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Minuten im Turmzimmer, höchst bestürzt, Gustav ohn mächtig und Möller mit zerschossenem Arm am Boden liegend zu finden. Es dauerte eine geraume Welle, bevor Möller fähig war, ein Wort zu äußern, wohl nicht ohne die Absicht, seinem Freund Santen einen Vorsprung zu sichern. „Was ist geschehen?" sagte Delmenhorst wieder und wieder. „Der Schlingel, der Gustav, hat auf mich geschossen", stöhnte Möller endlich, „dafür habe ich ihm einen Schlag versetzt." „Ich glaubte, es seien Diebe eingebrochen", entgegnete Delmenhorst, der den Vorgang absolut nicht begriff. „Diebe?" wiederholte Möller, sich mühsam halb auf richtend. „Nein, wahrhaftig nicht. Der Ruhestörer war Santen, der allerdings etwas gestohlen hat. Aber bitte, geben Sie mir einen Schluck Kognak! Der Arm schmerzt furchtbar, und mir ist ganz schwach." Marga holte rasch das Gewünschte, doch während Möller den Trank schlürfte, kam eines der Stubenmädchen mit der Meldung, Fräulein Wallu, die sie habe wecken wollen, sei nicht in ihrem Zimmer. Am Ende hätten Räuber sie fortgeschleppt. Marga starrte die Dienerin erschrocken an — sie ver mochte das Gehörte nicht zu fassen. „Schicken Sie das Mädchen fort", flüsterte Möller seinem Schwager zu, „ich kann Ihnen Wallys Verschwinden erklären." Delmenhorst entsprach seinem Wunsche, und nun er zählte ihm der Verwundete eine wohlersonnene und durch aus glaubhaft klingende Geschichte. „Ich fürchte", sagte er mit schwacher Stimme, „daß Wally sich hat von Santen entführen lassen. Sie wollten sich gerade durch die Tür des Turmzimmers ins Freie schleichen, als ich das Geräusch hörte und sie überraschte. Wally hielt eine Reisetasche in der Hand; sie war in Hut und Mantel. Gustav stand neben ihr — vielleicht wollte er mitgehen — das weiß ich nicht. Ich stürzte hinzu, um Wally von ihrem törichten Vorhaben abzuhalten und — Sie haben gesehen, was daraus entstand." Delmenhorst war bei diesem Bericht so aschfahl ge worden, daß Marga besorgt an seine Seite eilte. „Es kann nicht möglich sein, Egon", stammelte sie. „Dein Schwager muß sich geirrt haben." Delmenhorst schüttelte ihre Hand von seinem Arm ab und erwiderte in hartem Ton: „Also das war dein Geheimnis, Marga? Halfst du meiner Tochter, L-chande über ihren Vater zu bringen?" „Wie kannst du so grausam reden", entgegnete Marga schmerzlich bewegt. „Ich wußte allerdings, daß Wally mit Santen zusammentraf. Natürlich bot ich alles auf, sie davon abzubringen, ahnte aber nicht, daß sie die Ab sicht hatte, uns in solcher Weise zu verlassen. Können wir ihr nicht nacheilen? Sie zurückholen?" „Zu spät!" stieß Delmenhorst ingrimmig zwischen den Zähnen hervor. „Und selbst wenn ich es könnte, täte ich es nicht. Wally ist nicht mehr meine Tochter — für mich ist sie tot. Und wenn Gustav ihr bei dieser Schändlichkeit geholfen hat", fügte er in erbittertem Tone hinzu, „so—" „O Egon, sage nichts Übereiltes!" fiel ihm Marga bittend ins Wort. Sie zitterte vor dem zornigen, fast wilden Ausdruck seiner Augen, wagte es aber dennoch, Gustav in Schutz zu nehmen. Und die flehende Stimme seines Weibes blieb nicht ganz ohne Einfluß auf den erschütterten Mann. Er wandte sich schweigend ab und verließ das Zimmer mit unsicheren Schritten. Marga bemühte sich nun eifrig um Gustav, der langsam wieder zu sich kam, sich anscheinend aber nicht recht am das Vorgefallene besinnen konnte. Er war durch den Schlag nur betäubt, jedoch nicht verletzt worden. Während man die Ankunft des aus Hoya herbei gerufenen Arztes erwartete, sandte Marga aus eigenem Antrieb Boten-,nach verschiedenen Richtungen in der Hoffnung, eine Spur des verschwundenen Paares zu finden, allein vergebens. Als sie Wallys Zimmer betrat, bemerkte sie auf dem Tisch einen an sie gerichteten Brief. Es waren nur wenige Zeilen, sie trafen Marga aber tief ins Herz. „Da du so entschlossen bist, meine Verbindung mit Paul zu