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Freunde. Von S. OlexoWit sch. (Nachdruck verboten.) „Du strahlst ja, als wenn dir wer weiß was passiert wäre!" lachte Alexejew, Sorin am Arm fassend, der eiligst vorüberging, ohne den Freund zu bemerken. „Was ist denn los? Erzähle in al!" fuhr er scherzend fort und führte Sorin auf die Seite. „Ich habe eine Stunde bekommen, Bruderherz! Eine Stunde sage ich dir . . . ! Feyt, Bruder, brauche ich nicht mehr ohne Mittag zu sitzen! Das ist nun vorbei!" Sorin lächelte breit und bemerkte in seiner Freude gar nicht, daß der feine Regen ihm trotz des iu die Höhe ge schlagenen Paletotkragens den Nacken hiuabrieselte und in dünnen Strahlen vom Mützenschirm über das Gesicht floß. „Na, das ist schön!" lachte Alexejew. „Du Glücklicher! Und ich laufe und laufe — aber keine Möglichkeit, Stunden zu bekommen, und wenn ich mich gleich ans den Kopf stelle!" „Wozu brauchst du denn Stunden? Tu bist doch so ge stellt, daß . . ? Was zum Teufel brauchst du Stunden?" „Nicht für mich, nicht für mich! Ich brauche sie wirk lich nicht. Aber warte . . . wobin willst du?" unterbrach Alexejew sich plötzlich selbst. „Hier weiter? Na denu adieu! Ich muß hier hinein . . . will bei Bekannten Nach fragen, ob sie nicht etwas wissen, sie versprachen mir . . ." Er reichte Sorin die Hand und verschwand in einer Haustür. Sorin schlurrte in seinen schiefgetretenen Galoschen über das nasse Trottoir, gedankenlos in die Negcnpfützen tretend, deren Wasser in großen Tropfen aufspritzte. Aber sein Gesicht strahlte nicht mehr wie vorher. Die erste freu dige Erregung war vorbei, und auch das Wetter war nicht gerade angetan, heitere Empfindungen zu erwecken. „So also ist das Leben!" seufzte Sorin für sich, ohne selbst zu wissen, worauf sich der Seufzer bezog. Aber als er nach einem Weg von fast einer Stunde schließlich seine Wohnung in einer der entlegensten Straßen der Stadt erreicht hatte, war die frühere gute Laune wiedergekehrt. Als er den nur zur Nacht verschlossenen Korridor betrat, auf welchen sich die Türen der Studenten zimmer öffneten, deren kleinstes er selbst innehatte, stellte sich Sorin vor, welche angenehme Überraschung er durch die Nachricht von der Stunde feiner Quartterwirtin be reiten würde, die seit fast zwei Monaten keine Kopeke mehr von ihm erhalten hatte. Er warf die Korridortür absichtlich laut hinter sich ins Schloß und hantierte lange vor seiner Stube mit dem Schlüffe!, da er wußte, daß die Wirtin bei jedem Geräusch aus ihrem Zimmer zu kommen und sich zu vergewissern pflegte, ob sich nicht irgend ein „Fremder" in ihr Reich ein geschlichen hätte. Aber diesesmal blieb alles still, und Sorin konnte die Wirtin nicht, wie er es beabsichtigt hatte, überraschen. Er müdet vom Weg, setzte er sich an den Tisch, um zu arbeiten. Aber er fand keine Ruhe. Er hätte feine Freuds gar zu gern irgend jemand mitgetcilt. Er stand auf und begann lustig pfeifend im Zimmer hin- und herzugeheu. Unterdessen wurde es Abend. Im Zimmer war es schon ganz dunkel. „Ach, Sie find zu Hause?" hörte Sorin plötzlich die Stimme der Wirtin, die die Tür ein wenig öffnete und den Kops in die Stube steckte. „Ich habe Sie gar nicht kommen gehört. Laben Sie keinen Brief von Hause bekommen?" Die Wirtin stellte regelmäßig die nämliche Frage, be vor sie um Geld bat: es war ihr peinlich, mit ihren Mie tern von Geld zu reden, da sie deren finanzielle Verhält nisse sehr genau kannte. „Nein, ich habe nichts bekommen. Warum?" fragte er neugierig, als wenn er nicht wüßte, was die Frage der ehrenwerten Anna Pawlowna zu bedeuten hätte. „Ja, sehen Sie, ick, dachte . . . vielleicht haben Sie .Geld bekommen — dann geben Sie mir vielleicht auch etwas, ich brauche . . ." „Nein, ich habe nichts bekommen," seufzte Sorin traurig, entschlossen, seine Wirtin noch etwas zu quälen. „Keine Kopeke, Anna Pawlowna!" „Und ich dachte... Sic wissen ja selbst, ich brauche ..." „Und ich, Anna Pawlowna, ich brauche auch . . ^.Also nicht?" Die Wirtin seufzte. „Nein, Anna Pawlowna!" . . seufzte auch Sorin. 