaal mit seiner Doppelreihe von Betten vor ihm auf und eins Pflegerin führte ihn zu einer Lagerstätte ganz am Ende des Raumes. Ein spitzes, weißes Gesicht mit fieberroten Flecken aus den Backenknochen wandte sich ihm zu und zwei tiefliegende Augen funkelten ihn an. „Guten Tag, Sidney!" würgte er hervor. „Ich bin sehr unglücklich, Sie unter so traurigen Umständen wieder- zufehcn." Der Kranke streckte die Hand nach ihm aus. Mit einem häßlichen Rasseln gingen die kurzen Atemzüge ein und aus. „Näher!" flüsterte er mit mühsamer, heiserer Stimme. „Noch näher! — Stuart Milner — Sie find ein Schurke — und ein dreimal verfluchter Mörder!" „JH kann mit Ihnen jetzt nicht rechten, Sidney! — Aber Gott ist mein Zeuge, daß ich anders gehandelt hätte, wenn ich dies Fürchterliche hätte vorausfehen können." Der ehemalige Jockei antwortete ihm nicht. Mit An strengung zog er die Schublade des Nachtschränkchens neben seinem Bette heraus und entnahm ihr einen zer knitterten Brief. „Da —das ist für Sie! Ich brauche ihn nicht mehr, denn was darin steht, behalte ich auch so. Ich schwöre Ihnen, Stuart, daß ich es nicht vergessen werde. Aber Sic sollen ihn lesen — hier vor meinen Augen sollen Sie ihn lesen." Milner gehorchte. Er hatte Harriets Handschrift er kannt, und wenn auch anfangs vor seinem umflorten Blick vie Buchstaben ineinander verschwamme», endlich brachte er sie doch zu Worten zusammen. Von Anfang bis zu Ende las er, was sie geschrie ben hatte. „Mein lieber Bruder! Es ist vorbei. Wenn diese Zeilen in deine Hände gelangen, schläft deine arme Harriet auf dem Grunde des Flusses ihre» letzten langen Schlaf. Verzeih mir den Kummer, den ich dir damit antue. Aber ich kann nicht anders. Auch du wirst mich lieber im Wasser oder in der kühlen Erde wissen als im Gefängnis. Es gibt für mich keinen anderen Platz mehr auf der Welt. Denn ich habe getötet, habe sie gelötet, die ihn mir ge raubt. Noch ist kaum eine Stunde vergangen, seit ich sic leb los vor meinen Füßen liegen sah. Seitdem bin ich wieder ruhig. Zwischen ihm und dem Glück wird bis zu seinem letzten Atemzuge ihr Schatten stehen und der meinige. So j habe ich es gewollt. Daß es mir gleich am ersten Abend ge- . lingen würde, hatte ich freilich kaum erwartet. Ich hatte ! mich zwischen den Hecken im Garten des Hauses versteckt, I darin sie wohnte. Ich sah, wie sie an seiner Seite wan- j delte, aber ich konnte mich ihnen nicht nähern, ohne daß » sie mich gesehen hätten, und dann gingen sie mit einem ! dritten wieder ins Haus. Ich hatte für diesmal die Hoff- I nung aufgegeben. Aber ich wartete dennoch. Und mein > Warten wurde belohnt. Sic mußte sich noch einmal ganz » allein aus dem Hause entfernt haben, denn ich sah sie Plötz- ! lich von der Gartentür daherkommen. Ich erkannte sie au I dem weißen Tuche, mit dem sie ihren Kopf und ihre Schul- s lern umhüllt harte. Ich schlich ihr nach, bis sie dicht vor » mir war. Dann zielte ich mit dem Revolver, den ich aus ! Stuarts Schreibtisch genommen hatte, auf die linke Seite I ihres Rückens, dahin, wo ich ihr Herz zu treffen hoffte, j Meine Hand zitterte nicht und ich war sehr ruhig. Auch » der Knall des Schusses erschreckte mich nicht, und ich hätte ! aufjubeln können, als ich sie lautlos vornüberfallen sah. I Dann warf ich den Revolver fort, denn ich brauchte ihn > nicht mehr. Für das, was ich noch zu tun habe, ist er mir » ein zu unsicheres Mittel — ich gehe lieber ins Wasser. . Das ist auch weniger schmerzhaft. So tvenig ich mich vor i dem Sterben fürchte, so sehr fürchte ich mich vor dem > Schmerz. Aber daß ich nicht mehr leben darf, das siehst » du wohl ein, mein armer Sidney! Ich bin aus dem Garten . fortgegangen, ohne daß mich jemand aufgchaltcn hätte, und I nun schreibe ich in meinem Hotelzimmer diesen Bries, j Wenn ich ihn in den Kasten geworfen habe, gehe ich auf ; dem kürzesten Weg zum Flusse. Lebe wohl, mein lieber . Bruder! Denke nicht daran, mich an Stuart zu rächen! > Das soll eben seine Strafe sein, daß er verurteilt ist, weiter- , zuleben mit der Erinnerung an die, die er gemordet. Und ; beklage mich nicht. Mir ist ganz wohl. Ich gehe in den » Tod so ruhig, wie man sich anschickt, schlafen zu gehen. I Ach, ich sehne mich ja so sehr nach tiefem, traumlosem > Schlummer, der meinem Herzen endlich den Frieden ; bringt. Noch einmal: Lebe wohl! Bis in den Tod deine treue I Schwester Harriet." Die funkelnden Augen des Kranken hatten sich nicht sür ; einen Moment von dem Gesicht des Lesenden gewendet, i Als er sah, daß Milner zu Ende gekommen war, erfaßte I er mit demselben eisernen Griff, mit dem er einst das Rohr I feines Spazierstoües zerknickt hatte, noch einmal seinen ; Arm und zog ihn zu sich heran. „Hoffen Sie nicht darauf, daß ich sterben werde! Ich f weiß, daß man mich wieder zurcchtflicken wird, wie da- » mals nach meinem Sturz in Epsom. Und dann — dann ! werden wir Abrechnung miteinander halten, Stuart I Milner!" Ein heftiger Hustenanfall erschütterte seinen hageren ; Körper. Eine der Pflegerinnen eilte hinzu und ersuchte » Milner, die Unterhaltung mit dem Kranken nicht fortzu- I setzen. Bis an den Ausgang des Saales glaubte Stuart ! das schreckliche rasselnde, Atmen Sidney Hendersons zu ! hören. Aber als er das Tor des Krankenhauses passiert I hatte, suhlte er sich ruhiger als in der grauenhaften Unge- » wißheit der letzten Tage. Nun war ihm ja der Weg vorgc- ! zeichnet, den er zu gehen hatte. Wenn auch alle seine Glücks- I Hoffnungen zertrümmert am Boden lagen, wenn auch kein I Lichtstrahl mehr in das trostlose Dunkel seiner Zukunft j fiel — des Ringens und Kämpfens, des Zweifelns und » Verzagens wenigstens war jetzt ein Ende. Er fuhr zur Polizei und von da, wie man's ihn ge- I heißen hatte, zum Justizgebäude, um sich bei dem Unter- . suchungsrichier Memlinger melden zu lassen. Harriets ; Abschiedsbrief an ihren Bruder hatte er mitgenommen, in > einer langen Unterredung, die sich bis weit über die I Mittagsstunde ausdchnte, gab er dem Landgcrichtsrat alle ! die Erläuterungen, deren er bedurfte, um ihm diesen Brief " verständlich zu machen.