hintertreiben", schrieb Wally, „werden wir uns beizeiten vorsehen. Paul erwartet mich mit einem Wagen an der Landstraße. Suche mich nicht, es hat keinen Zweck. Unsere Trauung findet bereits morgen statt: alsdann werde ich schreiben. Ich hoffe, Papa wird mir nicht zürnen. Ich hätte gewiß nicht diesen Weg gewählt, wenn du mich nicht durch deine Einmischung, deinen Versuch, mich von Paul zu trennen, dazu getrieben hättest. Nur um Papas willen tut es mir leid, fortzuziehen, sonst für niemand, denn ich liebe Paul mehr als alles andere auf der Welt." Marga war durch diese Abschiedsworte der Ent flohenen tief niedergeschmettert, weil dieselben eine harte Anklage gegen sie enthielten. Wally machte für ihre Handlungsweise in erster Linie ihre Stiefmutter verant wortlich, und diese mußte sich sagen, daß das allzu große Vertrauen, welches sie in Santens Ehrenhaftigkeit gesetzt hatte, teilweise zu der Katastrophe beigetragen habe. Sollte sie diesen für sie so vernichtend klingenden Brief ihrem Gatten zeigen? Einen Moment schrak sie davor zurück, dann aber beschloß sie, geradenwegs zu ihrem Mann zu geben — sie wollte keine Geheimnisse vor ihm haben, ihm nichts verbergen. Die Ankunft des Arztes verhinderte sie jedoch daran, und erst als dieser sich verabschiedet hatte, nachdem er er klärt, Möllers Verletzung sei ziemlich ernst, der Arm be dürfe großer Schonung, um Wundfieber zu verhüten — konnte Marga ihren Gatten ungestört sprechen. Sie fand ihn in seinem Arbeitskabinett, er sah um Jahre gealtert aus. Als Marga eintrat, hielt er ihr einen offenen Brief entgegen. „Von Wally", sagte er in herbem Ton, „lies ihn." „Ich habe ebenfalls ein Schreiben von ihr", bemerkte Marga. „Willst du es sehen?" Sie reichte ihm das Blatt, doch er wartete, bis sie Wallys Brief gelesen hatte. Der Inhalt desselben war grundverschieden von dem an Marga gerichteten. Drei Seiten voll Versicherungen kindlicher Liebe und Be teuerungen aufrichtiger Reue! Mit der Bitte zu ver zeihen und ihr an eine bestimmte Adresse in Hamburg zu schreiben, schloß die Epistel, die den Eindruck machte, als sei Wally nicht die eigentliche Verfasserin derselben. Als Marga zu Ende gelesen, legte sie den Brief schweigend auf den Tisch, während Delmenhorst das kleine Billett überflog. „Das wenigstens klingt echt", sagte er mit unterdrücktem Seufzer. „Was sie mir geschrieben hat, war ihr von Santen diktiert worden. Sie hegte nie so zärtliche Gefühle für mich, als sie da bekundet." Es entstand eine Pause, während welcher Marga all ihren Mut zusammenraffte. „Ich möchte dir gern er zählen", begann sie mit zaghafter Stimme. „Nein, nein, nicht jetzt!" unterbrach Delmenhorst sie fast rauh. „Ich will erst hören, was Möller und Gustav mir zu melden haben." „Meinen Bericht solltest du aber doch vor allem anderen zu hören wünschen", sagte sie ernst. Delmenhorst maß sie mit einem verwunderten Blick, als staune er über ihre Kühnheit, dann äußerte er un geduldig: „Nun gut, aber bitte, nur was auf Wally Bezug hat." Marga erzählte ihm in kurzen Worten, wie Nora v. Larsfeld sie gewarnt habe, wie sie sofort nach Lesum geeilt sei, um Santen zur Rede zu stellen, und wie sie ihm m zu grobem Vertrauen eine Woche Zeit gelassen habe, sich offen zu erklären. „Ist das alles, was du weißt?" „Ja." ''Warum hast du mir nichts davon gesagt? Meinst du nicht, daß es deine Pflicht gewesen wäre, mich zu be nachrichtigen?" Marga senkte den Kopf. „Du hast recht", nickte sie leise. „Ich bedaure lebhaft -" „Mit etwas mehr Klugheit und Überlegung von deiner Seite", fiel Delmenhorst bitter ein, „wäre der ganze Skandal vermieden worden. Das hättest du doch wissen müssen." Er hielt plötzlich inne, denn Margas jähes Erbleichen zeigte ihm, daß er in seiner Aufregung zu weit gegangen war, mußte er sich doch eingestehen, daß, wenn man Wallys Entführung momentan auch verhindert hätte, es bei deren ungezügeltem Temperament doch nicht gelungen