1 Anna Pawlowna wiegte nachdenklich den Kops. „Na, was ist denn da zu machen? Wenn nicht, dann nicht. Dann muß ich eben sehen, wie ich fertig werde. Aber was werden Sie machen?" „Ach, ich werde schon irgendwie . . . Und nach einem Monat bekomme ich ja für die Stunde . . . vielleicht be zahlt man mir auch im voraus," sagte Sorin in gesucht gleichgültigem Ton. „Für die Smnde?" Anna Pawlownas Gesicht begann zu strahlen. „Also haben Sie eine Stunde bekommen? Warum erzählen Sie das nicht? . . . Eine oute Stunde?" „Fünfzig Rubel, Anna Pawlowna! Verstehen Sie? Fünfzig! Ein ganzes Kapital!" rief Sorin vergnügt, in- dern er den gejucht gleichgültigen Ton aufgab. „Na, Kott sei Dank? Gott sei Dank! Ich habe mir immer den Kopf zerbrochen: wovon wird der Ärmste leben? . . . Na, und dann werden Sie mir auch die kleine Schuld . . ." „Selbstverständlich, Anna Pawlowna!" lachte Sorin. „Ilmen gebe ich selbstverständlich zu allererst ab!" „Na, Gott sei Dank! Gott sei Dank! . . . Und ich habe mir immer den Kopf zerbrochen: wovon wird der Ärmste leben?" freute sich Anna Pawlowna und fragte, plötzlich den Ton ändernd, mit geschärfter Miene: „Wollen Sie den Samowar haben? Es ist ja schon Abend!" „Schleifen Sie ibn heran, Anna Pawlowna!" lachte Sorin froh, verbessere sich aber im nämlichen Augenblick: „Aber nein! Wissen Sie, ich werde lieber ausgehen!" „Das ist recht! Gehen Sie aus!" pflichtete Anna Pawlowna bei. „Wie lange sind Sie schon nicht aus dem Hause gewesen'" „Mir war nicht nach Ausgehen zumute, Anna Pawiowna!" „Das läßt sich, denken! Ich verstehe, wenn man Sorgen hat, ist einem nicht nach Ausgehen zumute . . Zwei Minuten spater »erließ Sorin das Haus. „Wohin soll ich geben?" überlegte er, an der Haus tür stehen bleibend. „Zu Gregorjew? Oder ... zu To karews?" . . . Er lächelte froh, und sein Herz begann schneller zu schlagen. „Olga Konstantinowa ist jetzt gewiß zu Hanse," erwog er, ans die Straße tretend. Rach einer halben Stunde saß Sorin in dem mittel großen Zimmer mit der alten Frau Tokarew und ihrer jungen Tochter Olga Konstantinowa beim Tee. Er war heiter gestimmt, lustig und witzig. Olga Konstantinowa lachte über jede Kleinigkeit, ihre kurzgelchnitteuen Haare schüttelnd, und die alte Frau To karew lächelte liebevoll, weniger über die Witze Sorins, als über dis Fremde ihres Lieblings. „So munter haben wir Sie schon lange nicht gesehen!" sagte die alte Dame, Sorin ein neues Glas Tee reichend. „Ja, das ist heute aber auch ein besonders ereignis reicher Tag für mich: ich habe eine Stunde bekommen!" antwortete Sorin. „Aha! Darum scheu Sie auch gerade wie ein Ge burtstagskind aus!" lachte Olga Konstantinowa. „Versteht sich!" bekräftigte Sorin. „Sehen Sie, ich bekomme von zu Hause nichts — der Vater hat ja auch ohne mich noch die ganze Familie auf dem Halse . . . Wie sollte ich mich da nicht über die Stunde freuen?" Dranßen ertönte die Korridorglocke. Olga Konstanti nowa lies hinaus, und gleich darauf hörte Sorin, wie sie, vergnügt lachend, jemand nach dem Speisezimmer zog. Es war Alexejew. „Bin ich aber müde!" sagte er, die Anwesenden be grüßend uns sich an den Tisch setzend. „Durch die halbe Stadt bin ich heute gelaufen." „Was haben Sie denn zu tuu? Wohl wieder irgend eine Kollekte?" erkundigte sich die alte Frau Tokarew. „Nein, leine Kollekte. Ich suche Stunden für einen Frcnnd . . ." „Ach richtig!" siel Sorin ein. „Ich wollte dich schon heute früh danach fragen, als wir nns trafen. Für wen bemühst du dich denu so?" „Für einen Landsmann. Vor zwei Jahren mußte er aus Mangel an Mitteln seine Studien unterbrechen und nach der Provinz gehen. Jetzt ist er wieder hier